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Eberhard Fromm
Zwischen Emanzipation und Tradition

Johann Gustav Droysen

Ob es stimmt, daß Johann Gustav Droysen eine Art »Symbiose von Wissenschaft und Politik« geschaffen hat, wie es der Historiker Friedrich Meinecke (1862–1954), der selbst noch Student bei Droysen war, von seinem Kollegen behauptete, soll hier nicht belegt oder bestritten werden. Daß er historische Argumente für die Wertung aktueller Politik nutzte und damit der Geschichtswissenschaft eine erhöhte aktuelle politisch relevante Bedeutung zuwies, kann man an vielen seiner Arbeiten nachweisen. Droysen zählt damit zu den führenden Repräsentanten des Historismus, der über Jahrzehnte hinweg die historische Forschung und das geschichtsphilosophische Ideengut bestimmt hat.

Vom 1848er zum Anhänger Bismarcks

Johann Gustav Droysen wurde am 6. April 1808 in Treptow an der Rega (Pommern) geboren. Der Vater bezog als Militärgeistlicher

nur geringe Bezüge, so daß Droysen unter recht bescheidenen Verhältnissen aufwuchs. Nach dem Tod des Vaters (1819) und der Mutter (1828) sah er sich genötigt, für seine drei Schwestern zu sorgen. Daher war er stets darum bemüht, durch Privatstunden u.a. Geld zu verdienen. Auch während seines Studiums, das er im Sommer 1826 in Berlin aufnahm, mußte er seinen Lebensunterhalt durch Unterricht sichern und lebte unter einfachsten Bedingungen in einem Zimmer eines Hinterhauses in der Mittelstraße Nr. 60.
     Um so bedeutsamer war es daher für ihn, daß er Anschluß an die Familie Mendelssohn Bartholdy fand, wo er mit vielen interessanten Persönlichkeiten seiner Zeit zusammentraf, so auch mit Heinrich Heine (1797–1856). In das Haus der Bartholdys kam er 1827 als Lehrer für den fast gleichaltrigen Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847), mit dem ihn dann eine lange Freundschaft verband. »Er ist einer von den Menschen, denen ich immerfort etwas zu Liebe tun möchte, nicht um ihnen zu gefallen, sondern um mir zu genügen«, schrieb Droysen über seinen »Schüler« Felix an einen Freund. Der junge Droysen beschäftigte sich durch diese Verbindung intensiv mit der Musik, schrieb sogar Texte zu Kompositionen von Felix und seiner Schwester Fanny (1805–1847) und unterstützte durch Pressebeiträge die Bemühungen von Felix, 1829 die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach in Berlin aufzu-
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führen. »Ein neunzehnjähriger Philologe mit aller Frische und lebendigen, tätigen Teilnahme seines Alters, einem Wissen über sein Alter hinaus und einem reinen, poetischen Sinn und gesundem, liebenswürdigem Gemüt«, urteilte Fanny über den Freund ihres Bruders.
     An der Universität belegte Droysen vor allem Philologie und Philosophie. Er hörte regelmäßig Vorlesungen bei August Boeckh (1785–1867) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), zu seinen Lehrern zählten aber auch der Geograph Karl Ritter (1779–1859), der Rechtsphilosoph Eduard Gans (1798–1839; BM 3/98), Franz Bopp (1791–1867), der Vorlesungen zum Sanskrit hielt, und der Philologe Karl Lachmann (1793–1851).
     Schon 1829 verließ Droysen mit dem Oberlehrer-Examen die Universität und arbeitete am Berliner Gymnasium zum Grauen Kloster, wo er 1831 als Lehrer angestellt wurde. In der Klasse von Otto von Bismarck, der 1832 das Gymnasium beendete, hat Droysen allerdings keinen Unterricht gegeben. Der junge Lehrer nahm seine pädagogische Arbeit immer sehr ernst. Was in seinen Augen den guten Pädagogen ausmacht, hat er viel später – 1860 – einmal in einem Brief so formuliert: »Dreierlei gehört zum Lehrer: Kenntnis, Methode, Charakter. Wie hoch man seine wissenschaftliche Tüchtigkeit und seine Lehrmethode anschlagen muß: seine beste und tiefste Einwirkung ruht auf
seiner Persönlichkeit. In dem Maße als diese durchgearbeitet, fest, energisch, vorbildlich ist, wird er der Jugend förderlich sein.« Daß Droysen nach dieser Maxime gelebt hat, bestätigen viele Aussagen seiner Schüler und Studenten. So schrieb der spätere Herausgeber der Allgemeinen Deutschen Biographie Rochus Freiherr von Liliencron (1829–1912): »Niemand erinnerte sich, einen so schön geformten, so sprudelnd lebendigen Vortrag, eine so lebensfrische Auffassung der alten Geschichte gehört zu haben.«
     Nachdem er 1831 seine Promotion nachgeholt hatte, wirkte er neben seiner Lehrertätigkeit seit 1833 auch als Privatdozent für klassische Philologie an der Berliner Universität. In dieser Zeit zog er in die Charlottenstraße und nach seiner Vermählung zum Hackeschen Markt. Auch als Hochschullehrer übte er eine intensive Wirkung auf seine Hörer aus. Der Schweizer Kulturphilosoph Jacob Burckhardt (1818–1897), der in dieser Zeit an der Berliner Universität studierte, schrieb 1840 über Droysen: »Der Mann ist ganz bedeutend, und wird in zehn Jahren unter den größten genannt werden.«
     1840 wechselte Droysen an die Universität in Kiel, wo er auch begann, sich politisch zu betätigen. Dabei stieß er auf viele Widerstände und Konflikte. »Den Deutschen bin ich zu preußisch, den Preußen zu deutsch«, bemerkte er 1845. Er trat gegen die dänische Politik gegenüber Schleswig-Holstein auf und nahm aktiv an den Arbeiten der Frank-
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furter Nationalversammlung teil. In seiner Orientierung zählte er zur rechten Mitte, der sogenannten Kasino-Partei. Er hoffte auf ein starkes Erbkaisertum im Rahmen einer kleindeutschen Reichseinigung, also ohne Österreich. Als der preußische König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) die ihm 1849 angetragene Kaiserwürde ablehnte, zog sich Droysen enttäuscht aus der Politik zurück. »Die Sache der Nation ist jetzt bei Preußen«, schrieb er und unterstützte in der Folgezeit – nach anfänglichen Vorbehalten – immer nachdrücklicher die Politik Bismarcks.
     Er wechselte 1851 an die Universität in Jena – nicht zuletzt, um Repressalien durch die dänischen Behörden zu entgehen. 1859 folgte er einem Ruf als Professor an die Berliner Universität, nachdem die von ihm abgelehnte preußische Regierung unter Otto von Manteuffel (1805–1882) 1858 abgelöst worden war. In Berlin wohnte er in der Viktoriastraße im heutigen Bezirk Tiergarten.
     Seine Arbeiten zur preußischen Geschichte brachten ihm 1877 die Ernennung zum Historiographen des brandenburgischen Hauses ein, wodurch ihm der für ihn so wichtige Zugang zu den Archiven noch leichter gemacht wurde. Droysen wirkte in verschiedenen wissenschaftlichen Gesellschaften und Institutionen mit. Seit 1867 gehörte er der Berliner Akademie der Wissenschaften an. Daß er bei aller eindeutigen Parteinahme für die wesentlich durch Bismarck geprägte Politik seine liberalen
Grundansichten nicht aufgegeben hatte, davon zeugt nicht zuletzt sein energischer Protest – gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern wie Rudolf von Virchow (1821–1902; BM 3/93 und 4/93) und Theodor Mommsen (1817–1903) – gegen die antisemitische Position des Historikers Heinrich von Treitschke (1834–1896), als der 1879 den verderblichen Satz prägte, »Die Juden sind unser Unglück«.
     Johann Gustav Droysen starb am 19. Juni 1884 in Berlin und wurde auf dem Alten Kirchhof der Zwölf-Apostel-Gemeinde in Schöneberg beigesetzt.

Geschichtsphilosophie und Methodologie

Als 1830 die erste Arbeit des jungen Gelehrten zum Thema »Über die griechischen Beischriften der Berliner Papyros« erschien, war noch nicht klar, in welche Richtung sich die Interessen des angehenden Wissenschaftlers entwickeln würden. Bis Mitte der vierziger Jahre favorisierte er Themen des Altertums:Der »Geschichte Alexanders des Großen« (1833) folgten Arbeiten zur Geschichte des Hellenismus, der sich für ihn als »ein neuer Aggregatzustand der Menschheit« darstellte.
     Mit seinen Vorlesungen über die Freiheitskriege, die 1846 im Druck erschienen, und der dreibändigen Biographie zu Yorck von Wartenburg (1851/52) wandte sich Droysen der jüngeren Vergangenheit zu. Seine um-

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fängliche »Geschichte der preußischen Politik« – 14 Bände wurden zwischen 1855 und 1886 erarbeitet – gilt als sein wichtigstes Werk. Hier entwickelte er am historischen Material seine Auffassung von dem politischen Charakter der Geschichtswissenschaft und war darum bemüht, dem deutschen nationalen Einigungsprozeß durch Preußen eine historische Begründung, wenn nicht gar Legitimation zu geben.
     Immer wieder hat sich Droysen mit den Aufgaben, den Inhalten und den Methoden der Geschichtswissenschaft beschäftigt. Vor allem in seiner »Historik«, deren »Grundriß« 1867 erschien und die 1937 erstmals vollständig veröffentlicht wurde, sind die »Vorlesungen zur Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte« zusammengefaßt, in denen es dem Historiker – und hier wohl auch Geschichtsphilosophen – um ein generelles Anliegen ging: Wege und Methoden zu finden, mit denen man eine »historische Ansicht« von der Gegenwart liefern könnte. Das war für ihn vor allem deshalb eine so wichtige Herausforderung, als er seine Zeit als eine Umbruchsperiode verstanden wissen wollte, deren theoretische Erfassung hohe Anforderungen stellt: »Wir stehen in einer jener großen Krisen, welche von einer Weltepoche zu einer neuen hinüberleiten.« Er verlangte vom Historiker ein »forschendes Verstehen« und war ständig auf der Suche nach Methoden, mit denen man das vorhandene historische Wissen kritisch prüfen und
kontrollieren könnte. »Es muß das erste sein, das, was wir bis dahin gehabt und geglaubt, infrage zu stellen, um es prüfend und begründend neu und sicher zu erwerben«, war eine seiner methodologischen Hauptforderungen. Gerade unter diesem Aspekt der kritischen Prüfung des vorhandenen historischen Wissens kann man verstehen, daß der Hegelschüler, der allerdings nie ein Hegelianer geworden war, in seiner Historik den Ruf formulierte: »Uns täte ein Kant not!«
     Begeistert erinnerte sich Friedrich Meinecke in seinem autobiographischen Büchlein »Erlebtes« (1941) gerade an die methodologischen Vorlesungen Droysens: »Die strengen Grundsätze der kritischen Methode, von denen ich hier zum ersten Male etwas Bestimmtes erfuhr, wurden hier so eingeprägt, daß sie niemals als Selbstzweck gelehrter Asketik und Akrobatik, sondern als Schlüssel zur Erkenntnis geschichtlich lebendiger Dinge wirkten, die man wissen müsse, um die Welt zu verstehen.«
     Mißt man die Wirkung Droysens an seinen eigenen Überlegungen und Maßstäben, an der Zeit und ihren Entwicklungen, an dem Fortgang der historischen Wissenschaften, dann könnte man Friedrich Meinecke zustimmen, der über das Werk seines Vorgängers an der Berliner Universität urteilte: »Der deutsche Idealismus der großen Zeit, den Droysen, der Hegelschüler, in seiner Jugend noch unmittelbar in sich aufgenommen hatte, warf hier noch einmal einen
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hellen Schein in einen durch den Positivismus grau zu werden drohenden Wissenschaftsbetrieb.«

Denkanstöße

Wie mancher, sonst frisch und kräftig und elastisch gegen den Druck der Gegenwart, ist matt oder gekrümmt oder auch wohl korpulent geworden; den einen verstimmt die Ehe, die er hat, den andern, daß er keine hat; den treibt die Gier, was Rechtes zu leisten, jenen quält der Ärger, daß er es nicht kann; wenige sind jung und rüstig geblieben.
Du hast es oft genug geklagt, daß die Luft hier nichts taugt; es ist die unablässige Tuerei eines Tretrads; man kommt nicht recht weiter; und reißt einmal irgendein heftiges Tun draußen Luken auf, daß man hinaussehen kann in die bunte, vielbewegte Welt, nach Göttingen oder Köln, so sagt die Zensur: es gibt Zug, macht die Luken zu! Und die dunstige Arbeit geht dann bei dem trüben Lampenlicht der selbstgefälligen Intelligenz weiter fort.
     Johann Gustav Droysen an Felix Mendelssohn Bartholdy v. 31. Dezember 1837

     So weit das Alte nur jener Zeit angehört, kann man es gar nicht wieder erstehen lassen. Aber es hat etwas zu allen Zeiten Großes und Wichtiges, etwas Unvergängliches an sich, und das sollte frisch und lebendig in unsere Gegenwart treten.
     Johann Gustav Droysen in einer Kritik zur Berliner »Antigone«-Aufführung von Mendelssohn Bartholdy in der Spenerschen Zeitung v. 25. April 1842

Vielleicht ist das der Unsegen unseres nur theoretischen Lebens, daß es, alles in die Gedankenwelt versetzend, die frohe Luft der Gestaltungen einbüßt, die doch erst den besten Teil unsres Selbst hinaussprechen . . . Unser Bestes ist doch nur eine schemenhafte Doppelgängerei des lebendigen Lebens, und wir sind um so übler daran, je weiter uns Neigung oder Beruf oder die Ungunst mißtrauischer Zeiten von denjenigen Wirkungen fernhält, wo auch unsere Einsichten und der edle Zorn unserer besseren Erkenntnis tote Massen beleben, Mißgestalten

Zeichnung: Wilhelm Hensel
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und Ungetüme niederwerfen, thesisch oder herakleisch die Wege säubern und bessere Ordnung schaffen würde.
     Johann Gustav Droysen an Felix Mendelssohn Bartholdy v. 5. Januar 1846

Das Wesen der sittlichen Welt ist der Wille und das Wollen, das individuell, also frei wie es ist, ein stets Streben nach Vollkommenen, ein stetes Fortschreiten sein soll und das auch unter demselben Gesetz bleibt, wenn der Wille und das Wollen dies Gesetz mißachtet und verletzt. (S. 13)
     Die Idee der Menschheit ist die Ichheit, und näher, die Freiheit, d. h. das Sich-aufsich-Beziehen und Sich-insich-Bestimmen des Geistes; und was zur Entfaltung und Entwicklung der Ichheit beiträgt, das fördert die Idee der Menschheit, das ist geschichtlich. (S. 368 f.)
     Der neue Gedanke tritt nicht willkürlich, nicht zufällig ein, es wird sich erkennen und nachweisen lassen, daß auf solche Gegebenheiten, auf solche Ereignisse dieser Gedanke und nur dieser folgen konnte. Aber weiter dürfen wir nicht gehen; wir dürfen nicht sagen, dieser Gedanke mußte folgen; wir dürfen nicht beweisen wollen, daß da Luther, da Napoleon eintreten mußte, daß eine geschichtliche Notwendigkeit sie brachte und bestimmte. Es ist die Selbsttäuschung des menschlichen Stolzes, der sich lieber für den Fatalismus entscheidet als sich demütigt. Also das ist der Punkt, der uns völlig von der

Art scheint, welche die Spekulation, die theologische wie die philosophische, an sich hat. Denn dieselbe Schwäche der Betrachtung, welche die logische Notwendigkeit an sich trägt, hat die dogmatische Antizipation an sich, wie denn ihr Ende, parallel dem Fatalismus, die Verleugnung des Werdens in der Geschichte, d. h. der sittlichen Welt und ihrer Ordnung ist.« (S. 383)
     Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte (1937)

Mir scheint es oft, als litten unsre besten historischen Arbeiten am meisten an diesem nur historiographischen Standpunkt, wie denn Ranke, der bewundernswürdige Meister derselben, in seiner wundervoll feinen und kunstreich schillernden Darstellung doch selten mehr als ein intellektuelles Interesse weckt, uns das Vergnügen sehr großer und weit und tief blickender Menschenklugheit empfinden läßt. Und so geht es mir immer bei seinen schönsten Büchern, daß, wenn ich zu Ende gelesen, ich das Buch zumache ohne Zorn oder Begeisterung, ohne guten Vorsatz. Ich fühle mich wohl klüger geworden, aber unsre Wissenschaft ist von denen, die vor allem den Menschen auch besser machen sollen; ihre beste Kraft ist ethischer Art.
     Johann Gustav Droysen an Heinrich Sybel v. 5. 8. 1853

Bildquelle:Preußische Bildnisse des 19. Jahrhunderts, Katalog zur Ausstellung

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