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Hans Aschenbrenner
Oft zitiert:
»Ich kann warten«

Ehrenbürger Martin Kirschner
(1842–1912)

Martin Kirschner stand bereits im 51. Lebensjahr, als er Ende 1892 nach Berlin kam – zunächst als Bürgermeister, danach Oberbürgermeister der Reichshauptstadt, der erste im 20. Jahrhundert. Nach Arthur Hobrecht (Oberbürgermeister von Berlin 1872 bis 1878) und Max von Forckenbeck (in diesem Amt 1878 bis zu seinem Tod 1892) war er das dritte aus Breslau gekommene Oberhaupt der Berliner Verwaltung; er hatte sein Rüstzeug in der »zweiten Haupt- und Residenzstadt Preußens« erhalten.
     Als einziger Sohn des evangelischen Arztes Julius Kirschner und dessen Frau Mathilde wurde Martin Kirschner am 10. November 1842 in der schlesischen Kleinstadt Freiburg geboren. Dort hat er auch den ersten Unterricht von seiner Mutter und einem Privatlehrer im elterlichen Hause erhalten und die städtische Elementarschule besucht. Ostern 1852 übersiedelte die Familie nach Breslau; der Junge wurde in das St.-Maria-Magdalena-Gymnasium geschickt. In den

Martin Kirschner
ersten Jahren seiner Schulzeit durch verschiedene äußere Umstände, insbesondere schwere Krankheiten, beeinträchtigt, konnte er erst 1863 sein Abitur machen. Inzwischen war der Vater 1860 gestorben. Nach der Reifeprüfung studierte Martin Kirschner in Breslau, Heidelberg und Berlin Jura. An der Breslauer Universität war er begeistertes Mitglied der Burschenschaft Germania, die für die liberalen Ideen der bürgerlichen Freiheit und für die deutsche Ein-
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heit eintrat. 1866 wurde er als Auskultator beim Stadtgericht in Breslau vereidigt, absolvierte den juristischen Vorbereitungsdienst und wurde 1868 Referendar, 1871 Gerichtsassessor. Kurz darauf hat man ihm die kommissarische Verwaltung einer Richterstelle beim Kreisgericht in Nakel bei Bromberg übertragen, wo er dann auch am 1. April 1872 als Kreisrichter angestellt wurde.
     Im gleichen Monat heiratete er Margarethe Kalbeck aus Breslau, Tochter eines Wiener Schriftstellers und Schwester des bekannten Breslauer Musikkritikers und Brahms-Biographen Max Kalbeck. Zwischen 1873 und 1888 wurden in der Familie fünf Kinder geboren. Der einzige Sohn Martin war später Arzt in Königsberg in Preußen und machte sich als Chirurg einen Namen. Margarethe, die älteste Tochter, heiratete den Oberbürgermeister Dr. Rive in Halle, eine andere Tochter Hauptmann Stobbe, der im Ingenieurkomitee tätig war. Die beiden unverheirateten Töchter haben sich in der Wohlfahrtspflege hervorgetan. Zudem hat die jüngste Tochter Johanna dem Vater in Berlin bis zuletzt bei vielen der in seinem Amt unvermeidlichen Repräsentationspflichten zur Seite gestanden.
     Nur kurz war die Zeit, die das junge Ehepaar noch in Nakel verbrachte. Im November 1873 wurde Kirschner zum besoldeten Stadtrat in Breslau berufen. In jener Zeit kam er Forckenbeck, noch Oberbürgermeister der
schlesischen Hauptstadt, sehr nahe, der später in Berlin auf Kirschners Fähigkeiten aufmerksam machte. 1879 wurde dieser zum Syndikus der Stadt Breslau gewählt, schied aber bald darauf aus der Verwaltung der Stadt wieder aus, um sich mit dem Inkrafttreten einer neuen Gerichtsverfassung und damit verbunden der freien Advokatur als Rechtsanwalt am Landgericht Breslau niederzulassen. Bald griff er aber wieder in die städtische Verwaltung ein: Er wurde in die Stadtverordneten- Versammlung gewählt, dann deren stellvertretender Vorsitzender und Vertreter der Stadt Breslau im Provinziallandtag für Schlesien. 1892 ereilt ihn der Ruf aus Berlin; am 19. Dezmber wurde er zum Bürgermeister der Metropole gewählt und Mitte Februar 1893 in das Amt eingeführt, das er sechs Jahre zu allgemeinster Zufriedenheit ausgeübt hat.

18 Monate ohne Oberbürgermeister

Berliner Oberbürgermeister war in jener Zeit Robert Zelle, der sich 1898 jedoch entschloß, vorzeitig aus seinem Amt auszuscheiden. Daß Kirschner für die Nachfolge in Betracht gezogen wurde, war durchaus nicht ungewöhnlich; bereits viermal war im laufenden Jahrhundert der zweite Mann später zum ersten geworden. Er stand im Rufe eines unermüdlichen Arbeiters, der sehr geduldig und hartnäckig beim Verfolgen kommunalpolitischer Aufgaben sein

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konnte. Für ihn, der in Breslau einst politisch als Nationalliberaler begonnen hatte, sprach auch seine freisinnige politische Einstellung. Bereits in seiner Breslauer Rechtsanwaltszeit hatte er zudem den Ruf eines vorzüglichen Redners erworben. Am 23. Juni 1898, vor hundert Jahren, wählte die Stadtverordneten- Versammlung: 95 Stadtverordnete waren anwesend; 76 gaben ihre Stimme Kirschner, zehn stimmten für andere Kandidaten, neun Stimmzettel waren unbeschrieben.
     Nach dieser letzten Stadtverordneten- Versammlung vor den Ferien hätte alles den bekannten Gang gehen können, zumal Kirschner kurz darauf dem Stadtverordneten- Vorsteher Langerhans seine Bereitschaft anzeigte, den Posten anzunehmen. Jetzt bedurfte es nur noch der königlichen Bestätigung durch Wilhelm II., und dann hätte am 1. Oktober, an dem die Amtszeit von Robert Zelle offiziell endete, die Amtsperiode seines Nachfolgers beginnen können. Was jedoch ausblieb, war eben diese urkundliche Bestätigung. Das Jahr verging, 1899 kam – und immer noch kein Ja oder kein Nein.
     Das erregte natürlich Aufsehen, und es bot viel Anlaß für Spekulationen. Auch kam die Frage auf, ob man sich für den Geeignetsten entschieden hätte. Die »Vossische Zeitung« hielt es für angebracht, sich vor Kirschner zu stellen. In der Ausgabe vom 1. Juli 1898 wies sie darauf hin, daß er »erst vor wenigen Jahren als zweiter Bürgermeister bestätigt
wurde und diesem Akte der Staatsaufsicht die sorgfältigste Prüfung aller einschlägigen Momente vorhergegangen ist. Aus der Zeit der Berliner Amtsthätigkeit des Herrn Kirschner ist nichts bekannt, was zu einer Berichtigung des Ergebnisses der damals vorgenommenen Prüfung Anlaß geben könnte.« Wieder wurde spekuliert, und so machte Anfang 1899 die Nachricht die Runde, der Oberbürgermeister in spe solle beabsichtigen, im Falle seiner Nichtbestätigung in die Verwaltung eines großen industriellen Unternehmens einzutreten. Dem widersprach allerdings, mit welcher Selbstverständlichkeit Kirschner die Geschäfte als zweiter Bürgermeister weiterführte. In diesem Zustand der Ungewißheit verharrte man 18 Monate, bis schließlich am 23. Dezember 1899 die Bestätigung und die Verleihung des Oberbürgermeister-Titels erfolgte. Die amtliche Bestallung teilte Wilhelm II. Kirschner bei der Enthüllung einer neuen Denkmalsgruppe in der Siegesallee persönlich mit. In der Unterredung wurde deutlich, was inzwischen den meisten längst klargeworden war: Die Hinauszögerung weit über Normalmaß war Ausdruck verstärkter Spannungen zwischen dem Roten Rathaus und dem nahe gelegenen Königsschloß. Ganz speziell war das Ganze als Affront gegen die Stadtverordneten- Versammlung gedacht gewesen, deren Beschluß, zum 50. Jahrestag der 48er Revolution den Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain instand zu
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setzen, ihn vor allem mit einem würdigen Portal zu schmücken, von der Staatsregierung als Verherrlichung der Revolution mißbilligt wurde. Nun jedenfalls war die Sache für Kirschner endlich ausgestanden. Seiner Popularität hatte die Verzögerung keinen Abbruch getan; ja, der ihm in diesem Zusammenhang zugeschriebene Satz »Ich kann warten« wurde alsbald zum geflügelten Wort. Als Repräsentant der Reichshauptstadt wurde er dann auch, seinem Amte gemäß, am 12. Februar 1900 auf Lebenszeit ins Preußische Herrenhaus gewählt.

Berlin in der Amtszeit Kirschners

Mit der Amtstätigkeit des neuen Oberbürgermeisters war die Entwicklung Berlins und seiner Vororte untrennbar verbunden. Der Etat der Stadt hat sich unter seiner Geschäftsleitung, verglichen mit dem Stand bei Geschäftsübernahme, mehr als verdoppelt. Konsequent hat sich Kirschner für die Erweiterung des städtischen Grundbesitzes eingesetzt (z. B. Ankauf der Wuhlheide). In seiner Amtszeit wurden der Viktoriapark, der Schillerhain und der alte Botanische Garten zu städtischen Erholungsstätten umgewandelt. Hohe Summen wurden für städtische Bauten einschließlich des Baus von Brücken bereitgestellt. Zu den herausragenden Bauten gehörten das Rudolf-Virchow-Krankenhaus, die Bucher Anstalten, das Neue Stadthaus in der Klosterstraße, die

neuen Gebäude der Akademie der Künste auf dem Pariser Platz, das Märkische Museum, zahlreiche Schulbauten, die Volksbäder, das Gaswerk in Tegel. Ebenso gehörten dazu der Neubau der Berliner Kanalisation, die Erweiterung des Schlacht- und Viehhofes, der Stadtgüter auf den Rieselfeldern, der Neubau des städtischen Waisenhauses, Straßendurchbrüche und -erweiterungen, die Umgestaltung des Schloßplatzes, die Anlage des Osthafens. Viel Aufmerksamkeit widmete Kirschner dem Ausbau des städtischen Schul- und Armenwesens. So machte er sich verdient bei der Umwandlung der sechsklassigen in eine achtklassige Gemeindeschule und bei der Einführung der Pflichtfortbildungsschule. In allen Zweigen der städtischen Verwaltung zu Hause, galt sein Augenmerk insbesondere auch dem Verkehrswesen. Sehr viel lag ihm an der städtischen Straßenbahn; so hat er dafür gesorgt, daß die Stadt die Aktien der Straßenbahngesellschaft für die Linien nach Pankow und Treptow kaufte. Eines seiner Lieblingsprojekte war die Nordsüdbahn, deren Betriebseröffnung er nicht mehr erleben
konnte.
     Martin Kirschner hat seine Ansichten, ob im städtischen Parlament, im Landtag oder auf den Städtetagen, stets konsequent vertreten. Vehement verteidigte er die Rechte der städtischen Selbstverwaltung. Mit Nachdruck vertrat er die kommunalen Rechte der Bürger. Er war bekannt für seine Ruhe
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und Objektivität, für sein Gerechtigkeitsgefühl und dafür, erst eine Sache von allen Seiten zu betrachten, ehe er Entscheidungen fällte. Von etwas schwerer, spröder Natur, so haben ihn Zeitgenossen auch beschrieben, vermochte er seine Zuhörer durch eine eindrucksvolle und zugleich verhaltene Art zu fesseln und zu erreichen, daß die Auseinandersetzungen in den Sitzungen niveau- und stilvoll ausgetragen wurden. Ein zentrales Problem bildete für ihn über Jahre hinweg die mit vielen Spannungen verbundene Eingemeindungsfrage, die Bildung der Kommune Groß-Berlin. Im fehlenden Einfluß Berlins auf die Bebauung im unmittelbaren Umfeld sowie auf eine einheitliche Verkehrspolitik sah er eine Ursache für die wachsenden Gegensätze zwischen dem armen Osten und dem reichen Westen. In Eingaben und Denkschriften legte Kirschner die aus seiner Sicht treffendsten Gründe für die Eingemeindung der Vororte dar, ist aber im Ministerium des Innern auf taube Ohren gestoßen. Der dann am 1. April 1912, noch in seiner Amtszeit, gegründete »Zweckverband Groß-Berlin« war in seinen Augen allenfalls ein Kompromiß, eine Interimslösung auf dem Weg zur Einheitsgemeinde.
     Anläßlich der Feierlichkeiten zum 100jährigen Bestehen der Berliner Universität am 12./13. Oktober 1910 wurde Martin Kirschner zum Ehrendoktor der Juristischen Fakultät ernannt. Am 30. März 1911 erneut zum Ober-
bürgermeister gewählt, mußte er jedoch im März des folgenden Jahres aus gesundheitlichen Gründen das Rücktrittsgesuch einreichen. Seine Verdienste würdigte die Stadtverordneten- Versammlung in ihrer Sitzung am 15. Mai 1912, in der Staatssekretär a. D. Adolf Wermuth zum neuen Oberbürgermeister gewählt wurde, mit dem Beschluß, ihm die Ehrenbürgerwürde zu verleihen und ihn mit vollem Gehalt zu pensionieren. Den Ehrenbürgerbrief wollte man ihm zu seinem 70. Geburtstag überreichen, der am 10. November des Jahres bevorstand. Dazu kam es nicht mehr. Martin Kirschner erlag am 13. September 1912 in Ehrwald (Tirol) einem Herzleiden. In einem schriftlich hinterlassenen Letzten Willen hatte er darum gebeten, »in möglichst einfacher Weise« und in aller Stille bestattet zu werden. So war es ein stilles Begräbnis auf dem Städtischen Zentralfriedhof von Friedrichsfelde, zu dem sich am 18. September eine kleine Trauergemeinde einfand. Die eingefaßte, gemäß seiner Letzten Verfügung nicht namentlich gekennzeichnete Grabstelle befindet sich noch heute in der Mittelallee des Friedhofes und wird als Ehrengrab der Stadt Berlin gärtnerisch betreut.

Bildquelle:
Verein für die Geschichte Berlins

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