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Michael Sachs, Rabbiner, Übersetzer und Sprachforscher, geboren am 3. September 1808 in Groß-Glogau, gestorben am 25. Juni 1864 in Berlin. Er studierte von 1827 bis 1834 in Berlin. Danach war er bis 1844 Prediger in Prag. Da er sich durch Wissen und Können und eine hinreißende Beredsamkeit auszeichnete, wurde er 1844 zum Rabbinatassessor und Prediger nach Berlin berufen. Hier setzte er sich sowohl gegen die Orthodoxen als auch gegen die Anhänger entschiedener Reformen durch. Der ersten Veröffentlichung, »Erläuterungen zu den Psalmen« (1836), folgte 1837 die Übersetzung von 15 Büchern der Heiligen Schrift. Große Verbreitung fanden die von ihm herausgegebenen »Festgebete« und »Das tägliche Gebetsbuch«. Durch sein gemeinsames Auftreten mit dem katholischen und dem protestantischen Geistlichen an den Särgen der Märzopfer wurde die im Freiheitskampf geforderte Gleichheit aller Konfessionen erstmals öffentlich demonstriert.

Adolf Sydow, Prediger an der Neuen Kirche am Gendarmenmarkt (heute Deutscher Dom), wurde am 23. November 1800 in Charlottenburg als Sohn des Bürgermeisters geboren. Er starb am 22. Oktober 1882 in Berlin. Während seines Theologiestudiums in Berlin wurde er zum Anhänger Schleiermachers. In späteren Jahren gab er dessen Predigten heraus. Sydow wurde Geistlicher im Kadettencorps, ab 1838 war er Hof- und Gardedivisionsprediger. 1844 studierte er im Auftrag des Preußischen Königs in London das englische Kirchenwesen. Im Gegensatz zu den Erwartungen empfahl Sydow eine Erneuerung der Protestantischen Kirche »von unten«. Er zog 1846 das Predigtamt an der Neuen Kirche dem bei Hofe vor. Ab Mitte März 1845 gab er die »Zeitschrift für die unirte Kirche« heraus. Ein Höhepunkt seines Wirkens war die Rede vor den aufgebahrten Märzgefallenen und an den offenen Gräbern im Friedrichshain, mit der er konservativ eingestellte Kirchenkreise gegen sich

Gedenkworte für die Märzgefallenen 1848 und 1998

Einmütig vereinigten sich ca. hunderttausend Berlinerinnen und Berliner am 22. März 1848 auf dem Gendarmenmarkt, um den Opfern des Volkes das letzte Geleit zu geben. Neben den 183 Särgen auf den Stufen der Neuen Kirche (heute Deutscher Dom) befand sich ein Rednerpult, an das nacheinander der katholische Kaplan Ruland von der Sankt-Hedwigs-Kirche (heute Hedwigs-Kathedrale), der Rabbiner Michael Sachs von der Berliner Jüdischen Gemeinde und Adolf Sydow, Prediger der Neuen Kirche, traten. Sydow war auch der Hauptredner auf dem Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain. Nach ihm hielt dort Assessor Georg Jung eine Gedenkrede, der Wortführer der Berliner Demokraten. Am 26. März sprach Leopold Zunz die Abschiedsworte für die Brüder Simon auf dem Jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee. (Einen genaueren Einblick in den Ablauf der Beisetzung der Märzgefallenen sowie der im Kampf gebliebenen Soldaten am 24.März bietet Adolf Wolff: Berliner Revolutionschronik. Darstellung der Berliner Bewegungen im Jahre 1848 nach politischen, socialen und literarischen Beziehungen, Band 1, Berlin 1851).
     Wer waren die Redner, deren Gedenkworte im Folgenden wiedergegeben werden?

Der katholische Kaplan Johann Nepomuk Ruland (1810–1874) veröffentlichte 1836 ein französisches Lesebuch, 1839 ein Gebets- und Andachtsbuch. Mehrere seiner Predigten, darunter Neujahrspredigten aus der Sankt-Hedwigs-Kirche der Jahre 1845 und 1846, wurden in Berlin herausgegeben. Gegen eine der Predigten zur Verehrung von Reliquien wurde öffentlich Widerspruch erhoben. Weitere Lebensdaten von Ruland waren nicht aufzufinden.

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aufbrachte. 1873 wurde eine seiner Predigten zum Anlaß genommen, ihm den Prozeß zu machen und ihn zeitweilig des Amtes zu entheben. Demokratisch gesinnte Berliner wählten ihn Anfang Mai 1848 zum Abgeordneten der Preußischen Nationalversammlung. Am 6. Juni 1848 vertrat er, wie 24 von 50 Geistlichen unter den Abgeordneten, die Meinung, daß sich die Kämpfer vom 18. und 19. März nicht um das Vaterland verdient gemacht hätten. Enttäuscht darüber, wurde er vor der Tür des Tagungsortes beschimpft, bedroht und tätlich angegriffen.

Georg Jung, Assessor, Publizist, Abgeordneter der Preußischen Nationalversammlung 1848, wurde am 2. Januar 1814 in Rotterdam geboren, er starb am 8. Oktober 1886 in Berlin. Bis 1836 studierte er in Bonn und Berlin Jura. Ab 1841 war er am Kölner Landgericht als Assessor tätig. Jung arbeitete an mehreren demokratischen Zeitungen und Zeitschriften mit, so an der Rheinischen, der Hallischen und an den Deutsch-französischen Jahrbüchern. Von 1846 an lebte und wirkte er in Berlin. Die Gedenkrede am 22. März hielt er im Auftrag revolutionärdemokratisch gesinnter Berliner und erntete damit das Mißfallen der Kirchenvertreter, der Geistlichen und Vertreter des Magistrats. Statt eines geistlichen Liedes sang nach Jungs Rede der Chor des Berliner Handwerkervereins ein Lied, in dem es hieß: »Diesmal hat der Mensch gesiegt!« und »Und der Menschheit Freiheitsbaum – sprieße aus des Grabes Raum!« Von der Gründung des Politischen Klubs am 22. März 1848 bis Ende Mai desselben Jahres war Jung Präsident dieser politisch wichtigen Vereinigung Berliner Demokraten. Er wurde 1850 aus Berlin ausgewiesen. Nach 1863 war er Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses.

Leopold Zunz, Redakteur, Direktor des jüdischen Lehrerseminars in Berlin. Begründer der Wissenschaft des Judentums, geboren am 10. August 1794

in Detmold, gestorben am 17. März 1886 in Berlin. Hier studierte er Philosophie und Philologie bei den Professoren Boeckh, Savigny und de Wette. Er promovierte 1821 in Halle. Bereits im November 1819 wurde er Mitbegründer und führendes Mitglied des Vereins »Für die Wissenschaft und Cultur des Judentums«. Ab 1821 war er Redakteur der entsprechenden Zeitschrift, von 1823 bis 1831 Redakteur der Spenerschen Zeitung. Nachdem er bereits von 1826 bis 1829 als Schuldirektor gewirkt hatte, leitete er von 1840 bis 1850 das Berliner jüdische Lehrerseminar. Über die Jüdische Gemeinde Berlins hinaus fand seine Rede bei der Beisetzung von zwei jüdischen Opfern des Barrikadenkampfes große Aufmerksamkeit. In den Wochen nach den Revolutionsereignissen war Zunz auf Demokratenversammlungen aktiv, von 1849 bis 1850 als Vorsitzender des 8. Volksvereins, nach 1862 als Redner in Bezirksvereinen. Von Heinrich Heine wurde er als Mann der Rede und der Tat hoch geschätzt.
      Heinz Warnecke

Die folgenden Texte entsprechen der Fassung, die unmittelbar nach der Beisetzung als Flugschriften verbreitet wurden. (Flugschriften 1848, Mappe 3, Zentrum für Berlin Studien, Berlin, Breite Str.)

Kaplan Johann Ruland auf dem Gendarmenmarkt:

Auch der katholische Geistliche grüßt im Namen seiner Kirche die sterblichen Ueberreste derer, die von nun an ruhen sollen in gemeinschaftlicher Erde.
     Von der einen Seite Tod und Verwesung, von der anderen Auferstehung und Leben, steht sein Herz, wie aller Herzen, jetzt unter dem Doppeleindrucke der Trauer und der Freude.
     Trauer, daß so viele Opfer dasselbe Grab umfassen muß, Freude, daß es ein einziges Grab ist, das alle diese Opfer einschließt.

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Wird dieses eine Grab das Zeichen der Vereinigung für Alle; wird diese Einheit aus diesem einen Grabe heraus gepredigt werden für immer an unser gesammtes liebes deutsches Vaterland; ist dieses eine Grab der Durchgang zur Auferstehung für uns Alle; dann seid gegrüßet, die ihr hier als Leichen um mich stehet.
     Eure Todesseufzer waren die Posaunen, die diese Auferstehung uns verkündet haben. In diesem Sinne segne ich euch und rufe es auf zu Gott: »Gieb Ihnen ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte Ihnen durch unsern Herrn Jesum Christum.« Amen.

Rabbiner Michael Sachs auf dem Gendarmenmarkt:

Im Namen jenes uralten Bekenntnisses, das als lebendiger Zeuge der Weltgeschichte und Weltgeschicke seit Jahrtausenden dasteht, im Namen jener alten Gotteslehre, die der Menschheit ihren Gott gebracht, die sie gelehrt in den Stürmen und Wogen der Ereignisse die leitende und waltende ewige Vorsehung zu schauen, die sie angeleitet, das Wehen des Gottesodems in dem Leben der Völker zu erkennen, die durch den begeisterten Mund ihrer Herolde, die Propheten, für Wahrheit und Recht das Wort genommen, im Namen jenes alten, ewigen Bundes, der den Gedanken der Brüderlichkeit, liebender Theilnahme des Menschen am Menschen in ihrem Kreise zuerst begründet und gepflanzt, nehme auch ich aus tiefbewegter Brust, aus ergriffener voller Seele das Wort in diesem erhabenen weihevollen Momente. Es war nicht der Tod, der sie alle gleich gemacht, die hier ruhen, sondern die Kraft des Lebens, die Macht einer Idee, die Gluth der Begeisterung, die alle Dämme und Scheidewände niederriß, welche sonst den Menschen von sich selbst, den Menschen vom Menschen scheiden. Es war die Macht einer Ueberzeugung, eine Erhebung der edelsten Gefühle und Gedanken, die jene Hingeschiedenen, deren Gedächtniß hier in

so ergreifender Weise gefeiert wird, hinaustrieb in den Todeskampf; es waren die würdigsten Ziele, für die sie gerungen, und denen sie mit Einsetzung ihres Lebens entgegengingen, das freie Selbstbewußtsein, die in ihrem Gebrauche ungehinderte unbeengte Kraft des Mannes, die sie dem Vaterlande erstreiten halfen. Gesegnet war ihr Ausgang, gesegnet sei ihr Eingang in das Reich Gottes, in das Reich des Lichtes und der Versöhnung, in das Reich der Wahrheit und Klarheit, in das Reich der Liebe und Milde. Mögen sie aus dieser Stätte der Verklärung hinabschauen auf eine Erde, auf welcher Wahrheit und Recht, Liebe und Einigkeit, die Güter, für die sie gestritten, als eine Saat des Heiles aufwachsen, und zu einem mächtigen Baume werden, der die versöhnte Menschheit mit seiner reichen Blätterkrone beschatte. Amen.

Prediger Adolf Sydow auf dem Friedhof im Friedrichshain:

Allmächtiger Gott, ewiger Vater! der Du die Menschen lässest geboren werden und sprichst: kommet wieder zu mir, ihr Menschenkinder – Du, dessen Augen uns sahen, ehe denn wir bereitet wurden, und waren alle Tage unseres Lebens auf Dein Buch geschrieben, ehe denn wir wurden und noch seiner derselbigen da war – Du, der Du mit allem, was Du uns thust und geschehen lässest, Gedanken des Friedens mit uns hast und nicht des Leides – gnadenreicher himmlischer Vater: in anbetender Ehrfurcht, in tiefster Demuth der Seele treten wir in Deine Gegenwart. Zu Dir rufen wir aus dem Staube und beugen erschüttert unsern Geist unter Deine gewaltige Hand. Erfülle diese ergreifenden Augenblicke mit dem lebendigen Wehen Deines Odems und gieb uns Allen, Allen im innersten Herzen ein Zeugniß Deiner heiligen Nähe! –
     Im Namen Gottes des Herrn!
     Lasset uns hören das Wort aus dem Munde der Wahrheit. Jesus Christus spricht:

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   96   Dokumentiert Gedenkworte für die Märzgefallenen 1848 und 1998  Vorige SeiteNächste Seite
Wahrlich wahrlich ich sage euch, es sei denn, daß das Waizenkorn in die Erde falle und ersterbe, sonst bleibt es allein: wo es aber erstirbt, bringt es viele Früchte.
     In dem Herrn, geliebte Brüder! Der, welcher dem Tode die Macht genommen und Leben und unvergängliches Wesen an das Licht gebracht, welcher selber uns Allen zum Heil und zu immer fortgehender Befreiung der Menschheit in Glauben und Gewissen, in Wahrheit, Recht und Liebe sein Leben, ein heiliges Saamenkorn, in den Tod gab, Jesus Christus gestern und heute und derselbe in Ewigkeit – er deutet uns in diesem Worte das Gesetz des Weltgangs: aus dem Tode das Leben! und der Gott unter dessen Himmel wir hier stehen, der große Dinge thut, die nicht zu erforschen sind und Wunder, die nicht zu erzählen, hat es von Neuem bewährt vor unsern Augen. Blicket hin auf diese Reihen von Särgen; eine reiche Erndte hat der Tod gehalten und über mancher Mutter Sohn ist das unerwartete Verhängniß hereingebrochen. Dieser Leben sterbliche Hüllen wollen wir jetzt in die Erde einsenken, auch unter Gottes Segen ein früchtereiches Saamenkorn uns und den künftigen Zeiten.
     Als wir sie hergetragen in ernstem feierlichen Zuge durch die Straßen unsrer Hauptstadt, haben in beredter Stille die Herzen und Blicke von Hunderttausenden ihnen die Bürgschaft mitgegeben in das Grab, daß sie gefallen sind für die Zukunft eines in Gottesfurcht, Verstand und Sitte zur Freiheit gereiften Volkes. Dies erhebe uns in dieser schmerzlichen Stunde zu einer Hoffnung, die nicht zu Schanden werden läßt, und verkläre all unser Leid zu frommer Zuversicht und Ergebung.
     An Euch zuerst wendet sich unser Zuspruch, die Ihr in nächstem persönlichem Schmerz an diesen Särgen trauert. Ihr Eltern, denen die Kinder, Ihr Wittwen, denen der Gatte, Ihr Kinder, denen der Vater und Versorger geraubt. Ihr Bräute, die Ihr dem Geliebten nachweint, Ihr Geschwister, die Ihr den Bruder, Ihr Verwandte und Freunde, die Ihr
den Freund verloren; an Euch, die Ihr in diese Gruft hinabstarrt und an die, welche ferne sind, welche vielleicht in diesen Augenblicken es noch gar nicht wissen, wie auch auf ihre Angehörige der rasche Tod gekommen, wendet sich unser Zuspruch. Von Euch ist es gefordert worden, die theuersten Opfer niederzulegen auf den Altären des Vaterlandes.
     Diese weite Gruft, ja, was sage ich, dieser gleich mit dem Anfang schon geschlossene Kirchhof öffnet vor unsern erschrockenen Blicken seinen Mund und klagt sprechender als Worte es vermögen, die Größe Eures Kummers. Kann Mitgefühl Eure Seele erleichtern – Euer Schmerz wird von Millionen tief und innig getheilt. Mischt sich in ihn auch die Sorge für die äußere Zukunft – unsere Stadt, unser Vaterland empfängt und übernimmt diese Sorge als ein heiliges Vermächtniß unsrer Todten. Weinet, Euer Schmerz ist gerecht; weinet, wir weinen mit Euch! Aber bedenket, es ist Euch Solches ja nicht von ohngefähr widerfahren; es kommt Euch ja von dem Gott, der noch nie etwas versehn hat in seinem ewigen Regiment und der nicht ein Gott der Todten ist, sondern der Lebendigen – ihm leben sie Alle!
     Weinet, wir weinen mit Euch! aber lasset uns bedenken, daß sie mit ihrem Blute uns, den Ueberlebenden, die erhabensten Güter versiegelt haben, für die das Leben des Menschen kein zu hoher Preis ist. Einst, so heißt es im Worte des Lebens, schwebte der Geist Gottes über den Wassern und gestaltete durch seine inwohnenden Kräfte aus dem stürmischen Durcheinander der Elemente diese schöne Welt zur Ehre des Schöpfers. Lasset den Geist Gottes schweben über den Wassern unserer Thränen, daß er ein Geist des Trostes, der Kraft und des Maaßes, aus diesen Tagen herausgestalte die schöne Bildung einer besseren Zukunft unseres geliebten Vaterlandes.
     Jede Erbitterung, die die Reinheit unseres wehmüthigen aber hochgestimmten Herzens trüben müßte, werde hinausgethan für immer; jeder Groll,
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   97   Dokumentiert Gedenkworte für die Märzgefallenen 1848 und 1998  Vorige SeiteNächste Seite
jede persönliche Rachsucht mache Raum dem Geist der Vergebung. Friede, Friede, Eintracht und Versöhnung gehet aus von dieser Stätte; volle Anerkennung, Ehre auf beiden Seiten jedem, der im Gedanken der Pflicht, in der Ueberzeugung seines Gewissens gestritten und gefallen. Wo eine neue Ordnung der Dinge von einer alten kämpfend sich losringen muß, da geht es zunächst nicht ab ohne Bruch und Widerstoß; aber den braven Gegner, der mit seiner Einsicht und seinem Gewissensurtheil noch in dem gegnerischen System gebunden ist, sollen wir ehren und nicht hassen. Darin ehren wir das Christenthum und uns selbst. Wohl sind auch Thaten der Grausamkeit, der persönlich aufgeregten Leidenschaft geschehn. Versenken wir sie, wie es Christen geziemt, in das Grab des Vergebens und Vergessens. Brüder, Gott muß uns allen viel vergeben! und beten wir denn zu ihm nicht in den Worten unseres Meisters: vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern? darum vergebe der Bruder dem Bruder seine Fehle, der Siege göttlichster ist das Vergeben.
     Aber warum mußte es so kommen? Brüder, die Vorsehung geht ihren Gang, wir können sie nicht meistern; an uns ist es, ihre Winke nicht mißzuverstehen und die Bahn, die sie uns zeigt, nicht zu verfehlen. Ja, es ist wahr, es ist geschehen, daß sich zwischen den König und sein treues Volk eine schwüle unheilvolle Wolke hat lagern können, die seinen sonst so klaren königlichen Blick in Täuschung gehalten, die sein treues Herz geirrt hat; aber nun ist sie ja vergangen, vergangen wie das einschläfernd einförmige Geräusch eines Lastwagens verstummt unter dem erfrischenden, rollenden Donner Jehova's. Das Wort des Einverständnisses ist gefunden, wiedergekommen ist unseren Herzen der unaussprechliche Segen des Vertrauens. Fassen wir die große weltgeschichtliche Bedeutung dieses Augenblickes, dieses entscheidenden Wendepunktes in der Entwicklung unseres preußischen, unseres deutschen Vaterlandes, verlieren und ver-
derben wir ihn nicht durch Trägheit, Mißverstand oder Schuld. Er ist zu groß, um kleinlichen Interessen und Empfindungen Raum zu verstatten. Schande, unauslöschliche Schande dem, der jetzt niedrigen, eigensüchtigen Zwecken, unwürdigen Parthei-Leidenschaften fröhnen wollte, der nicht sich selbst hintenansetzend in der Liebe, in der Geduld, in der Hingebung eines vaterländischen Herzens seinen ganzen Willen und seine ganze Kraft der ruhigen, ordnungsmäßigen Gestaltung des Ganzen weihete, aus der doch allein nur die Wohlfahrt aller Einzelnen, der Stände wie der Personen, würdig, gerecht und gesichert hervorgehen kann. Kräftigster Widerstand dem schleichenden und schürenden Geiste, der das Wohl aller Klassen der Gesellschaft durch Untergrabung des gegenseitigen Vertrauens und des besonnenen Ordnens auf das Spiel setzt, daß wir bewahrt bleiben vor den Zuständen eines Nachbarvolkes, welches vielleicht in diesen Augenblicken schon sich in brudermörderischem Kampfe zerfleischt. Schaaren wir uns darum in treuem vaterländischen Gemeinsinn um unseren theuren König. Wie von Neuem uns geschenkt ist er ja an unsere Spitze getreten, um uns einer neuen herrlichen Zukunft entgegen zu führen. Einen hohen, kühnen Griff hat er gethan in die Gestaltung der Geschicke unseres schönen deutschen Vaterlandes. Der große Augenblick fordert großes Vertrauen: es wird ihm nicht versagt werden von Deutschlands Völkern und Fürsten, auch unsere treue Hülfe darf und soll ihm nicht fehlen. Ja, du Gott aller Treue und alles Segens, groß und wunderbar von Macht und Thaten, erkräftige dazu unser aller Herzen in der Begeisterung und Besonnenheit, in dem Ernst und in der Selbstverleugnung ächter preußischer, deutscher, Vaterlands- und Bruderliebe! Wofür unsere Väter in den großen Kriegen unserer Freiheit gestritten, was mehr oder weniger durch die Unbill der Herrscher und durch die Ungunst der Zeiten uns vorenthalten und verkümmert worden, es ist jetzt
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   98   Dokumentiert Gedenkworte für die Märzgefallenen 1848 und 1998  Vorige SeiteNächste Seite
errungen, daß wir es bewachen, daß wir es nicht von Neuem verlieren, daß wir es nun ordnungsmäßig ausgestalten. Ehre jedem Stande, und jeder gerechten Forderung gerechte Rücksicht. Das sind die Früchte, die dieses vielbeweinte Saamenkorn bringen wird, welches wir hier in diese weitklaffende Furche unserer freien vaterländischen Erde einsenken. Gott wende in Gnaden sein Antlitz zu seiner Entfaltung und rüste uns alle aus, einen Jeden an seiner Stelle, zu treuer Arbeit, zu Vertrauen und Geduld! In dem Denkstein, der diese Stätte zieren wird, welche die Gebeine der Märtyrer unserer Freiheiten und Rechte umschließt, wird eine Seele heiliger Erinnerung wohnen.
     Künftige Geschlechter sollen zu ihm pilgern, und er wird ihnen von den großen Zeichen berichten, die Gott der Herr in diesen schweren Zeiten gethan, und er wird Kindern und Kindeskindern zur Warnung und zur Lehre, zu Trost und stolzer Freude von den Leiden und Thaten ihrer Väter und Mütter erzählen. Amen!

Assessor Georg Jung auf dem Friedhof im Friedrichshain:

Sie haben gehört Worte der Versöhnung, des Friedens: wir sollen verzeihen, wir sollen vergessen. Wohlan denn, ihr Brüder! die Rache mag schwinden, die rohe Rache, die Blut für Blut fordert; aber sühnen wollen wir dieser Todten Blut, indem wir als heiliges Vermächtniß das übernehmen und durchkämpfen, wofür sie gestorben sind. Wir wollen verzeihen, aber nicht vergessen, wir wollen den Frieden, aber nicht die Ruhe; Schmach uns, wenn wir in träger Ermüdung oder in der Furcht vor Aufregung an diesen frischen Gräbern uns niederlassen wollten zu einem schmachvollen Frieden, der dem Sieger die Früchte, den Todten hier die Sühne raubt.
     Wohlan, es schweige die blutige Rache, aber statt ihrer entstehe aus dem Blute ein mahnender Geist,

ein Geist der geistigen Wachsamkeit, der uns auf ewig vor jener Versunkenheit, jener Indolenz bewahre, die das deutsche Volk zum Spielball einheimischer und fremder Politik machte.
     Wohlauf, meine Herren, wie Antonius das Testament des ermordeten Cäsars, eröffne ich Ihnen das Testament des gemordeten Volkes; nicht das Testament eines Tyrannen, der die Gunst des Volkes mit Gold erkaufen wollte, das Testament schlichter aber freier Männer vom Volke für das Volk, die mehr als alle Schätze, die ihr Herzblut dahingaben.
     Wachet, heißt es in diesem heiligen Buche, wachet o ihr Brüder, daß der Freiheit, für die wir starben, nichts mehr verkümmert, nichts geraubt, nichts abgelistet werde. Wachet, o ihr Brüder, daß Preußens Stern nicht mehr bloß auf dem rohen Schlachtgefilde, nicht auf der feilen Brust des Höflings, sondern daß er hoch an jenem friedlichen Himmel erglänze, wo die Zeichen der freien gebildeten Nationen sich zu einem Sternbilde vereinigen.
     Wachet o ihr Brüder, so tönt die hehre Grabesstimme, daß die Angst furchtsamer Seelen, oder das Interesse Derjenigen, die herrschen wollen auf Kosten Anderer, das Mißtrauen, die Fackel der Zwietracht nicht entzünde. Wenn ihr vereint auf den Barrikaden sterben konntet, so werden ihr vereint auch leben können; wenn der Reiche ohne Mißtrauen mit dem Mann im zerrissenen Rocke die Gefahr des Kampfes theilen konnte, wie sollte er ihn zurückstoßen können von irgend einer Institution, irgend einem Rechte, welches der Kampf errungen hat?
     Fort auf ewig in die Nacht der Vergessenheit mit allen Scheidemauern der Menschen, tragt sie ab die Barrikaden eures Herzens, nachdem ihr die des Kampfes abgetragen habt. Es giebt keinen Pöbel, keinen rohen Haufen, kein Gesindel mehr; denn wir, so sprechen die Todten, haben mit unserm Blute euren Bürger- und Freiheitsbrief besiegelt.
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So vermachen wir denn, so spricht das Testament, auch Allen gleiche Rechte, gleiches Gesetz, gleiches Gericht, gleiche Theilnahme an der Gesetzgebung. Frei mögt ihr reden und schreiben, frei euch vereinigen. Wehe dem, der irgend einem Mann, den das Urtheil eines Volksgerichts nicht gebrandmarkt hat, für unfähig oder unwürdig zu irgend einem dieser Rechte erklären wollte. Das Volk wähle seine Vertreter selbst aus jedem Stande, der ihm beliebt, und schützend wird es die Einrichtungen umstehen, die es sich selbst gegeben hat. – Wehe dem, der dem Geringsten unter ihm das Recht verkümmern wollte, welches wir ihm hier mit unserm Blut vermachen. Denn wir haben gezeigt, wie auch der Mann des Volks für das Vaterland reden kann, reden mit dem Röcheln der todeswunden Brust. – Wehe dem, der denjenigen, der da sterben konnte für sein Vaterland, für unwürdig, für unfähig erklären will, zu wissen, was ihm gut ist und danach seine Gesetzgeber zu wählen.
     Hier liegen sie alle beisammen die Männer der Kunst, der Literatur, des Gewerbes, der Arbeit, der letztern in größter Anzahl. Was der Tod vereinigt hat, wird der Lebende es wieder zu trennen wagen?
Ihr scheidet aber, wenn ihr sagt, bis hierher geht die Fähigkeit zu wählen, Waffen zu tragen, sich zu vereinigen, und nicht weiter. – Wer zieht diese Grenzen? Eure Furcht. Eure unbegründete Angst vor einem Schreckbilde, welches ein fortgesetztes Mißtrauen am Ende wirklich hervorrufen könnte.
     Die Furcht aber ist das sicherste Arsenal der Gewalt, aus dem sie ihre Waffen nimmt zur Unterdrückung Aller. Die Furcht ist der sichere Hafen, in dem der Despotismus ankert.
     Die Furcht ruft die Gewalt herbei, welche sich hohnlächelnd zwischen den Fürchtenden und den Gefürchteten stellt, und mit Beider Hülfe dort ihre sichere Zwingburg aufführt. Nur furchtlose Männer sind frei! –
     Was vermochte jene fanatisirten Soldaten in so wilder Wuth sich auf ihre Brüder zu stürzen, was
anders als ihre Trennung vom Vaterland und dessen Rechten? Sie kannten nur eine dunkle Macht, welche aus unerreichbarer Höhe unabänderliche Befehle giebt, statt des Rechtes hatten sie den Gehorsam, statt Pflichten den Dienst, den blinden, unabänderlichen; sie kämpften nicht für's Vaterland, sie schlachteten dem Götzen ihres Aberglaubens, wie sie meinten, gerechte Opfer. – Ihr habt euch gewaffnet gegen die Rückkehr dieses Feindes, ihr vertrauet auf die Stärke eures Muthes und eurer Waffen. Aber vertraut nicht zu sehr, es kommen Stunden der Ruhe, der Ermattung, und der Feind schleicht sich wieder unter euch und die Knechtschaft oder der Kampf beginnt von Neuem. Ihr müßt euch also nicht allein waffnen gegen den Feind, ihr müßt vielmehr diesen entwaffnen für ewige Zeiten, indem ihr ihn an den Altar des Vaterlandes führend als Bruder gleiche Rechte, gleiche Pflichten gebt, indem ihr ihm zeigt, daß jener dunkle Gesetzgeber ein Phantom ist, welches verfliegt vor den Blicken freier Männer, wenn die Stimme des Vaterlandes ihm nicht bloß in der Schlachttrompete ertönt, der Staat nicht mehr blos durch die Trommel zu ihm spricht, sondern wenn der Wahltag ihn an seine Freiheit, die Wahlurne ihn an seine Rechte als selbstständiger Mensch erinnert, wenn er liest, das der Mensch zu edel ist, als daß er in roher Würgerarbeit um fremder Interessen willen sein Blut verspritze, wenn er in freier Volksversammlung vernimmt, daß der Volkswille das heiligste Gesetz sei, welches kein Commandowort übertönt.
     Auf denn, so erwachse aus unserm Blute statt des wilden Rachegeistes, die Rose der Freiheit und Verbrüderung! O pfleget sie wohl die edle Blume, und wachet, daß man sie euch nicht entreiße. Noch ist sie im Keimen und man erwartet sehnsuchtsvoll ihre Blüte. – Noch sind euch die wichtigsten Rechte, wie das allgemeine Wahlrecht, Sicherheit der Person vor der Gewalt der Polizei, freie Vereinigung, freie Versammlung noch nicht gewährt,
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   100   Dokumentiert Gedenkworte für die Märzgefallenen 1848 und 1998  Vorige SeiteNächste Seite
noch sind Leute eure gesetzlichen Vertreter, die nicht euer Wille, sondern ihr Privilegium, der zufällige Umstand ihrer Geburt, ihres Besitzes und ihrer Handtirung dazu machten. Wir konnten euch nur das Anrecht auf diese hohen Güter vermachen und den Weg dazu anbahnen.
     O wachet und strebet, und denkt der blutigmahnenden Schatten eurer Brüder, die wahrlich nicht für ein Kleines zu sterben gedachten.

Leopold Zunz auf dem Jüdischen Friedhof Schönhauser Allee:

Um edle Todte trauert Berlin, trauert Deutschland, um ihre Lieben trauern die Hinterbliebenen. Die in unseren Strassen einhergingen unbeachtet, die in Studierzimmern dachten und in Werkstätten arbeiteten, die am Schreibtisch rechneten und in Läden feilboten, wurden plötzlich Krieger und wir entdeckten sie erst in dem Augenblick, wo sie als Sterne verschwanden. Als sie verherrlicht wurden, da verloren wir sie, und seitdem sie unsere Befreier geworden, können wir ihnen nicht danken. Doppelt trauern die verlassenen Angehörigen: wie viel sie an den Todten verloren, hat ihr schöner Tod ihnen offenbart, dem Beile gleich, das die dunkele Muschel spaltend die Perle enthüllt.
     Aber wie, haben wir, habet Ihr sie denn verloren? Jene, die wir für minder berechtigt gehalten, weil wir ihnen die Stelle im Leben anwiesen nach der Etikette der Titel und nach dem Schimmer des Goldes, denen wir gleichgültig begegneten, weil die Sonne der Macht sie nicht beschienen, oder denen wir hochmüthig Ungnade und herablassend Gnade erzeigt, je nach den eingebildeten Rangstufen der Stände, der Geburt und des Bekenntnisses, – wie haben sie über unsere Häupter sich emporgehoben, von einer ewigen Sonne widerstrahlend, hoch über Alle hinaus, die im Flitter geborgter Sonnen einhergehen! Gross und theuer sind sie uns durch ihren Tod geworden, als sie scheidend

einen unermesslichen Reichthum auf uns ausschütteten, auf uns Alle, die wir arm, sehr arm waren. Unser Haupt, einem brennenden Himmel gleich, lieferte keinen fruchtbaren Regen grossherziger Gedanken, und das Herz in unserer Brust, zu Eisen geworden, ward öde an menschlicher Empfindung. Eitelkeit und Wahn waren unsere Götzen, Schein und Lüge vergifteten unser Leben, Genuss und Habsucht diktirten unsere Handlungen, eine Hölle sittlichen Elends, in alle Einrichtungen des Lebens einfressend, machte ringsum den Luftkreis glühend, bis endlich schwarze Wolken heranzogen, das Gewitter heranstürmte im Volksdonner und die reinigenden Blitze in die Barrikaden und in die Lüge einschlugen. In diesem Wetter sah ich die feurigen Wagen und die feurigen Pferde, welche die für Recht und für Freiheit gefallenen Gottesmänner in den Himmel entführten; ich vernehme die Gottesstimme, welche die Namen eurer Lieben, ihr Weinende! adelt: Die freie Presse ist der Adelsbrief und unsere Herzen das Denkmal. Ein jeder von uns, ein jeder Deutsche ist ein Hinterbliebener, ein Trauernder, und ihr seid keine Verlassene mehr.
     Gross aber wird die Ehre sein, die euren, die unseren Todten erzeigt wird. Denn das Reich der Freiheit wird erstehen: das auf Nationalwillen gegründete Gesetz, die in freiwilligem Gehorsam bestehende Ordnung, die Anerkennung des Menschen unbehelligt vom Unterschiede der Sekten und der Stände, die Herrschaft der Liebe als Zeugniss der Erkenntniss Gottes. Das wird die Menschheit aufzubauen haben, und die Gefallenen, die dieses Vermächtniss uns hinterlassen, werden als die Gründer dieses schönen neuen Lebens in unvergänglichem Ruhme strahlen. Ihre Grabstätte wird das fruchtbare Feld, aus welchem ein unverletzliches Recht, ein Gesetz der Freiheit emporwächst; unsere Thränen werden ein Strom von Liebe, der allen Glaubenshass forttreibend auf seinen Fluthen das Vaterland in stolzer Sicherheit trägt. So lasset uns denn ein Gesetz machen gleich für Alle, und
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   101   Dokumentiert Gedenkworte für die Märzgefallenen 1848 und 1998  Vorige SeiteNächste Seite
ein Herz bewahren, warm für alles Edle. Entfernen wir jede Einrichtung, die einzelne Schichten der Gesellschaft hintenansetzt, die einzelne Klassen drückt und verwundet, bleiben wir einig, werden wir wahrhaft: so wird das Vaterland bald Festkleider anlegen, den Helden, die es feiert zu Ehren: so müsset auch ihr, Hinterbliebene, getröstet sein, die ihr in uns, in euern Brüdern, die Eurigen wiedergefunden. O so richtet euch empor, und nehmet uns heute schon auf, die wir euch nahen mit Liebesworten, mit Kuss und Thräne! Wir wollen euch Väter, Brüder und Söhne sein und für euch sterben, wie eure Lieben für uns gestorben. Trocknet eure Thränen an den Flammen der Liebe, die wir euch bringen, und versenket eure Trauer unter dem Dankesjubel der befreieten Völker und betet an die göttliche Majestät, welche die Verkünder des Heils unter Schauern zu sich entboten hat.

Zum 150. Jahrestag des Revolutionsauftaktes in Berlin kamen am 18. März 1998 nach einem Gedenkzug vom Tiergarten über Mitte zum Friedrichshain rund tausend Berlinerinnen und Berliner in der Gedenkstätte zur Ehrung der Märzgefallenen im Friedrichshain zusammen. Auf die Begrüßungsrede des Bezirksbürgermeisters Helios Mendiburu folgten die Rede des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin, Herwig Haase, und die Gedenkworte des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Andreas Nachama, vorgetragen von Hermann Simon. Superintendent Lothar Wittkopf, Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg, und Dompropst Otto Riedel, Erzdiözese Berlin, sprachen ein gemeinsames ökumenisches Gebet. Den Abschluß bildeten Gedenkworte des Sprechers der Initiative »18. März«, Volker Schröder, und der gemeinsame Gesang der Kinderhymne von Brecht.

Helios Mendiburu, Ingenieur, Bezirksbürgermeister, geboren 1936 in Madrid, verheiratet, zwei Kinder. Die elterliche Familie wurde 1939 in Frankreich

interniert. Der Vater, ehemaliger spanischer republikanischer Offizier, wurde als Mitglied der Resistance von Deutschen erschossen. Helios Mendiburu kam 1946 nach Thüringen, 1948 in die Stadt Bautzen. Nach dem Abitur nahm er ein Romanistik-Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin auf. Wegen seiner Kritik an der DDR-Regierung und persönlicher Kontakte zur SPD in Westberlin wurde er zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt und mußte das Studium abbrechen. Nach Haftverbüßung nahm Mendiburu in Leipzig ein Fernstudium auf, das er 1966 erfolgreich abschloß. Zunächst arbeitete er bei einer Kundendienstfirma, dann bei der Gasversorgung, seit 1974 in Berlin als Ingenieur. 1989 beteiligte er sich an Flugblatt-Aktionen des »Neuen Forum«. Er schloß sich der neu entstehenden SDP-Organisation seines Wohnbezirkes an. Seit 1990 ist er auf Vorschlag der SPD Bürgermeister im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain.

Herwig E. Haase, Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin, Senator a. D., geboren am 15. Januar 1945 in Hohensalza/Warthegau, verheiratet, zwei Kinder. Nach dem Abitur 1964 Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Freien Universität Berlin, 1969 Abschluß als Dipl.-Volkswirt. Von 1970 bis 1976 als wissenschaftlicher Assistent Leiter einer Forschungsabteilung. 1976 Promotion. Von 1977 bis zur Habilitation 1987 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der FU-Berlin. Seit 1990 Professor an der Europäischen Wirtschaftshochschule Berlin, z. Zt. beurlaubt. Haase wurde 1967 Mitglied der CDU. Seit Januar 1983 ist er Mitglied des Abgeordnetenhauses, von 1991 bis 1995 war er Senator für Verkehr und Betriebe, seit 1995 ist er Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin.

Andreas Nachama, Historiker, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, geboren am 27. No-

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   102   Dokumentiert Gedenkworte für die Märzgefallenen 1848 und 1998  Vorige SeiteNächste Seite
vember 1951 in Berlin. Studium der Geschichtswissenschaften und Judaistik an der Freien Universität Berlin, Promotion 1978. Von 1978 bis 1981 war er wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Neue Geschichte der Ruhr-Universität Bochum. Von 1981 bis 1987 war Nachama bei der Berliner-Festspiel-Gesellschaft tätig, seit 1987 Projektleiter der Ausstellung »Topographie des Terrors«. Nachama war verantwortlich für die Koordination und Öffentlichkeitsarbeit zur 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin. 1992 Leiter der Ausstellung »Jüdische Lebenswelten« in Berlin-Kreuzberg. 1997 erfolgte seine Wahl zum Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Nachama legte mehrere Veröffentlichungen zur Deutsch-Jüdischen Geschichte vor, darunter 1991 »Jüdische Lebenswelten« und 1992 »Aufbau nach dem Untergang. Deutsch-Jüdische Geschichte nach 1945«.

Lothar Wittkopf, Superintendent im Kirchenkreis Berlin-Stadtmitte, geboren am 8. Juni 1945 in Mönchweiler bei Villingen/Schwarzwald, verheiratet, zwei Kinder. Von 1965 bis 1971 absolvierte Wittkopf ein Theologiestudium in Frankfurt am Main und in Münster/Westfalen. 1971 Studienabschluß mit erfolgreicher Theologischer Magisterprüfung. Von 1971 bis 1974 erfolgte Wittkopfs Vikariatsausbildung in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, Berlin-West. Danach war er von 1974 bis 1982 als Gemeindepfarrer in Berlin-Schlachtensee, Kirchenkreis Zehlendorf, tätig. Von 1982 bis 1988 war er Landesjugendpfarrer. Ab 1988 ist Wittkopf als Superintendent für den Kirchenkreis Berlin-Kreuzberg, von 1996/97 an auch für den Kreis Berlin-Friedrichshain zuständig. Seit dem 1. Januar 1998 ist er für den neugegründeten Kirchenkreis Stadtmitte verantwortlich.

Otto Riedel, Dompropst an St. Hedwig zu Berlin, geboren am 3. September 1930 in Berlin. Von 1950 bis 1957 Studium am Collegium Germanicum in

Rom, dort erfolgte 1956 auch die Priesterweihe.
     Von 1957 bis 1963 Kaplan in Wedding und Dahlem. Danach ab 1965 Domvikar und Mitarbeiter im Schulreferat. Von 1968 bis 1974 Ordinariatsrat und Dozent an der Theologisch-Pädagogischen Akademie, Leiter des Katechetischen Amtes. Von 1974 bis 1985 und von 1992 bis 1994 Regent des Berliner Priesterseminars.
     Seit 1984 Hausgeistlicher im Mutterhaus Sancta Maria in Wannsee, im gleichen Jahr wurde Riedel zum Ehrenprälaten ernannt. Die Mitglieder des Domkapitels St. Hedwig wählten ihn 1987 zum Dompropst.

Volker Schröder, Buchhalter, Pressesprecher der Berliner »Aktion 18. März«, geboren am 27. Dezember 1942 in Hamburg, zwei Kinder. Abitur, von 1965 bis 1970 Studium der Betriebswirtschaftslehre in Hamburg und an der Freien Universität Berlin, 1970 Abschluß als Diplomkaufmann.
     Von 1971 bis 1974 Arbeit in einer Versicherungsgesellschaft, von 1974 bis 1981 im Klinikum Steglitz als Buchhalter tätig. Von 1981 bis 1991 war Schröder Finanzverantwortlicher der Organisation »Alternative Liste« bzw. »Bündnis 90/Die Grünen«. Seit 1991 arbeitet er als Leiter der Buchhaltung und Mitgliederverwaltung im »Berliner Mieterverein«. Seit 1978 ist Schröder Organisationsmitglied der »Alternativen Liste« bzw.
     »Bündnis 90/Die Grünen« in Berlin. Er ist Mitbegründer und Pressesprecher der 1978 in Berlin gegründeten Initiative »Aktion 18. März«. Diese tritt für die Bewahrung demokratischer Traditionen und revolutionären Geistes ein. Seit 1979 erfolgen in jedem Jahr, seit 1992 zusammen mit dem Bezirksbürgermeister Mendiburu, von Gedenkworten begleitete Kranzniederlegungen am 18. März im Friedrichshain.

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   103   Dokumentiert Gedenkworte für die Märzgefallenen 1848 und 1998  Vorige SeiteNächste Seite
Helios Mendiburu,
Bezirksbürgermeister Friedrichshain

Ich möchte zunächst alle ganz herzlich begrüßen, die sich heute hier versammelt haben, um sich mit uns gemeinsam an die Ereignisse des 18. März 1848 zu erinnern und der Menschen zu gedenken, die für Freiheit und Demokratie bereit waren, ihr Leben zu opfern. Die Möglichkeit, daß sich Bürger und Bürgerinnen mit einer politischen Motivation zum Jahrestag der Märzrevolution hier zusammenfinden können, war nach 1848 nicht immer selbstverständlich. Der Besuch des Friedhofs zum Jahrestag der Revolution wurde – besonders in den direkten Folgejahren – zum Teil polizeilich verboten, gesperrt, die Besucher wurden kontrolliert und im Jahre 1908, zum 60. Gedenktag, wurden sogar die Gedenkschleifen der mitgebrachten Kränze zensiert.
     Der »Friedhof der Märzgefallenen« hat sich im Laufe der Jahre zu einem Ort des Widerstandes und zu einem Ort der Reflexion über die jeweils aktuelle gesellschaftliche Situation entwickelt.
     Die Revolution von 1848 war nicht siegreich, und doch hat sie die Berliner und die deutsche Welt verändert. Viel ist in den letzten Wochen und Monaten über das Vermächtnis und die langfristigen Errungenschaften der Märzrevolution gesprochen und geschrieben worden. Ich möchte mich deshalb heute auf einen Aspekt beschränken, der mir ganz wesentlich erscheint: Die Revolutionäre vor 150 Jahren hatten eine Vision, sie glaubten an die Demokratie als Friedensmacht für ganz Europa. Ich glaube, daß dieser Punkt gut geeignet ist, zur heutigen gesellschaftlichen Situation überzuleiten. Der Unmut über die politische und gesellschaftliche Situation wurde 1848 von den Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung deutlich an die Adresse der Herrschenden artikuliert und auf die Straße getragen. Wie ist die Situation heute?
     Unmut gibt es genug. Auch unsere Gesellschaft

befindet sich in einer Umbruchsituation, und zwar von einer Industriegesellschaft hin zu einer Dienstleistungs- und Kommunikationsgesellschaft. Das Aufkommen der Industrialisierung hatte damals eine Verelendung der Menschen zur Folge, der Abschied von der Industriegesellschaft verursacht nun ebenfalls Elend durch horrende Arbeitslosenzahlen. Das soziale Gefüge ist auch heute wieder deutlich aus dem Gleichgewicht geraten – die Schere zwischen denjenigen, die von dieser Entwicklung profitieren und dem Heer von z. Zt. 4,8 Millionen Arbeitslosen wird immer größer.
     Heute ist in weiten Teilen – auch der direkt betroffenen Bevölkerung – eine große Apathie zu beobachten. Es findet kaum ein deutliches Formulieren und Durchsetzen von Forderungen statt, es gibt kaum direkte Appelle an die Mächtigen. Uns allen bekannte Schlagworte in diesem Zusammenhang sind »Politikmüdigkeit« und »Politikverdrossenheit«. Statt dessen kommt es leider immer häufiger zu einem dumpfen Aufbegehren gegen vermeintliche Verursacher. Gerade wir als Politiker müssen uns also fragen, was wir verändern müssen, damit die Bürger sich aktiv in politische und gesellschaftliche Prozesse einmischen, statt auf vermeintlich Schuldige einzuprügeln. Warum entwickelt sich keine revolutionäre Stimmung bei 4,8 Millionen Arbeitslosen und einer steigenden Zahl von Millionären?
     Die Politik muß sich darüber im klaren sein, daß Zukunftsentwürfe nur wirksam werden, wenn Millionen selbstbewußter Bürgerinnen und Bürger ihre Hoffnungen darin wiedererkennen. Nur dann kann sich Politik aus dem Vollzug von Sachzwängen befreien, nur dann kann sie bewegen, was bewegt werden muß, und lebenswichtige Reformen durchsetzen.
     Viele Bürgerinnen und Bürger setzen gerade in Zeiten von Umbrüchen Hoffnungen und Erwartungen in die Politik. Sie machen aber auch die Erfahrung, daß bei wachsendem Problemdruck die
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   104   Dokumentiert Gedenkworte für die Märzgefallenen 1848 und 1998  Vorige SeiteNächste Seite
Regelungsfähigkeit der Politik schwindet. Immer mehr Menschen mißtrauen der Kompetenz der Politiker, und gesamtgesellschaftliches Engagement des einzelnen weicht immer mehr einem Rückzug ins Private. Das Verhältnis von Staat, Markt und Bürgergesellschaft muß in unserer Gesellschaft neu durchdacht werden. Wir müssen mit den Bürgerinnen und Bürgern über einen neuen gesellschaftlichen Konsens in einen engen Dialog treten. Denn wir brauchen einen neuen Konsens:
–      in einer Gesellschaft, der die Erwerbsarbeit zunehmend ausgeht,
–      in einer Gesellschaft, in deren Zukunft soziale Anerkennung nicht mehr allein von Erwerbsarbeit abhängen darf,
–      in einer Gesellschaft, deren soziale Sicherungssysteme nicht mehr allein durch Erwerbsarbeit finanziert werden können,
–      in einer Gesellschaft, die lebenslanges Lernen als Notwendigkeit, nicht als Luxus verstehen muß.
     Dieser Konsens kann aber nur erreicht werden, wenn die Politik glaubhaft vermittelt, daß sie diese Ziele wirklich verfolgt und nicht nur im Wahlkampf propagiert, um recht viele Stimmen zu erhalten, und sich dann aus der Verantwortung herauswindet. Lassen Sie uns alle an revolutionäre Traditionen anknüpfen und dazu beitragen, daß unsere Demokratie sich zum Wohle der Menschen entwickelt. Wir dürfen das Feld nicht den rechten und linken Extremisten überlassen, dazu hat die Demokratie in Deutschland zu viele Opfer gekostet.

Herwig Haase,
Präsident des Abgeordnetenhauses

150 Jahre nach dem historischen 18. März 1848 erinnern wir heute gemeinsam an jene mutigen Frauen und Männer, die den Ruf nach Einheit und Freiheit mit ihrem Leben bezahlt haben. Wir gedenken des Tages, an dem Berlin eines der Zentren der deutschen und europäischen Revolution war:

Von Paris bis Budapest, von Berlin bis Wien war der revolutionäre Funke übergesprungen. Viele schauten auf Berlin: mit Hoffnung, Mut und Zuversicht. Auch heute schaut Europa auf Berlin, auf die Entwicklung der inneren Einheit in unserer Bürgerschaft.
     Damals wurde – nicht nur in den Tagen des März – der Ruf nach Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit, der Ruf nach einer Verfassung, nach einer Volksvertretung auch in Preußens Hauptstadt laut. Die leidenschaftlichen Diskussionen um politische und soziale Reformen einten zum erstenmal ganz unterschiedliche Schichten der Stadt. Insofern war dieses Ereignis nicht nur eine Bürgerbewegung, sondern ein Aufstand des ganzen Volkes. Als es galt, diese Forderungen der Bevölkerung gegenüber dem König zu vertreten, war nur die Stadtverordnetenversammlung dazu bereit. Es waren Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung, die in das königliche Schloß aufbrachen, um dem Monarchen die Forderungen zu überbringen. Die Magistratsmitglieder schlossen sich erst später der Abordnung an. Die Stadtverordnetenversammlung nahm so zum richtigen Zeitpunkt die richtige Position ein: Sie sprach im Namen von selbstbewußten Bürgern, im Namen von Menschen, die sich nicht länger bevormunden lassen wollten. Sie sprach für all diejenigen, die die Menschen und Bürgerrechte, wie sie die Französische Revolution am 26. August 1789 verkündet hatte, auch in Preußen verwirklicht sehen wollten.
     Meine Damen und Herren, für uns heute verbindet sich mit dem Jahrestag des 18. März 1848 die Frage, an welche Traditionen wir anknüpfen wollen. Wir wissen alle: Gerade der Gedenktag des 18. März 1848 zeigt beispielhaft auf, wie verschieden in Ansatz und Wertung historische Ereignisse von unterschiedlichen Gesellschaften – im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und bis in die heutige Zeit – wahrgenommen werden.
     In unserer Stadt hat die Erinnerung an die März-
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   105   Dokumentiert Gedenkworte für die Märzgefallenen 1848 und 1998  Vorige SeiteNächste Seite
gefallenen eine unterschiedliche, auch durch die Teilung geprägte Geschichte. Der Friedhof der Märzgefallenen, auf dem wir uns heute eingefunden haben, um gemeinsam der Opfer der Revolution von 1848 zu gedenken, ist der Ort, an dem sich die gegenläufigen Erinnerungstraditionen fast mit Händen greifen lassen. Heute, 1998, Jahre nach dem glücklichen Fall der Mauer, ist es an der Zeit, diese nebeneinander existierenden Traditionslinien wieder zu einer einzigen, starken zu vereinen. Einer Tradition des Gedenkens an jene, die eben nicht nur in Berlin, in Preußen für Einheit und Freiheit kämpften und starben, sondern ebenso und gleichzeitig in ganz Europa für ihre bürgerlichen und sozialen Rechte eintraten.
     Und so können wir heute, anläßlich der 150. Wiederkehr jener denkwürdigen Tage, meines Erachtens mit Stolz auf die im März 1848 Gefallenen schauen und sagen, daß wir die Verbindungslinie von damals zum Europa von morgen weiterziehen werden. Mit dem Gedenken an jene mutigen Menschen von 1848 können wir dazu beitragen, daß es auch zukünftig mutige Bürger geben wird, die sich für Freiheit und Demokratie einsetzen. Dafür braucht Berlin selbstbewußte Bürgerinnen und Bürger, die bereit sind, sich in der Gemeinschaft und für die Bürgerschaft einzusetzen.
     Otto Suhr, Stadtverordnetenvorsteher von 1946 bis 1951, anschließend Präsident des Abgeordnetenhauses, später Regierender Bürgermeister von Berlin, bezeichnete den 18. März 1848 als »Geburtstag des demokratischen Parlamentarismus, der mit der Paulskirche, der Preußischen Nationalversammlung und auch den Tagungen der Berliner Stadtverordnetenversammlung und – im Zusammenhang damit – mit der Bildung der Parteien seinen Anfang in Deutschland genommen hat«.
     Meine Damen und Herren, Otto Suhr hat zu Recht auf die Linie hingewiesen, die – trotz der Rückschläge und grausamsten Fehlentwicklungen der Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert – von der
Märzrevolution von 1848 zu dem freiheitlichen und demokratischen Staat führt, in dem wir heute leben. Das ist Tradition, an die wir mit dem Gedenktag des 18. März anknüpfen. Die Ideale, für die die Menschen damals, 1848, und vor wenigen Jahren, 1989, auf die Straße gingen, sind gleich geblieben. Sie sind auch heute unabdingbare Grundlage unseres Zusammenlebens. In diesem zukunftsorientierten Sinn erinnern wir uns heute an den 18. März 1848 als eines großen Tages deutscher Geschichte. Mit Dankbarkeit und Hochachtung gedenken wir deshalb jener, die damals Wegbereiter waren für Einigkeit und Recht und Freiheit: »Danach laßt uns alle streben, brüderlich, mit Herz und Hand.«

Andreas Nachama, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde

An diesem Ort hielt vor genau 150 Jahren der Rabbiner der Jüdischen Gemeinde, Michael Sachs, eine Rede für die jüdischen Märzgefallenen, von der ein zeitgenössischer Journalist schrieb, daß sie »mit mächtigen Flammenzügen in die Herzen schnitt«. Bis heute genießt Rabbiner Sachs hohes Ansehen in der Jüdischen Gemeinde. Er war derjenige, der im 19. Jahrhundert die gesamte jüdische Liturgie ins Deutsche übersetzt hatte. Bis zum heutigen Tag ist es Tradition in unserer liberalen Synagoge in der Pestalozzistraße, daß die Jungen und Mädchen zu ihrer Bar oder Bat Mizwa ein Gebetbuch von Rabbiner Sachs geschenkt bekommen.
     Sachs war einer der ganz großen Verfechter der politischen Emanzipation der Juden in Preußen, auch ihn hatte die Revolution von 1848 mitgerissen. Erstmals in der Geschichte kämpften jüdische Bürger Berlins Seite an Seite mit nichtjüdischen Berlinern für demokratische Grundrechte und eine Verfassung. Diese Grundrechte sind Bestandteil der Verfassung der ersten Republik, der sogenannten

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   106   Dokumentiert Gedenkworte für die Märzgefallenen 1848 und 1998  Vorige SeiteNächste Seite
Weimarer Republik, geworden und auch noch heute Bestandteil unseres Grundgesetzes.
     Nicht wenige der jüdischen Freiheitskämpfer ließen in den Barrikadenkämpfen ihr Leben. Mindestens 16 von ihnen sind hier bestattet, weitere, die nach den Kämpfen im Krankenhaus ihren Verletzungen erlagen, wurden auf dem Jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee begraben.
     Es war von großer Bedeutung, daß damals sowohl ein protestantischer und ein katholischer Geistlicher als auch ein jüdischer Rabbiner gleichberechtigt vor den Särgen die Trauerreden hielten. Es ist mir ein Anliegen, heute den Anfang der Rede von Rabbiner Sachs zu zitieren, der in fast allen Büchern zur Geschichte des deutschen Judentums steht:
     »Im Namen jenes uralten Bekenntnisses, das als lebendiger Zeuge der Weltgeschichte und Weltgeschicke seit Jahrtausenden dasteht, im Namen jener alten Gotteslehre, die der Menschheit ihren Gott gebracht, die sie gelehrt in den Stürmen und Wogen der Ereignisse die leitende und waltende ewige Vorsehung zu schauen, die sie angeleitet, das Wehen des Gottesodems in dem Leben der Völker zu erkennen, die durch den begeisterten Mund ihrer Herolde, die Propheten, für Wahrheit und Recht das Wort genommen, im Namen jenes alten, ewigen Bundes, der den Gedanken der Brüderlichkeit, liebender Teilnahme des Menschen am Menschen in ihrem Kreise zuerst begründet und gepflanzt, nehme auch ich aus tiefbewegter Brust, aus ergriffener voller Seele das Wort in diesem erhabenen weihevollen Momente.«
     Mit patriotischem Pathos sagte Rabbiner Sachs, daß die Juden nun »Deutsch« denken und fühlen müßten, daß sie einem allen gemeinsamen, deutschen »Vaterland« verpflichtet seien. Die Barrikadenkämpfer seien für die »Macht einer Idee« gestorben, die alle Dämme und Scheidewände niedergerissen habe, »welche sonst den Menschen von sich selbst, den Menschen vom Menschen
scheiden«. Er sprach von der »hohen Selbstverleugnung der für die Freiheit Verbluteten« und von der »Allmacht Gottes, die in kurzen Minuten ganze Völker neu geboren habe«.
     Mit der Berliner Märzrevolution schien die Emanzipation, die Gleichberechtigung der Juden endgültig vollzogen zu sein. Ein damaliger Barrikadenkämpfer stellte fest: »Von Jud oder Christ ist gottlob nicht mehr die Rede.« Ein anderer schrieb, der 18. März sei ein »Freudentag für die Israeliten« gewesen – »ein Tag von Befreiung der Unterdrückten«.
     Der Anteil von Berliner Juden an den Barrikadenkämpfen und ihre Identifikation mit der revolutionären Bewegung war überdurchnittlich stark.
     Johann Jacoby, der Abgeordnete der Preußischen Nationalversammlung wurde, schrieb: »Je schwerer gerade mich die Ketten drücken, desto inniger muß ich die Freiheit für alle wünschen.« Doch viele der Repräsentanten der demokratischen Bewegung gingen nach dem Scheitern der Revolution in die Emigration – unter ihnen Heinrich Heine, Karl Marx, um nur die Bekanntesten zu nennen.
     Heute, im 53. Jahr nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus und dem Wissen um sechs Millionen ermordeter Juden in Europa – allein 55 000 ermordeter Berliner Juden – erscheint die einstige Begeisterung fast unverständlich. Unverständlich ist aber auch, daß es, wie Ihnen vielleicht aufgefallen ist, bis heute in ganz Berlin kein Denkmal der März-Revolution gibt. Wir befinden uns im Jahr, in dem voraussichtlich die Entscheidung zum Holocaust-Mahnmal fallen wird. Täglich lesen wir in der Presse neue Stellungnahmen dazu. Ich denke, daß es dieser Republik guttäte, ebenso wie sie der Menschen, die in deutschem Namen ermordet worden sind, gedenken soll, ein Denkmal zu schaffen, das diesen ersten, wenn auch gescheiterten Aufbruch würdigt, der zu Grundrechten und Demokratie führte.
     Lassen Sie mich zu Abschluß das »Gebet für das
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   107   Dokumentiert Gedenkworte für die Märzgefallenen 1848 und 1998  Vorige SeiteNächste Seite
Wohl des Vaterlandes«, das Juden an jedem Schabbat lesen, zitieren – in der Übersetzung – in der Deutung – von Rabbiner Michael Sachs:
     »Der allmächtige Gott, der Abraham, Isaak und Jacob gesegnet hat, verleihe seinen Segen allen, die heute hier erschienen sind, um sein göttlich Wort zu vernehmen. Er segne unsere Gemeinde, ihre Häupter, Führer und Lehrer; er segne unsere Jugend, er segne Israel an allen seinen Wohnstätten.
     Er verleihe seinen Segen unserem Vaterlande, daß Eintracht und Friede seine Bürger einige, Licht und Wissenschaft seine Bewohner erleuchte, Tugend und Gotteserkenntnis die innere Lebenskraft im Volke sei.«

Superintendent Lothar Wittkopf,
Dompropst Otto Riedel

Ökumenisches Gebet
zum Gedenken an die Märzgefallenen von 1848
am 18. März 1998 in Berlin

     Der Psalmist betet im 23. Psalm
     Der Herr ist mein Hirte,
     nichts wird mir fehlen ...
     Muß ich auch wandern in finsterer Schlucht,
     ich fürchte kein Unheil;
     denn du bist bei mir,
     dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht.

Wenn Menschen zu den Gräbern Gefallener gehen, um sich an deren Schicksal, Leiden und Sterben zu erinnern, so zeigt dies, daß das Gedenken auch für die Gegenwart bedeutsam ist. Etwa 10 000 Menschen wollten am 18. März 1848 bei einer Kundgebung und durch eine Proklamation ihrer Sehnsucht nach mehr Freiheit, Gleichberechtigung und nach Einheit der deutschen Volksgemeinschaft zum Ausdruck bringen. Als vor dem Berliner Schloß Schüsse fielen und Barrikadenkämpfe das Vorrücken des Militärs nicht aufhalten konnten,

fielen an einem Tag – in 14 Stunden – mehr als 200 Menschen aller Schichten.
     Nachdenkliches hat sich dann ereignet: Die Särge der Namenlosen, die damals im Namen von Demokratie und Gerechtigkeit, Freiheit und Einheit starben, wurden vor dem Deutschen Dom auf dem Gendarmenmarkt aufgestellt, und es wurde ein Totengedenken von einem evangelischen und einem katholischen Geistlichen sowie von einem Rabbiner gehalten. Der Kaplan von St. Hedwig sprach vor 150 Jahren folgende Worte:
     »Trauer, daß so viele Opfer dasselbe Grab umfassen muß, Freude, daß es ein einziges Grab ist, das alle Opfer einschließt.
     Wird dieses eine Grab das Zeichen der Vereinigung für alle; wird diese Einheit aus diesem einen Grabe heraus gepredigt werden für immer an unser gesamtes liebes deutsches Vaterland; ist dieses eine Grab der Durchgang zur Auferstehung für uns alle; dann seid gegrüßt, die ihr hier als Leichen um mich stehet.«
     Wer hätte gedacht, daß 100 Jahre danach beim Gedenken der Märzgefallenen in unserer Stadt am 18. März 1948 der Anfang einer erneuten Teilung sich andeutete. Darum ist der heutige Gedenkzug in dem einen Berlin auch ein dankbares Erinnern, das ein Bittgebet einschließen soll.
     Fürbitten und Segen
     Gnädiger Gott, du kennst die Sehnsucht der Menschen, du nimmst dich der Toten an, stiftest Frieden und Versöhnung, höre auf unser Bitten:
–      Erbarme dich der Verstorbenen, die durch Krieg und Terror, Katastrophen und Unglücksfälle, Verblendung und Leichtsinn aus dem Leben gerissen wurden.
–      Gib den Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft Einsicht und Mut, das zu tun, was der Gerechtigkeit, der Einheit und dem Frieden dient.
–      Laß die Leidenden, die Vergessenen und die Arbeitslosen in unserer Stadt Menschen finden, die Verständnis für sie haben und ihnen beistehen.
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   108   Dokumentiert Gedenkworte für die Märzgefallenen 1848 und 1998  Vorige SeiteNächste Seite
–      Führe Gewalttäter, Unbelehrbare und Verzweifelte auf den Weg der Besonnenheit und laß sie erkennen, was ihrem Leben und dem Leben der anderen dient.
–      Bestärke alle, die sich für das Wohl des einzelnen und der Gesellschaft einsetzen, und laß sie Nachahmer finden.
     Beim Gedenken an die Märzgefallenen sollen die Bitten nicht vergessen sein, die Jesus Christus im Gebet des »Vater unser« uns anvertraut hat:
     Vater unser im Himmel,
     geheiligt werde dein Name.
     Dein Reich komme.
     Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.
     Unser tägliches Brot gib uns heute.
     Und vergib uns unsere Schuld,
     wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
     Und führe uns nicht in Versuchung,
     sondern erlöse uns von dem Bösen.
     Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

      Segen
      Der Segen des allmächtigen und barmherzigen Gottes,
     des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes,
      komme herab auf alle Verstorbenen und alle Lebenden. Amen.

Volker Schröder, Initiative »18. März«

Ferdinand Freiligrath sagt in seinem Gedicht »Trotz alledem«, in der Fassung von 1848: »Es kommt dazu, trotz alledem, daß rings der Mensch die Bruderhand dem Menschen reicht«, deshalb möchte ich Sie nicht ansprechen mit »Sehr verehrte Damen und Herren«, sondern sagen: »Liebe Brüder und Schwestern!«
     Als wir 1978 mit der »Aktion 18. März« an die Öffentlichkeit traten, mit dem Vorschlag, einen ge-

meinsamen Feiertag in beiden deutschen Staaten zu begehen, da wurden wir belächelt und verlacht, und man hat den Kopf geschüttelt. In der »Zeit« schrieb aber ein Journalist: »Verachtet mir die Dichter und die Träumer nicht!« – Und ich bin ein wenig stolz, wenn ich sehe, wie viele hier jetzt sind und mit uns gemeinsam den 18. März feiern.
     Leider ist der 18. März ja nicht Nationalfeiertag in dem vereinten Deutschland geworden. Aber jetzt, zum 150. Jahrestag, bot sich die Möglichkeit für uns, noch einmal ein Zeichen zu setzen. Wir haben versucht, an dem bekanntesten Bauwerk Deutschlands, am Brandenburger Tor, einen Platznamen zu etablieren, der für Freiheit und Gleichheit, für Völkerfreundschaft steht.
     Ich möchte an dieser Stelle ganz herzlich dem Bezirksverordneten aus Mitte, Volker Hobrack, danken. Er hat, über alle Parteigrenzen hinweg, die Fraktionsvorsitzenden für einen gemeinsamen Antrag gewonnen, und von CDU bis PDS ist ohne Gegenstimmen im Bezirk Mitte beschlossen worden, daß der Platz vor dem Brandenburger Tor umbenannt werden soll in »Platz des 18. März 1848«. Es wurde vorhin gesagt, daß nicht nur ein Denkmal für die ermordeten Juden sondern – das hat mich sehr gefreut, daß die Jüdische Gemeinde sagt, es muß auch ein Denkmal für die Märzgefallenen geschaffen werden. Ich glaube, der Platz vor dem Brandenburger Tor als Platz des 18. März wäre das schönste Denkmal für die Märzgefallenen.
     Nun wird ja durch Wünschen nichts bewegt, es müssen politische Beschlüsse herbei. Und da der Dank an die drei Bezirksbürgermeister: Tiergarten, Jörn Jensen; Mitte, Joachim Zeller, und Friedrichshain, Helios Mendiburu, die unseren Vorschlag unterstützt haben. Aber in dieser Situation, wo auch der Ministerpräsident von Baden-Württemberg (CDU), Teufel, fünf Millionen Mark für die Märzrevolution, für die Erinnerung an die Badische Revolution zur Verfügung stellt, hat dieser Senat nichts
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   109   Dokumentiert Gedenkworte für die Märzgefallenen 1848 und 1998  Vorige SeiteAnfang
Besseres zu tun, als dem Bezirk das Verfahren zu entziehen. Und daß – da spreche ich Sie jetzt an, Herr Haase, es tut mir leid, Sie sind der Präsident des Abgeordnetenhauses – auch das Abgeordnetenhaus nicht diesen Platz vor dem Brandenburger Tor als »Platz des 18. März« sanktioniert hat, ist traurig. – Ich möchte dazu nur sagen: Noch sind nicht alle Märzen vorbei! Und in einer revolutionären Aktion haben ja heute die Bürgermeister Jensen und Zeller einen »Platz des 18. März« geschaffen. Ich hoffe, daß diese symbolische Umbenennung erhalten bleibt.
     Das Motto unserer Aktion, das auch auf allen Gedenktafeln steht – und hier noch mal einen Dank an Manfred Butzmann, der diese Gedenktafeln organisiert hat, und an Volker Hobrack von der Gedenktafelkommission – auf jeder Gedenktafel steht einheitlich in der Kopfzeile: »Für demokratische Tradition und revolutionären Geist.« – Mich hat immer sehr bewegt, was Karl Marx einmal gesagt hat: »Unter Revolution verstehe ich die Bewegung aller Herzen und die Erhebung aller Hände im Namen der Ehre des Menschen.«
     Für mich ist diese Gesellschaft, wie sie heute existiert, nicht der Weisheit letzter Schluß. Und ich denke, wir sollen nicht selbstgefällig sagen: Wir haben alles erreicht, wofür die Märzgefallenen ihr Leben gelassen haben, sondern es soll uns Ansporn sein, um nach neuen Wegen zu suchen. Tucholsky sagte einmal: nach der »braunen Pest« und nach der »roten Pest«, da wird es erst richtig schlimm, da geht der Kampf eines Jeden gegen Jeden los.
     Und ich fürchte, wir sind in einer solchen Phase. Wenn ich mir die Gesellschaft anschaue: die Aktien steigen und gleichzeitig die Zahlen der Arbeitslosen. Irgend etwas stimmt hier nicht. Und ich denke, der revolutionäre Geist ist zu gebrauchen, um nach neuen Lösungen und nach neuen Wegen zu suchen.
     Wir als »Aktion 18. März« haben die Kinderhymne von Bertolt Brecht als Markenzeichen gewählt.
     Viele erinnern sich vielleicht noch an den verhüll-
ten Reichstag, und einige haben gesehen, daß die Kinderhymne von Bertolt Brecht dort an eine Giebelwand gemalt war. Damit wollten wir auch ein Zeichen setzen für das andere Deutschland. Und ich möchte schließen mit der ersten Strophe der Kinderhymne:
     »Anmut sparet nicht noch Mühe,
     Leidenschaft nicht noch Verstand,
     daß ein gutes Deutschland blühe,
     wie ein andres gutes Land.«
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