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nisse nicht abschrecken läßt, die unübersteiglich scheinen ... Es ist gewiß merkwürdig, wie das geistige Bedürfnis bis zu dem Grade steigen kann, daß Not und Mangel und das äußerste Elend, welches der Körper erdulden kann, erträglich wird, wenn nur jenes Bedürfnis nicht unbefriedigt bleibt.«
     Die Familie des Militärmusikers und späteren Schreibers Johann Gottlieb Moritz (1724–1788) zog von Hameln an der Weser, wo Karl Philipp am 15. September 1756 geboren wurde, nach Hannover. Hier besuchte Karl zwischen 1771 und 1776 mit Unterstützung einiger Gönner das Gymnasium, nachdem eine Hutmacherlehre in Braunschweig mit einer Katastrophe geendet hatte: Im Frühjahr 1770 unternahm der 14jährige einen Selbstmordversuch.
     Die erste Liebe des Heranwachsenden gehörte der Literatur. Er las die zeitgenössische Aufklärungsliteratur und war vor allem von Goethes »Leiden des jungen Werther« begeistert. Danach entflammte seine Leidenschaft für die Schauspielerei. 1776 schloß er sich der Wanderbühne von Conrad Ekhof (1720–1778) an, um selbst einmal auf der Bühne zu stehen.
     Als dies fehlschlug, wandte er sich ernsthafteren Dingen zu. Prediger oder Lehrer waren nun die erklärten Ziele. Noch 1776 begann er in Erfurt ein Theologiestudium, das er zwischen 1777 und 1778 in Wittenberg fortsetzte. Nach einem kurzen, vor allem durch Krankheit geprägten Aufenthalt an
Eberhard Fromm
»Widerspruch von
innen und von außen«

Karl Philipp Moritz

Als Johann Wolfgang von Goethe 1786 in Rom mit Karl Philipp Moritz zusammentraf, entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung, die über den frühen Tod des Berliner Gelehrten und Schriftstellers hinausreichte. Goethe und Schiller verteidigten den verstorbenen Moritz gegen böswillige Angriffe in einem Nekrolog. In Rom notierte Goethe zu Moritz, er sei »von derselbe Art, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin«.
     Daß die ärmlichen Verhältnisse, aus denen Moritz stammte, nicht nur seinen Bildungsweg, sondern eigentlich sein ganzes Leben bestimmten, dazu findet man immer wieder eigene Aussagen und Belege. Als er gegen Ende seines Lebens zur »Lebensgeschichte des Salomon Maimon«, die seiner eigenen sehr ähnlich ist, eine Einleitung schrieb, machte er darauf aufmerksam, »wie die Denkkraft, auch unter den drückendsten Umständen, sich in einem menschlichen Geiste entwickeln kann, und wie der echte Trieb nach Wissenschaft sich durch Hinder-

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Johann Bernhard Basedows (1723–1790) Schule, dem 1774 eröffneten Philanthropinum in Dessau, kam Moritz über Potsdam nach Berlin. Im November 1778 erhielt er hier durch Vermittlung von Wilhelm Abraham Teller (1734–1804) eine Anstellung als 2. Lehrer an der unteren Schule (Stadtschule) des von Anton Friedrich Büsching (1724–1793) geführten Gymnasiums zum Grauen Kloster.
     In den nun folgenden Berliner Jahren entwickelte sich Karl Moritz zu einem äußerst produktiven Schreiber, der sich am Anfang vor allem pädagogischen und moralphilosophischen, dann aber auch stärker ästhetischen Problemen zuwandte. 1779 wurde er Konrektor, trat in eine Freimaurer-Loge ein und kam in Kontakt mit den Repräsentanten der Berliner Aufklärung, so mit Moses Mendelssohn (1728–1786), Friedrich Gedicke (1754–1803), Johann Erich Biester (1749–1816) und Marcus Herz (1747–1803). Der 1784 zum Gymnasialprofessor beförderte Moritz versuchte sich auch ein Jahr lang (1784/85) als Redakteur der »Vossischen Zeitung«, bevor er sich entschloß, ganz als freischaffender Schriftsteller

zu leben. Moritz sah sich selbst als einen reisebessenen Menschen. Nicht zufällig nannte er den Helden seines autobiographischen Romans Anton Reiser. Von Mai bis August 1782 unternahm er einen Ausflug nach England, den er in den »Reisen eines Deutschen in England im Jahre 1782« beschrieb. Die Bilder zu dem erfolgreichen Buch kamen von dem Berliner Kupferstecher Daniel Chodowiecki (1726–1801). Im Sommer 1785 unternahm er mit seinem Freund Karl Friedrich Klischnig – der 1794 einen biographischen Bericht über die zehn letzten Lebensjahre unter dem Titel »Mein Freund Anton Reiser. Aus dem Leben des Karl Philipp Moritz« herausgab – eine Wanderung durch Deutschland. Und von August 1786 bis zum Dezember 1788 hielt Moritz sich in Italien auf, wovon er in der dreiteiligen Beschreibung »Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788« erzählte. Problematisch waren für Moritz in diesen Jahren in Italien immer wieder seine äußeren Existenzbedingungen: Nicht selten lebte er von Spenden seiner Berliner Freunde oder Vorschüssen seines Verlegers. In Italien entstand auch jene

Karl Philipp Moritz
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freundschaftliche Beziehung zu Goethe, die ihn von Italien aus direkt nach Weimar reisen ließ, wo er sich einige Wochen bei Goethe aufhielt. Goethe und der Weimaraner Hof hatten wohl auch Einfluß darauf genommen, daß Moritz 1789 bei seiner Rückkehr nach Berlin an der Akademie der Künste eine Professur für die Theorien der schönen Künste erhielt. 1791 wurde er als Mitglied in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Im gleichen Jahr erhielt er auch eine Stellung als Professor für deutschen Stil an der neugegründeten Artillerie-Schule. Schließlich wurde ihm sogar der Hofrat-Titel verliehen.
     In diesen letzten Berliner Jahren lebte Moritz meist zurückgezogen in einem Gartenhaus und arbeitete mit hoher Intensität an verschiedenen Publikationen. »Nur wenige Menschen besuchten ihn hier, und er sah es auch äußerst ungern, wenn er durch einen bloßen Komplimentenbesuch in seinen Arbeiten gestört wurde«, erinnert sich sein Freund Klischnig, der ihn als einziger – gemeinsam mit Salomon Maimon (1754–1800) – besuchte. »Er lag dann halbnackt auf dem Sofa ausgestreckt, der bei Tage sein Stuhl, des Nachts ein Bette war, oder saß in einem Pelz gehüllt am glühenden Ofen.« Seine schwere Krankheit – er litt an Tuberkulose – bereitete ihm immer größere Probleme. 1792 unternahm er einen letzten Versuch, in ein bürgerliches Leben zurückzukehren: Er heiratete Christiane
Friederike Matzdorff, trennte sich im gleichen Jahr wieder, um diese Verbindung 1793 erneut einzugehen. Am 26. Juni 1793 starb Karl Philipp Moritz in Berlin.
     Betrachtet man das reiche Werk, das Moritz hinterlassen hat, und hält dagegen die kurzen 37 Lebensjahre, so kann man nur voller Hochachtung auf diese Schaffenskraft blicken. Mehr als fünfzig Bücher hat er veröffentlicht, war an der Herausgabe mehrerer Zeitschriften beteiligt, hat sich auf den unterschiedlichsten Gebieten – von der Publizistik bis zur Poesie, von der Psychologie bis zur Belletristik – betätigt und nahm aktiv an den geistigen Auseinandersetzungen seiner Zeit teil. Er war ein Goethe-Anhänger und doch auch ein Stichwortgeber für die frühen Berliner Romantiker; er wirkte wie ein Repräsentant des Sturm und Drangs und gehörte doch auch zu den Berliner Aufklärern.
     Vor allem mit seinen ästhetischen Arbeiten beeinflußte Moritz in unterschiedlicher Weise solche Berliner Zeitgenossen wie Alexander von Humboldt (1769–1859), Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773–1798) und Ludwig Tieck (1773–1853). Den Philosophen Salomon Maimon, dessen Schicksal dem seinen so sehr gleicht, unterstützte er besonders aktiv: Er veröffentlichte Teile der Lebensgeschichte in seinem »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde« unter dem Titel »Ben Josuas Lebensgeschichte« und schrieb auch eine Einführung in die 1792 erschienene Autobiographie Salomon Maimons. Auch
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die Herausgabe von Arbeiten des bis dahin wenig bekannten Jean Paul (1763–1825) unterstützte er nachdrücklich.
     Bis in die Gegenwart bekannt geblieben sind vor allem zwei Bücher des Schriftstellers Moritz: sein autobiographischer Roman »Anton Reiser«, der zwischen 1785 und 1790 in vier Teilen erschien, und die 1791 entstandene Sammlung zur Mythologie »Götterlehre«.
     »Anton Reiser« gilt als erster psychologischer Roman in Deutschland. Er ist also mehr als eine Autobiographie, mehr als ein bloßer Bildungsroman: Er ist der Versuch, an einem individuellen Beispiel die vielfältigen Wechselbeziehungen im Leben des Menschen zu erfassen und zu deuten. »Widerspruch von außen und von innen war bis dahin sein ganzes Leben«, heißt es in der Eröffnung des vierten Teils des Romans und kennzeichnet treffend das Anliegen des Autors.
     Die weiteren Versuche von Moritz, sich mit Romanen zu seiner Zeit zu äußern, sind weitestgehend in Vergessenheit geraten: »Andreas Hartknopf« (1785) mit dem vorangestellten Satz »Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig« und »Die neue Cecilia« (1794 posthum erschienen), das Fragment eines Briefromans nach dem Vorbild des Goetheschen »Werther«.
     Die »Götterlehre« bezieht ihre Popularität vor allem aus dem Gegenstand, einer Sammlung alter Völkersagen, mythologischen Dichtungen also, die Moritz als »Sprache
der Phantasie« versteht, die eine ganz eigene Welt bilden.
     Aus der Vielfalt der von Moritz behandelten Probleme ragen insbesondere drei Komplexe heraus: Erstens sind es seine Bemühungen, sich dem Menschen als Individuum auf dem noch wenig beschrittenen Weg der psychologischen Untersuchung und Ausdeutung zu nähern. Davon zeugt vor allem die von ihm betreute erste deutsche psychologische Zeitschrift »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde«, die in zehn Bänden zwischen 1783 und 1793 erschien. Das Anliegen des »Magazins« beschrieb er eindeutig: »Und was ist dem Menschen wichtiger als der Mensch? Diesem vortrefflichen Studium will ich daher meine Zeit und meine Kräfte widmen, und in Rücksicht auf dasselbe will ich studieren, lesen, beobachten, denken und leben.«
     Zweitens sind es seine Arbeiten zu ästhetischen Fragen, mit denen er nachhaltigen Eindruck machte. Arbeiten wie »Über die bildende Nachahmung des Schönen« (1788), »Die Signatur des Schönen« (1788), »Grundlinien zu einer künftigen Theorie der schönen Künste« (1789) und andere bereiteten Grundlagen einer Ästhetik vor, die für die deutsche Klassik eine besondere Bedeutung gewannen.
     Drittens schließlich sind es die aufklärerischen Ansichten, die auf seine Zeit wirkten und die eigentlich eine aktuelle Aufarbeitung verdienen. Nicht nur, daß er seine eige-
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ne Auffassung von Aufklärung besitzt, er führt in den Disput um den Inhalt der aufklärerischen Arbeit auch Ideen und Forderungen ein, die man durchaus als demokratisches Anliegen bestimmen kann. Schon in seiner Reisebeschreibung aus England hatte er darauf verwiesen, wie dort ein jeder zu erkennen gäbe, »daß er auch ein Mensch und ein Engländer sei, so gut wie sein König und sein Minister, dabei wird einem doch ganz anders zu Mute, als wenn wir bei uns in Berlin die Soldaten exerzieren sehen«. Und im »Andreas Hartknopf« macht er Front gegen jene Kräfte in der Gesellschaft, die »um einer Chimäre, um eines allgemeinen abstrakten Begriffs willen, den ihr Staatskörper nennt, den Menschen nicht um sein selbst willen, sondern bloß um dieser Chimäre, um dieses abstrakten Begriffs willen wollt existieren lassen!«
     Karl Friedrich Klischnig schrieb über seinen Freund Anton Reiser alias Karl Philipp Moritz, er habe von Kindheit an zu wenig eigene Existenz gehabt: »Aus der wirklichen Welt verdrängt, suchte er in der Phantasiewelt einen Zufluchtsort.« Doch wie die Positionen von Moritz zeigen, war dieser Zufluchtsort durchaus keine lebensferne Traumwelt.

Denkanstöße

Was gibt es Edleres und Schöneres in der ganzen Natur als den Geist des Menschen,

auf dessen Vervollkommnung alles übrige unablässig hinarbeitet und in welchem sich die Natur gleichsam selbst zu übertreffen strebt ...
     Der schöpferische Geist des Menschen ahmt die große Natur im Kleinen nach, bestrebt sich, durch die Kunst ihre Schönheiten im verjüngten Maßstab darzustellen, und wähnt wohl gar, sie zu übertreffen und zu verschönern – aber die Natur sieht lächelnd seinem Spiele zu und läßt ihn eine Weile seine kleine Schöpfung anstaunen – dann verschwemmt sie, was er schuf, in dem Strome der Zeiten und läßt wieder neue Werke der Kunst unter fremden Himmelsstrichen emporsteigen, um sie auch dereinst wieder in Vergessenheit zu begraben ...
     Die Natur gibt uns also selbst den besten Fingerzeig, wo wir das wahre Edle und Schöne aufsuchen und befördern sollen. – Alles, was sie hervorbringt, erreicht erst dann den höchsten Gipfel der Vollkommenheit, wenn es sich irgendeinem menschlichen Geiste darstellt, der imstande ist, diese Vollkommenheit zu begreifen.
     Der einzelne Mensch muß schlechterdings niemals als ein bloß nützliches, sondern zugleich als ein edles Wesen betrachtet werden, das seinen eigentümlichen Wert in sich selber hat, wenn auch das ganze Gebäude der Staatsverfassung, wovon er ein Teil ist, um ihn wegfiele.
     Der Staat kann eine Weile seine Arme, seine Hände brauchen, daß sie wie ein untergeordnetes Rad in die Maschine eingrei-
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   57   Deutsche Denker Karl Philipp Moritz  Vorige SeiteAnfang
fen – aber der Geist des Menschen kann durch nichts untergeordnet werden, er ist ein in sich selbst vollendetes Ganzes.
     Daß nun jeder einzelne Mensch, wenn er seinen Anteil von Kräften zur Erhaltung des Ganzen aufgewandt hat, sich auch als den Zweck dieses ganzen betrachten lerne und auch von jedem andern so betrachtet werde – darin besteht eigentlich die wahre Aufklärung, welche notwendig allgemein verbreitet sein muß, wenn sie nicht als bloße Täuschung und Blendwerk betrachtet werden soll.
(Das Edelste in der Natur, 1786)

Der Geschmack oder die Beurteilung des Schönen gehört ja ebenso wie das Schöne selbst zu den Sachen, die wir nicht brauchen, sobald wir sie nicht kennen, und nicht entbehren, sobald wir sie nicht haben, deren Bedürfnis erst durch den Besitz entsteht, wo es sich durch sich selbst befriedigt; geht also das Bedürfnis vor dem Besitz vorher, so kann es nicht anders als eingebildet und erkünstelt sein.
     Was uns daher allein zum wahren Genuß des Schönen bilden kann, ist das, wodurch das Schöne selbst entstand: vorhergegangne ruhige Betrachtung der Natur und Kunst als eines einzigen großen Ganzen, das, in allen seinen Teilen in sich selber spiegelnd, da den reinsten Abdruck läßt, wo alle Beziehung aufhört, in dem echten Kunstwerke, das, so wie sie in sich selbst vollendet, den Endzweck und die Absicht

seines Daseins in sich selber hat.
(Über die bildende Nachahmung des Schönen, 1788)

Alles aber, was über das Schöne gesagt werden kann, muß immer darauf zurückkommen,
1.      daß das Schöne uns mehr Ordnung, Übereinstimmung und Bildung in einem kleinern Umfang darstellt, als wir sonst gewöhnlich in dem großen Ganzen, das uns umgibt, hier und da zerstreut, wahrnehmen. Und daß also
2.      das Schöne um desto schöner sei, je mehr das große uns umgebende Ganze sich darin zusammendrängt und spiegelt. Insofern nun aber
3.      jedes schöne Kunstwerk mehr oder weniger ein Abdruck des uns umgebenden großen Ganzen der Natur ist, muß es auch als ein für sich bestehendes Ganzes betrachtet werden, welches, wie die große Natur, seinen Endzweck in sich selber hat und um sein selbst willen da ist. Und nur auf diese Weise betrachtet, kann
4.      das Schöne wahrhaft nützlich werden, in dem es unser Wahrnehmungsvermögen für Ordnung und Übereinstimmung schärft und unsern Geist über das Kleine erhebt, weil es alles Einzelne uns stets im Ganzen und in Beziehung auf das Ganze deutlich erblicken läßt.
(Bestimmung des Zwecks einer Theorie der schönen Künste, Notizen, zuerst veröffentlicht 1795)

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