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denn »er ist auch dort nicht nachweisbar«.1)
Seine Vermutungen und Zweifel über Stand und Herkunftsort von L. Weiß sollten jahrzehntelang bestehen bleiben. Beispielsweise wird in der anerkennenswerten Darstellung »Berliner Universität in den Kämpfen der Revolution von 1848/49«, herausgegeben aus Anlaß des 150. Jahrestages der Gründung der Humboldt–Universität zu Berlin, 1960, Lewin Weiß, der »Student aus Danzig«, mit keinem Wort erwähnt.2)
Auch in der jüngsten Geschichtsdarstellung (1997) von Rüdiger Hachtmann, »Berlin 1848«, wird auf Lewin Weiß unter Berufung auf Lenz als »nicht mehr immatrikuliert« verwiesen.3)
     Lewin Weiß, geboren am 11. 12. 1809 in Danzig, ging in Berlin im Vormärz philosophischen, theologischen und philologischen Studien nach. Bis zu seinem ehrenvollen Tod als Anführer von Barrikadenmännern am 18. März in der König-, heute Rathausstraße wohnte er in Berlin, Heidereutergasse 8.
     Der 39jährige jüdische Student Lewin Weiß wurde von seinen Freunden und Bekannten als »Professor« bezeichnet. Auf seinem Grabstein in der gemeinsamen Beisetzungsstelle der Märzgefallenen im heutigen Volkspark Friedrichshain, in der Reihe V, Platz Nr. 16, wurde von seinen Angehörigen vermerkt: »Lewin Weiß, Student aus Danzig«, vermutlich um hervorzuheben, daß L. Weiß aus seinen Studien herausge-
Heinz Warnecke
Der Student
aus Danzig

Lewin Weiß: In der Liste der Revolutionsopfer vom 18./19. März 1848 in Berlin Nr. 168

Von den mehr als 250 Opfern der Revolutionsereignisse am 18./19. März 1848 in Berlin ist – so auch von Lewin Weiß, »Student aus Danzig« – kaum mehr als der Name überliefert.
     Der Geschichtsschreiber der Berliner Universität um die Jahrhundertwende, Max Lenz (1850–1932), räumt in seiner umfangreichen Darstellung der Universitätsgeschichte von 1810 bis 1910 zwar ein, daß L. Weiß dem zeitgenössischen Philologieprofessor Karl Lachmann (1793–1851) nicht unbekannt war, stellt aber in Frage, ob Weiß Student gewesen sei. Sein Name ist im Album, dem Immatrikulationsverzeichnis der Berliner Universität, nicht enthalten. Unter der Marginalie – »Tod des >Philosophen< Lewin Weiß« – mutmaßt Lenz: »Vielleicht ward er nur deshalb den Studenten zugezählt, weil seine Leiche nach der Universität gebracht war?« Unter Berufung auf einen persönlich bekannten Danziger bezweifelt Lenz darüber hinaus, ob L. Weiß wirklich aus Danzig stamme,

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rissen wurde und vor dem Beginn einer Karriere als Privatgelehrter stand.
     Zeitungsartikeln von Freunden ist zu entnehmen, daß Lewin Weiß erste kleinere Beiträge zu Streitfragen der mosaischen Religion publizierte.
     In den Tagen vor dem 18. März sprach er sich im Freundeskreis für verfassungsmäßige Grundrechte und Freiheiten aus. Er äußerte, daß eine höhere Staatsform, eine verfassungsmäßig begründete Monarchie,
als junger Offizier der königlich-preußischen Gardetruppen am Kampf in der Königstraße teilnahm. Meyerinck beobachtete am Nachmittag des 18. März vom Schloßplatz her die Errichtung der ersten von insgesamt 12 Barrikaden in dieser Straße. Auf der am nächsten liegenden ersten Barrikade KönigEcke Poststraße stand nach seiner Beobachtung »ein anständig gekleideter Herr – wie man später hörte ein auswärtiger Student – der einen Säbel in der
wohl »nicht anders als durch Barrikaden« zu erreichen sein werde.4)      Näheres über den Barrikadenmann L. Weiß ist aus einer Darstellung der Straßenkämpfe in Berlin am 18./19. März 1848 durch Hubert v. Meyerinck (1827–1900), Militärschriftsteller, zu erfahren, der

Mit den Märzopfern wird Lewin Weiß (im ersten Sarg) zu Grabe getragen

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Hand trug, Ansprachen an das Volk hielt und den Barrikadenbau leitete«. Er wurde nach Angaben von Meyerinck später »auf einem Hausflur erschossen aufgefunden«.5)
Die Annahme, daß dieser auswärtige Student Lewin Weiß aus Danzig war, bestätigen zeitgenössische Zeitungsartikel und Aktenstücke des Landesarchivs Berlin. Einem Zeitungsbericht – nur wenige Tage nach dem 18. März – ist zu entnehmen, was L. Weiß – hier als Bürger, Student, Fahnenträger gekennzeichnet – auf der oben genannten ersten Barrikade den Umstehenden zurief:
Nicht den Tod zu scheuen, um jedes Vordringen des Militärs nach diesem Stadtteil zu verhindern, wohl wissend, daß vor dem Frankfurter, Landsberger und Neuen Königs-Tor die Linientruppen kampffertig aufgestellt waren.
     Jede Vereinigung dieser Truppe mit der Garde mußte verhindert werden.6) Mit dieser Aufforderung zum Widerstand zeigt sich L. Weiß, neben den in der Königstraße aktiv wirkenden Anführern wie Friedrich Ludwig Urban, Tierarzt, und Oskar Feenburg, Student, als Wortführer der Barrikadenmänner.
     Nachdem gegen 16.00 Uhr der erste Angriffsversuch der Truppen auf die Barrikade KönigEcke Poststraße erfolgreich abgewehrt worden war, eröffneten zwei Kanonen der Garde-Artillerie das Feuer. Von der Langen (heute Rathaus-) Brücke her trafen
die Granaten und Kartätschenkugeln Barrikaden, Wohn- und Geschäftshäuser aus naher Entfernung. Die großen Verwüstungen und die absehbare große Zahl von Opfern veranlaßten L. Weiß, als Anführer der Barrikadenmänner hervorzutreten. Er forderte die Mitkämpfer auf, die Kanonen im Handstreich zu erobern. »Vorwärts!« rief er nach einem Augenzeugen, »wir müssen die Kanonen nehmen, damit sie unschädlich werden!« – »Alles schrie zum Ausfall« – Hunderte folgten nach dem Augenzeugenbericht seiner Aufforderung und seinem Beispiel und stiegen über die Barrikade. Doch Lewin Weiß traf »oben auf der Barrikade« eine tödliche Kugel. Er starb auf der Stelle, wie berichtet wird, »die Fahne und den Säbel noch im Tod festhaltend«.7)
Freunde und Kampfgefährten brachten den Leichnam in das Jüdische Krankenhaus, Oranienburger Straße. Nach ehrender Aufbahrung in der Berliner Universität wurde Lewin Weiß am 22. März – zusammen mit den zahlreichen anderen Opfern des Volkes vom 18./19. März – im Friedrichshain beigesetzt.
     Lewin Weiß' Grabstein wurde ein Jahr darauf durch die Tafel ergänzt: »Gefallen für die Freiheit seiner Brüder«.
     Lewin Weiß kämpfte für Menschenrechte, Grundrechte und Freiheiten für jedermann. »Es waren viele Juden unter den Volkskämpfern«, bestätigt der Zeitgenosse Schirges.
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»Sie fochten an der Seite ihrer christlichen Brüder für die deutsche Sache, für die Freiheit des Volkes, gegen die gemeinschaftliche Tyrannei.«8) Insgesamt war der Anteil der Juden unter den Revolutionsopfern an Toten, Verwundeten und Gefangenen erheblich höher als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung.
     Erinnernswert ist, daß der Bruder von Lewin Weiß Jahre nach der Bestattung Mühe hatte, die Grabstelle ausfindig zu machen und die Pflege wieder aufzunehmen. Er begnügte sich nicht damit, das verlorengegangene Grabmal »Lewin Weiß, Student aus Danzig« zu erneuern, sondern setzte sich mit Erfolg dafür ein, daß das Andenken an die Märzgefallenen insgesamt erhalten blieb.
     Auf den Antrag von Siegfried Weiß vom 23. 5. 1861 hin wurde von der Stadt Berlin die Aufsicht und gärtnerische Pflege aller Grabstellen der Märzgefallenen übernommen und die ersten Schritte auf dem Weg zu einer würdigen Gedenkstätte gemacht.
     Die Verwirklichung eines weiteren Antrags, »ein Monument auf Friedrichshain oder sonstwo zu errichten, worauf die Namen der Gefallenen kommen«,9) erfolgte erst 1948 mit der Errichtung eines schlichten Gedenksteines. Ein Freiheits- und Nationaldenkmal zu Ehren der 1848er, wie es die Stadtverordneten bereits am 21. März 1848 beschlossen hatten, bleibt noch zu verwirklichen und zu fordern.
Quellen und Anmerkungen:
1 Lenz, Max: Geschichte der kgl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, zweiter Band, zweite Hälfte, Halle 1918, S. 219
2 Vergl. Obermann, Karl: Die Berliner Universität am Vorabend und während der Revolution von 1848/49, in: Forschen und Wirken. Festschrift, Bd. 1, Berlin 1960
3 Hachtmann, Rüdiger: Berlin 1848, Bonn, 1997, S. 176
4 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen (1848) Nr. 70 vom 22. 3.
     5 Meyerinck, Hubert v.: Die Straßenkämpfe in Berlin am 18. und 19. März 1848, Leipzig, 1911,
S. 25, S. 30
6 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen (1848) Nr. 69 vom 21. 3.
     7 Ebenda (1848) Nr. 71 vom 24. 3.
     8 Schirges, Georg: Der Berliner Volksaufstand, Hamburg 1848
9 Vgl. Errichtung eines Begräbnisplatzes in Friedrichshain 1848–62 in Rep. 01 GB 2442 5 Bl. 61 f. Landesarchiv Berlin, Breitestr.

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