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sind umfangreiche Umbauten und die Schaffung ergänzender Gebäude im Alsenviertel und an der Dorotheenstraße notwendig.

Umstrittenes Glasei

Daß die eher kargen Umbauten durch den Architekten Paul Baumgarten aus den sechziger Jahren den heutigen Parlamentariern nichts wert sind, zeigt deren rigorose Beseitigung. Die Berliner Denkmalpflege und Architekturhistoriker konnten sich nicht durchsetzen, Teile der Baumgartenschen Fassung zu erhalten. Michael S. Cullen, Autor mehrerer Bücher über das Reichstagsgebäude und Initiator der Christoschen Verhüllungsaktion, bedauert die Lösung und schreibt den Politikern ins Stammbuch:
»Es liegt nicht an den Architekten, wenn der Parlamentarismus einen besseren oder schlechteren Ruf genießt, sondern an den Politikern selbst. Wenn das Reichstagsgebäude – als Bundestagshaus oder Bundeshaus – die Achtung genießen soll, die ihm gebührt, dann müssen die Bundestagsabgeordneten heute und morgen den Demokratiebegriff mit dem Ethos erfüllen, der ihm immanent ist; erst dann wird der Wallot-Foster-Bau zum Sinnbild von Vergangenheit und Zukunft, das die Reichstagsgründer 1871 einst beabsichtigt hatten; dann erst gehört das Haus wirklich >Dem Deutschen Volke<.«
     Der große runde Sitzungssaal für die Bundestagsabgeordneten mit riesigen her-

Helmut Caspar
Vom»Reichsaffenhaus« zum Deutschen Bundestag

Reichstagsgebäude hat gravierende Veränderungen über sich ergehen lassen müssen

Im nächsten Jahr nimmt der Deutsche Bundestag im umgebauten Reichstagsgebäude seine Arbeit auf. Transparenz und Umweltfreundlichkeit verspricht der millionenschwere Neubau in alter Hülle. Man braucht viel Phantasie, um sich die kaiserzeitliche Pracht vorzustellen, die Architekt Paul Wallot als Sieger eines hochkarätigen Wettbewerbs vor über einhundert Jahren im ständigen Streit mit den Mächtigen seiner Zeit geschaffen hat.
     Unmittelbar nach Abschluß der Aktion »Wrapped Reichstag« des Künstlerpaars Christo und Jean Claude im Sommer 1995 wurde das Gebäude am Platz der Republik, dem ehemaligen Königsplatz, eingerüstet. Nach Plänen des britischen Architekten Sir Norman Foster begann für die Riesensumme von 650 Millionen Mark der Umbau des »Schicksalshauses der Deutschen« für den Deutschen Bundestag. Mit der Wahl des nächsten Bundespräsidenten im Jahr 1999 soll das Haus eröffnet werden. Dazu

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Das Reichstagsgebäude nach seiner Fertigstellung im Jahre 1894
einragenden Balkonen läßt an Moscheen oder das römische Pantheon denken. Die Saaldecke ruht auf zwölf monumentalen Pfeilern. In der Mitte geht der Blick in die Glaskuppel, durch die sich schneckenförmige Wege winden. Wer möchte, kann die Kuppel bis in die Spitze erklimmen und den Volksvertretern sozusagen aufs Dach steigen. Kleinere Räume werden in den nächsten Monaten für die Fraktionen erweitert. Alte Zwischendecken sind bereits beseitigt, zugemauerte Türen wieder geöffnet. Der Dachbereich ist Aussichtsplattfform; Treppenhäuser und Höfe erhalten eine neue Gestalt. Das Haus besitzt eine hochmoderne eigene Energieversorgung, die auch Sonnen- wärme nutzt. Blockheizkraftwerke arbeiten mit Biodiesel. Die Motorabwärme wird zum Heizen beziehungsweise Kühlen eingesetzt. Tief im Erdinneren gespeicherte Wärme kann im Winter zur Heizung, im Sommer durch entsprechende Umwandler zum Kühlen genutzt werden.
     Überall finden die Bauleute hinter Gipswänden noch Reste der originalen Innenarchitektur aus der Kaiserzeit. Sie sollen, wenn möglich, in den Neubau, den das Reichstagsgebäude darstellt, einbezogen werden, so daß die Abgeordneten und Besucher auch von älterer Geschichte angeweht werden. Die nach dem Zweiten Weltkrieg »geglättete« Fassade wird bleiben, wie
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sie ist. Den ehemals plastischen Schmuck muß man sich in Büchern anschauen.
     Statt der in der Nachkriegszeit gesprengten Riesenkuppel auf quadratischem Sockel erhält der Bau das erwähnte, nur 45 Meter hohe »Glasei« als Haube. Kritiker sehen in dem erst nach heftigen Auseinandersetzungen über Kuppel oder Nicht-Kuppel entstandenen Kompromiß einen Fremdkörper; sie wünschten sich eine Rekonstruktion der 75 Meter hohen alten Kuppel, über die es schon zur Kaiserzeit einen heftigen Streit gab, weil die Hohenzollern fürchteten, sie könne die Kuppel ihres Schlosses noch übertreffen.
     Wie kein anderer Bau symbolisiert das zwischen 1884 und 1894 nach Plänen des Architekten Paul Wallot errichtete Reichstagsgebäude Aufschwünge und Niederlagen der deutschen Geschichte in den letzten einhundert Jahren. Nach der Reichseinigung von 1871 war die oberste Volksvertretung der Deutschen zunächst in Berliner Provisorien untergebracht. Der Bau eines eigenen, repräsentativen Gebäudes war dringend notwendig. Kaiser Wilhelm I. und sein Kanzler Bismarck indes wollten das neue, ungeliebte Machtzentrum nicht in der Nähe des Schlosses dulden und schoben es an den Rand des Tiergartens, unweit des Brandenburger Tores, ab. Am damaligen Königsplatz mit der Siegessäule in der Mitte wurde das stattliche Palais Raczynski dem Reichstagsneubau geopfert.
Dem Reichstagsbau-Wettbewerb von 1872 folgte zehn Jahre später eine weitere Ausschreibung, die Paul Wallot (1841–1912) gewann. Mit dem Auftrag sollte er nicht glücklich werden. Zwar war der Deutsche Reichstag rechtmäßiger Bauherr, doch machten sich Wilhelm I. und – ab 1888 – sein selbstherrlicher Enkel Wilhelm II. den Bau zu eigen und zwangen den Architekten zu schmerzhaften Abstrichen und Veränderungen. In dem Hin und Her dokumentiert sich die Abneigung der führenden Schicht gegenüber dem Parlament und seinem Sitz. Wilhelm II. titulierte die oberste Volksvertretung insgeheim als »Reichsaffenhaus« und zeigte dem Architekten die kalte Schulter. Während Wallot äußerlich Haltung bewahrte, gab er seinem Zorn durch deftige Worte Ausdruck. Einem Freund charakterisierte er Wilhelm II. als »kaiserlichen Gassenbuben«, als »gewöhnlichen, niederträchtigen Hund, für den auf anderem Gebiet Deutschland die Zeche wird zahlen müssen«. Der Monarch und seine Hofbeamten mischten sich in einzelne Gestaltungsfragen bis hin zur Gestalt und Höhe der Kuppel ein. Die vom Kaiser immer wieder verhinderte Portalinschrift »Dem deutschen Volke« wurde erst 1916 als Verbeugung gegenüber den im Ersten Weltkrieg ausgebluteten Untertanen angebracht. Das Reichstagsgebäude wurde wegen der überaus üppigen Ausschmückung außen und innen heftig kritisiert, und in der Weimarer Zeit sollte
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das Parlamentsgebäude sogar monumentalen Neubauten weichen.
     Beim Brand des Reichstagsgebäudes, wenige Tage nach Errichtung der Nazidiktatur 1933, wurde der prächtige Plenarsaal zerstört, die anderen Räume aber blieben intakt. Hitler verhinderte den Abriß und dachte sogar an einen Umbau für sein gleichgeschaltetes Parlament, das hin und wieder in die Krolloper einberufen wurde, um Führerreden zu applaudieren. Es gab noch einen anderen Grund, das Haus zu halten. Die von Hitler und seinem obersten Architekten Albert Speer geplante »Große Halle« am Ende einer riesigen Aufmarschstraße hätte die Winzigkeit des Brandenburger Tores und des Reichstagsgebäudes unterstrichen und die neue Versammlungsstätte der »Volksgenossen« um so größer erscheinen lassen. Das Reichstagsgebäude wurde daher bis in die letzten Kriegsmonate für Bürozwecke, als Verwahrstätte der Reichstagsbibliothek und auch für Propagandaausstellungen genutzt.

Großer Symbolwert

In den letzten Kriegstagen des Jahres 1945 stand der Bau im Zentrum verlustreicher Kämpfe zwischen Wehrmachts- und Waffen-SS-Einheiten und der Roten Armee. Stalin erhob den Kuppelbau zum wichtigsten Ziel. Fotos vom Hissen der roten Fahne gingen um die Welt. Mit Bedacht wurde das

Sowjetische Ehrenmal im Tiergarten, wenige Schritte vom Reichstagsgebäude, errichtet. Bei den jetzigen Umbauten wurden kyrillische Inschriften gefunden. Einige sollen, wie auch die alten Ausmalungen und Dekorationsstücke von 1894, wieder sichtbar gemacht werden. Die bis vor wenigen Jahren gezeigte Ausstellung über die Geschichte der Deutschen, in der auch der Parlamentarismus und das Reichstagsgebäude eine große Rolle spielen, ist in den Deutschen Dom am Gendarmenmarkt gezogen.

Chronik des Gebäudes

     1884 Grundsteinlegung auf dem Gelände des früheren Palais Raczynski am Königsplatz durch Kaiser Wilhelm I. Paul Wallot, der Sieger des 1882 ausgeschriebenen Gestaltungswettbewerbs, wird in den folgenden zehn Jahren zu zahlreichen Änderungen genötigt.
     1894 Schlußsteinlegung durch Kaiser Wilhelm II. mit den Worten: »Es bleibt der Bau ein Denkmal der großen Zeit, in welcher als Preis des schwer errungenen Sieges das Reich in neuer Herrlichkeit erstanden ist, eine Mahnung den künftigen Geschlechtern zu unverbrüchlicher Treue in der Pflege dessen, was die Väter mit ihrem Blute erkämpft haben.« Seinem Vertrauten Philipp zu Eulenburg schrieb der Kaiser: »Die Einweihung des Reichsaffen-

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hauses ging sehr feierlich und glänzend ohne einen Mißton von Statten. Wallot schwamm in Seligkeit.« Der so oft brüskierte Architekt ging nach Dresden und leitete von dort aus den Bau des Reichstagspräsidentenpalais.
     1916 Nachdem Kaiser Wilhelm II. lange die Anbringung einer Portalinschrift verhindert hat, erhält das Reichstagsgebäude im dritten Kriegsjahr endlich die Widmung »Dem Deutschen Volke«. Die Schrift stammt von Peter Behrens.
     1925 Wegen akuten Platzmangels der Abgeordneten werden erste Überlegungen für einen Ergänzungsbau angestellt. In den folgenden Jahren werden Gestaltungswettbewerbe ausgeschrieben. Es finden sich auch Befürworter eines Abbruchs des Wallotbaues.
     1926 der Königsplatz wird in Platz der Republik umbenannt.
     1933 Nach dem Brand des Plenarsaals siedelt der gleichgeschaltete Reichstag in die Krolloper über.
     1938 Umsetzung der Siegessäule, des Bismarckdenkmals und anderer Standbilder an den Großen Stern im Rahmen von Hitlers Plänen zur Neugestaltung Berlins als Welthauptstadt »Germania«.
     1945 Rotarmisten hissen die Siegesfahne auf dem Reichstagsgebäude.
     1954 Sprengung der Kuppel im zweiten Versuch.
     1955 Untersuchungen über den Wieder-
aufbau der Ruine und die künftige Verwendung des Hauses.
     1957 Der Bundestag bewilligt 2,5 Millionen DM für Enttrümmerung und Bestandssicherung.
     1961–1971 Umbau des Reichstagsgebäudes nach Plänen von Paul Baumgarten.
     1990 Der erste gesamtdeutsche Bundestag tritt zu seiner konstituierenden Sitzung im Reichstagsgebäude zusammen.
     1993 Internationaler Wettbewerb für den Umbau des Reichstagsgebäudes. Der britische Architekt Sir Norman Foster, einer von drei Siegern, wird mit der Ausführung beauftragt.
     1994 Der Deutsche Bundestag stimmt der Verhüllung des Reichstagsgebäudes durch Christo zu.
     1995 Nach der Aktion »Wrapped Reichstag« beginnen Entkernung und Umbau.
     1997 Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth feiert mit Gästen, unter ihnen der Architekt Sir Norman Foster, am 18. September Richtfest.

Bildquelle: Archiv Autor

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