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war die V. Ratstagung der vier Außenminister in London abgebrochen worden, man hatte sich über einen deutschen Friedensvertrag nicht einigen können. Einen Tag später begannen die drei Westmächte, ebenfalls in London, Beratungen über eine Lösung der deutschen Frage ohne die Sowjetunion, d. h. über die Bildung eines Westzonen-Staates, die Anfang Juni 1948 ihren Abschluß fanden. Die Monate dazwischen waren ausgefüllt mit Aktionen und Reaktionen, mit Erklärungen und Gegenerklärungen. Was die vier Mächte wirklich im Schilde führten, war am ehesten in der quirligen Viersektorenstadt zu erfahren.
     Insofern saß Willy Brandt auf einem hochbedeutsamen Beobachterposten. Er analysierte die offiziellen Verlautbarungen, die Pressemitteilungen und die mehr oder weniger bedeutungsvollen Ost-West-Unterhaltungen auf Partys oder in den Korridoren der alliierten Organe. Wie war Willy Brandt zu dieser Aufgabe gekommen?
Das Büro Schumacher in Hannover – gleichbedeutend mit der SPD-Zentrale in den Westzonen – richtete im Sommer 1946 eine Niederlassung in Berlin ein. Sie sollte über interne Fragen des SPD-Landesverbandes berichten und nach Möglichkeit eine Klammer zu oppositionellen Sozialdemokraten in der Ostzone bilden. Das Amt eines »Beauftragten des Parteivorstandes in Berlin« übernahm zuerst Annemarie Renger, seit Oktober 1945 Kurt Schumachers Sekre-
Gerhard Keiderling
Willy Brandt auf
Beobachterposten

Als Berlin-Beauftragter des Büros Schumacher

Am 21. Januar 1948 schickte Willy Brandt einen auf zwei Schreibmaschinenseiten getippten Bericht »Politische Informationen« an das Büro Schumacher in Hannover. Während einer Unterhaltung mit Sowjetoffizieren in der Alliierten Kommandantur der Stadt Berlin sei ihm gedeutet worden, »daß Berlin mitten in der Ostzone liege. Berlin sei für die Sowjetunion ein strategisches Problem von gleicher Rangordnung wie Moskau und Stalingrad während des Krieges.« Auf der Sitzung des Alliierten Kontrollrats in Deutschland habe der Oberste Chef der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), Marschall W. D. Sokolowski, durchblicken lassen, »daß die Russen es nicht auf die formelle Sprengung des Kontrollrates ankommen lassen wollen«.1) Brandt teilte seinen sozialdemokratischen Parteifreunden in Westdeutschland gewiß keine Geheimnisse mit. Doch was hätte er anderes berichten können aus der deutschen Besatzungshauptstadt. Die Frage, wie es in Deutschland weitergehen wird, war hier allgegenwärtig. Am 15. Dezember 1947

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tärin und Betreuerin. Sie übergab es Ende 1946 an Erich Brost, einen gebürtigen Danziger und Freund von Erich Ollenhauer, den er während der NS-Zeit im Londoner Exil kennengelernt hatte.
     In seinem »Tätigkeitsbericht Nr. V« vom 25. Februar 1947 berichtete Brost von einer folgenreichen Begegnung: »Montag. d.
     24. 2. war ich abends bei Major W. Brandt von der Norwegischen Militär-Mission. Brandt versprach mir, Beziehungen zu den hiesigen Schweden und Dänen zu verschaffen. Er ist außerordentlich stark interessiert und hilfsbereit.« Brandt vermittelte dem Vertreter Schumachers manche Kontakte zu einflußreichen alliierten Kreisen. Dabei geriet er selbst immer mehr in die deutsche Politik, in die Tätigkeit der Sozialdemokratie hinein, die ja seine politische Heimat geblieben war.
     Im Oktober 1945 war der damals 32jährige Willy Brandt mit einem norwegischen Paß in der Tasche zum erstenmal nach dem Kriege wieder in Deutschland. Nach einer Stippvisite in seiner Heimatstadt Lübeck, die er im April 1933 auf der Flucht vor NS-Häschern in Richtung Norwegen hatte verlassen müssen, fuhr er nach Nürnberg weiter. Für die Presse in Oslo berichtete er vom Hauptkriegsverbrecherprozeß. Bevor er im Februar 1946 wieder nach Norwegen reiste, begegnete er in Frankfurt am Main Kurt Schumacher, dem neuen Führer der Sozialdemokraten in den Westzonen. Es
war die Zeit der Zwangsvereinigung von KPD und SPD in der Ostzone.
     Schon im Mai 1946 war Brandt wieder in Deutschland. Auf dem ersten Nachkriegsparteitag der SPD in Hannover vertrat er als Gastdelegierter die Exilgruppen in Skandinavien, die nun offiziell in die Partei integriert wurden. Weihnachten 1946 kam Willy Brandt als Presseattaché zur Militärmission Norwegens, die beim Alliierten Kontrollrat für Deutschland akkreditiert war. Er hatte kurz zuvor die norwegische Staatsangehörigkeit angenommen und trug daher die Uniform eines Majors. Es sollte der Anfang einer politischen Karriere in Deutschland und zu einer dauerhaften Bindung an Berlin werden.
     Von nun an traf Brandt regelmäßig die sozialdemokratische Prominenz in der Stadt, allen voran Ernst Reuter, der im Spätherbst aus türkischer Emigration gekommen war und dessen Wahl zum Oberbürgermeister von Berlin im Mai 1947 die Sowjets verhinderten, und Franz Neumann, der die legendäre Urabstimmung im März 1946 organisiert hatte und den SPD-Landesverband bis Januar 1958 leitete, als er ausgerechnet Brandt in der Vorstandswahl unterlag.
     Inzwischen trug sich Erich Brost, der Leiter der Berliner Vertretung des Büros Schumacher, mit dem Gedanken, einen Ruf zum Chefredakteur der »Westdeutschen Allgemeinen Zeitung« in Essen anzunehmen. Als seinen Nachfolger schlug er Willy
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Brandt vor. Dieser sah darin eine günstige Gelegenheit, vollends in die deutsche Politik überzuwechseln. Doch dieser Sprung war nicht so einfach. Brandt mußte einige Klippen umschiffen, um die volle Gunst des von ihm mehrfach kritisierten Kurt Schumacher zu gewinnen und seine norwegische Tätigkeit aufzukündigen. Erst im Januar 1948 war es soweit.
     Am 21. Januar 1948 schickte Willy Brandt seinen ersten, eingangs erwähnten Informationsbericht nach Hannover. Bis zur Auflösung des Berliner Büros im November 1949 sollten es insgesamt 372 mit »W. B. Bericht« überschriebene Mitteilungen meist in der Länge von zwei bis drei Schreibmaschinenseiten werden. Ihren Inhalt bewertete der Verfasser so: »Die politische Substanz der Rapporte handelte zunehmend vom beginnenden Kalten Krieg. (...) Die Aufgabe sah in erster Linie einen quasidiplomatischen Kontakt zu den politischen Dienststellen der alliierten Mächte in Berlin vor. Auch um Auslandskorrespondenten und internationale Gäste hatte man sich zu kümmern. Aufgaben, die sich auf Mitglieder der Partei in Berlin bezogen, kamen hinzu.«2)
Liest man diese Berichte heute, so verspürt man den Hauch jener dramatischen Zeit, als Ost und West auf eine feindliche Distanz gingen, als die Einheit Deutschlands und seiner Hauptstadt zerbrach und der Eiserne Vorhang quer durch Europa klirrend niederging. Gewiß finden sich in den Berich-
ten auch viele Alltäglichkeiten, sogar Banalitäten und Parteigeschwätz. Doch die Brisanz jener Monate, als Berlin zum Zentrum des Kalten Krieges wurde, kommt immer wieder zum Vorschein.
     In einer Biographie ist zu lesen, daß Brandt damals eine gewichtige Rolle spielte: »Als Parteibeauftragter war Brandt der Vorposten der westlichen SPD. Er war die Anlaufstelle für Sozialdemokraten, die aus der Sowjetzone flüchteten oder von dort wichtige Informationen überbringen wollten. Zu einem solchen Schritt entschlossen sich in der Mehrzahl die geistig aktiven, kämpferischen SPD-Genossen, die zur Elite der Partei gehörten. Brandt nahm sich Zeit für sie und bewirtete sie in seinem Haus am Halensee. Aus bedrängten Verhältnissen kommend, fühlten sie sich geborgen und wurden in Westdeutschland zu seinen unbedingten Parteigängern – eine Gefolgschaft, auf die er später bauen konnte.«3)
Am 12. März 1948 trat Brandt aus seiner beobachtenden Rolle heraus. Vor Berliner SPD-Funktionären nahm er zu den Prager Ereignissen – am 25. Februar 1948 hatte die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei staatsstreichartig die Macht übernommen – Stellung: »Die Hoffnung, eine Vermittlerrolle zwischen dem Osten und Westen spielen zu können, ist zerplatzt. (...) Die erste Voraussetzung ist heute, daß wir in unserem Teil Europas und der Welt Ordnung schaffen, daß wir unsere eigenen
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Reihen ordnen und keinen Schritt zurückweichen. (...) Wer sich auf die kommunistische Einheitsfront einläßt, geht daran zugrunde.«4)
Noch deutlicher wurde Ernst Reuter auf der Kundgebung vor der Reichstagsruine am 18. März 1948: »Berlin wird nicht drankommen! An unserem eisernen Willen wird sich die Flut brechen.«5)
Der Kampf um Berlin war entbrannt und forderte klare Entscheidung. Der 35jährige Brandt und der 57jährige Reuter fanden politisch zueinander. Brandt im Rückblick: »Wir hatten am politischen Himmel und in der Welt des Geistes dieselben Sterne.«6) Ihre gemeinsame Plattform war amerikanischer Provenienz. US-Militärgouverneur General Clay beschwor am 10. April 1948 in einem Blitztelegramm nach Washington einen Domino-Effekt: »Wenn Berlin fällt, folgt Westdeutschland als nächstes. Wenn wir beabsichtigen, Europa gegen den Kommunismus zu halten, dürfen wir uns nicht von der Stelle rühren.«7)
Dementsprechend umspannten Brandts Berichte nach Hannover Vorgänge und Zustände, Erkenntnisse und Vermutungen, Vorschläge und Empfehlungen. Daß man dort die Berichte mit kritischem Auge las, steht auf einem anderen Blatt. Schließlich galt der Absender als »Reuters Mann« und nicht als Paladin Schumachers.
     Die Situation spitzte sich im Frühjahr 1948 rasch zu. Brandt schrieb später: »Im
Frühjahr 1948 wurde es klar, daß die offene Liquidierung des Viermächte-Regimes auf der Tagesordnung stand. Das Tauziehen um Deutschland zwischen den beiden Machtblöcken war im Begriff, zur politischen und wirtschaftlichen Zerreißung des Landes in zwei Teile zu führen und damit zu einer Machtprobe in Berlin.«8)
Brandts Berichte vermittelten die Hektik des Geschehens: das Ende des Alliierten Kontrollrates im März, die April-Krise, die mit sowjetischen Sperren auf den Verbindungswegen zwischen West-Berlin und den Westzonen die kommende Blockade signalisierte, die Währungsreformen für den Ost- und Westteil der Stadt im Juni, der Auszug der Sowjets aus der Alliierten Kommandantur der Stadt Berlin, den Beginn der Luftbrücke am 25. Juni 1948 und die Auseinandersetzungen, die bis Jahresende zu zwei konträren Stadtverwaltungen führten. Darin eingebunden war die Sorge um die Sozialdemokraten in Ost-Berlin, die laut Beschluß der Alliierten Kommandantur vom Mai 1946 ein Recht auf freie Betätigung hatten. Als zeitgenössische Quelle sind die Berichte außerordentlich wertvoll.
     Der »Horchposten« Berlin erfüllte die wichtige Aufgabe, zu eruieren, was die Sowjets planen, was die SED propagieren und wie sich die ostdeutsche Bevölkerung verhalten wird. Seit Juli 1948 schritt hinter dem Schirm von Berliner Blockade und
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Luftbrücke die Bildung eines westdeutschen Staates voran. Brandt analysierte mit seinen Mitteln die taktischen Möglichkeiten des Ostens. In seinem Bericht vom 29. Juni 1949 – also kurz nach der erfolglosen Pariser Außenministerkonferenz der vier Mächte – prognostizierte er, »daß das Interesse der Westalliierten an einer gesamtdeutschen Lösung immer mehr erlahmen könnte, soweit ein echtes Interesse dieser Art überhaupt positiver Bestandteil westlicher Politik gewesen ist«. Damit schien klar, daß die Westmächte die Bildung einer ostdeutschen Regierung mit Sitz in Ost-Berlin hinnehmen würden. Als die Sowjetunion am 7. Oktober 1949 diesen Schritt vollzog, äußerte Willy Brandt in seinem Bericht vom 30. Oktober 1949 nur noch seine Verwunderung über SED-Funktionäre, »die sich wirklich einbildeten, sie könnten den Westen im Laufe weniger Jahre einholen und überholen«.
     Willy Brandt beendete im Spätherbst 1949 seine Tätigkeit als Berlin-Beauftragter des Büros Schumacher, was mit dem Verlust der Dienstvilla in Berlin-Halensee verbunden war. Doch die Zeit hatte er genutzt, um einen politischen Boden in Berlin und in der Sozialdemokratischen Partei zu finden. An der Seite Ernst Reuters kam er im September 1949 in den Deutschen Bundestag und 1950 in den SPD-Landesvorstand Berlin.

Quellen:
1 Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn-Bad Godesberg, Bestand Schumacher, A 126–127. Weitere Zitate aus den Berichten sind diesem Aktenbestand entnommen.
     2 Willy Brandt: Links und frei. Mein Weg 1930–1950, Hamburg 1982, S. 426 und 428
3 Peter Koch: Willy Brandt. Eine politische Biographie, Berlin–Frankfurt am Main 1989, S. 196 f.
     4 Willy Brandt: Mein Weg nach Berlin. Aufgezeichnet von Leo Lania, München 1960, S. 224 ff.
     5 Ernst Reuter. Artikel, Briefe, Reden. 1946 bis 1949. Bearbeitet von Hans J. Reichhardt. 3. Bd., West-Berlin 1974, S. 368 6 Peter Koch: Willy Brandt, a. a. O., S. 1 947
7 Lucius D. Clay: Entscheidung in Deutschland, Frankfurt am Main 1950, S. 4 008
8 Willy Brandt/Richard Lowenthal: Ernst Reuter. Ein Leben für die Freiheit, München 1957, S. 395

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