91   Novitäten Der erste Perlonfaden  
Wolfgang Asche
29. Januar 1938:
Der erste Perlonfaden

Der 29. Januar 1938 gilt als der Geburtstag der ersten in Deutschland gesponnenen Kunstseide. Dem Chemiker Paul Schlack (1897–1987) war es in dieser Nacht geglückt, aus dem ringförmigen epsilon-Caprolactam durch eine Umsetzung mit anderen Molekülen der gleichen Sorte den fadenförmigen Kunststoff herzustellen. Ort der Handlung: ein Labor der Firma Aceta in Berlin-Lichtenberg, Hauptstraße 13. Paul Schlack, der seit Februar 1924 im zum I. G. Farben Konzern gehörenden Agfa-Werk Wolfen angestellt war, hatte seinen Arbeitsplatz ab 1928 vorübergehend hierher verlegt. Am 11. Juni 1938 wurde das Lactam-Verfahren schon zum Patent angemeldet, 1943 begann die Großproduktion des »Perlon«-Fadens in Landsberg/Warthe im heutigen Polen. Auch in Premnitz wurde in jenen Jahren eine Kunststoff-Fabrik gebaut.
     Schlacks Triebkraft war die Patenterteilung für das Nylon an Wallace H. Carothers der Firma DuPont in Amerika Anfang 1937. Es galt, das US-Verfahren zu umgehen.
     Welches Verfahren auch angewandt wird, die Endprodukte sind voneinander nicht zu unterscheiden. So heißt es im Fachjargon oft Nylon 6.6 oder Perlon 6.

DuPont-Vertreter waren Ende 1938 erstaunt, in Deutschland ein ernstzunehmendes Konkurrenzprodukt vorzufinden, als sie ihr Nylon-Verfahren anbieten wollten. Im Mai 1939 wurde ein Kooperationsabkommen unterzeichnet, das aber nach Kriegsbeginn hinfällig wurde.
     Weder Nylon noch Perlon haben als Namen eine Aussage, sie entstanden durch Abwandlung firmeninterner Bezeichnungen. In Deutschland kam es aus Perlusan über Perlan zu Perlon, in Amerika wurde aus norun (no run – keine Laufmasche in Strümpfen) über nuron und nilon der heutige Name.
     Die ersten Anwendungen waren zunächst kriegsbedingt Fallschirme. Nach 1945 waren Damenstrümpfe das Produkt, um das es Gerangel in den Geschäften gab. Heute werden weltweit etliche Millionen Tonnen dieser Polyamid-Fasern hergestellt.
     Während Wallace Carothers (1896–1937) nicht sehr alt wurde – er nahm sich das Leben –, konnte Paul Schlack den Erfolg seiner Erfindung noch miterleben. Er war später Werkleiter in der Faserfabrik Bobingen des Hoechst-Konzerns. Die Bundesrepublik ehrte ihn mit dem Verdienstorden. 1995 wurde er in der Ausstellung »Ich diente nur der Technik« des Museums für Verkehr und Technik in Berlin-Kreuzberg allerdings zu denjenigen gezählt, die wie auch beispielsweise Raketenbauer Wernher von Braun die Naziherrschaft in jener Zeit gestützt hatten.

© Edition Luisenstadt, 1998
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