26   Probleme/Projekte/Prozesse Heines »Briefe aus Berlin«  Nächste Seite
Unter den literarisch-journalistischen Beschreibungen der preußischen Haupt- und Residenzstadt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehören Heines drei »Briefe aus Berlin«, datiert vom 26. Januar, 16. März und 7. Juni 1822, nicht nur zu den informationsreichsten, sondern auch zu den amüsantesten. Mehr noch: spricht man von der die 1848er Revolution vorbereitenden Publizistik des Vormärz, zu der man gewöhnlich die Arbeiten Heines, Börnes, Gutzkows und anderer Vertreter des »Jungen Deutschland« rechnet, so kann man in des jungen Heines Berlin-Korrespondenzen durchaus eine gelungene Vorankündigung dieser Bewegung sehen. Sie sind geschrieben in einer Zeit verstärkter feudaler Reaktion gegen die mit den Stein-Hardenbergschen Reformen und den Befreiungskriegen verbundenen fortschrittlichen Bestrebungen. Deutlichster Ausdruck: die Karlsbader Beschlüsse vom August 1819, die u. a. eine strenge Überwachung der Universitäten, das Verbot der Burschenschaften und die Vorzensur von Zeitungen und Zeitschriften bestimmten, und die im Sommer 1822 erfolgte teilweise Rücknahme des Edikts zur Emanzipation der Juden. Ein verschrecktanpasserisches Kleinbürgertum zog sich in biedermeierliche Nischen zurück. Die Gewerbefreiheit von 1811 hatte aber auch das Tor für eine Industrialisierung geöffnet, brachte wachsendes bourgeoises Selbstbewußtsein, Bevölkerungszu-
Horst Wagner
Als ganz Berlin den
»Jungfernkranz« sang

Des jungen Heines »Briefe aus Berlin«

»Wenn Sie vom Hallischen nach dem Oranienburger Tore und vom Brandenburger nach dem Königstore, ja selbst wenn Sie vom Unterbaum nach dem Köpenicker Tore gehen, hören Sie jetzt immer und ewig dieselbe Melodie, das Lied aller Lieder, den >Jungfernkranz<.«1) So berichtet der 24jährige Jurastudent der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität Heinrich Heine Anfang 1822 seinen Lesern im »Rheinisch-Westfälischen Anzeiger« über den raschen und durchschlagenden Erfolg der am 18. Juni 1821 im heutigen Konzerthaus am Gendarmenmarkt uraufgeführten Oper »Der Freischütz« von Carl Maria von Weber, für die »Billette zu erhalten ... noch immer schwer« sei. Und an anderer Stelle schreibt er in ironischer Anspielung auf die Zensurbestimmungen: »An Notizen fehlt es nicht, und es ist nur die Aufgabe: Was soll ich nicht schreiben? d. h. was weiß das Publikum schon längst, was ist demselben ganz gleichgültig und was darf es nicht wissen.«2)

SeitenanfangNächste Seite


   27   Probleme/Projekte/Prozesse Heines »Briefe aus Berlin«  Vorige SeiteNächste Seite
strom und Proletarisierung mit sich. Neue politische und soziale Kämpfe kündigten sich an.
     Heine, der am 23. Januar 1821 wegen einer Duellforderung von der Göttinger Universität für ein halbes Jahr relegiert worden war und von seinem Onkel Salomon die finanziellen Mittel zur Fortsetzung seiner Studien in Berlin erbeten hatte, traf am 20. März 1821 hier ein. »Ich fange also mit der Stadt an und denke mir, ich sei wieder soeben an der Post auf der Königstraße abgestiegen und lasse mir den leichten Koffer nach dem >Schwarzen Adler< auf der Poststraße tragen«3), schreibt er rückblickend in seinem ersten Brief über sein erstes Berliner Quartier. Im September nahm er einen Erholungsurlaub und reiste durch Westfalen. Wobei er einen Aufenthalt in Hamm offenbar auch nutzte, um die Korrespondententätigkeit für den dort erscheinenden »Anzeiger« zu vereinbaren, die er dann im Berliner Wintersemester mit seinem ersten Brief vom 26. Januar 1822 aufnahm.

Die schönen Damen Unter den Linden

Heine, an kleinere Städte wie Düsseldorf oder gar Göttingen gewöhnt, ist beeindruckt von Berlin, das damals schon ca. 200 000 Einwohner zählt und hinsichtlich des geistig-kulturellen Lebens führend in Deutschland ist. Die König-(heute Rathaus-)straße nennt er groß und herrlich, »wo ein Kauf-

mannsmagazin ans andere grenzt und die bunten, leuchtenden Warenaufstellungen fast das Auge blenden«.4) »Wirklich, ich kenne keinen imposanteren Anblick als, vor der Hundebrücke stehend, nach den Linden hinaufzusehen« schwärmt er.5) Aufmerksam beobachtet er das Baugeschehen: Die hölzerne Hundebrücke wird gerade durch die steinerne Schloßbrücke ersetzt. Nördlich der Linden »werden Boulevards gebaut, wodurch die Wilhelmstraße mit der Letzten Straße (heute Dorotheenstraße, d.V.) in Verbindung gesetzt wird.«6) Liebevollamüsant schildert er »die schönen Damen«, die »allerschönsten Frauen«, die Unter den Linden sein »Herz erbauen«; beobachtet, wie »die beweglichen Berlinerinnen ... wie Schmetterlinge von Laden zu Laden« flattern »und kaufen und schwatzen und angeln«, sich »selber den lauschenden Anbetern zeigen« und dabei »gefühlvolle Busen vor Entzücken stürmisch wallen«.7) Genießerisch läßt er sich über die »seltenen Delikatessen« im Nobelrestaurant Jagor, unter den Linden 23, aus, über die »ambrosianischen Süßigkeiten« bei Josty an der Stechbahn oder im Café Royal an der Ecke Charlottenstraße/Unter den Linden, wo er E. T. A. Hoffmann und seinem »Kater Murr« begegnet.8) Seine jugendliche Begeisterung trübt nicht seinen kritischen Blick. Über die Universität schreibt er: »Fürwahr ein herrliches Gebäude! Nur schade, die wenigsten Hörsäle sind geräumig, die meisten düster
SeitenanfangNächste Seite


   28   Probleme/Projekte/Prozesse Heines »Briefe aus Berlin«  Vorige SeiteNächste Seite
und unfreundlich.« Schlimmer aber findet er, »daß 32 Studenten relegiert worden, wegen unerlaubter Verbindungen«.9)

Ein ergötzlicher Parteikampf in der Musik

Im Mittelpunkt von Heines Briefen aus Berlin – und das unterscheidet sie von den fast zur gleichen Zeit geschriebenen, sich auf oberflächliche Hofberichterstattung und gesellschaftliche Plaudereien beschränkenden »Briefe über Berlin« der Baronin Karoline de la Motte Fouqué – stehen die künstlerisch-ästhetischen und geistig-politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit. Im zwei-

ten Brief zeigt Heine, daß der »heftige Parteienkampf von Liberalen und Ultras, wie wir ihn in anderen Hauptstädten sehen« in Berlin nicht offen politisch ausgetragen wird, »weil die königliche Macht, kräftig und parteilos schlichtend, in der Mitte steht«. Als eine Art Stellvertreterkrieg gebe es dafür »in Berlin oft einen ergötzlichern Parteikampf, den in der Musik«.10) Es ist der Kampf zwischen den Anhängern des Generalmusikdirektors Spontini, von dem besonders »die Noblesse« angesprochen wird, und denen Carl Maria von Webers. Während der größte Teil der Berliner in Spontinis Musik »nur Pauken und Trompetenschlag, schallenden Bombast und gespreizte Unnatur« sehe, seien die meisten von Webers »Freischütz« entzückt. »... der >Jungfernkranz< ist permanent; jeder pfeift ihn mit eigenen Variationen; ja ich glaube fast, die Hunde auf der Straße bellen ihn.«11) Um den eher vergnüglich geschilderten »Parteikampf in der Musik« gruppiert Heine in seinem zweiten Brief von ihm ernster genommene Ereignisse, die den Kampf der Hofpartei gegen
Heinrich Heine (dritter von links) im Berliner Salon von Rahel Varnhagen, Holzstich von 1822
SeitenanfangNächste Seite


   29   Probleme/Projekte/Prozesse Heines »Briefe aus Berlin«  Vorige SeiteNächste Seite
fortschrittliches, liberales Gedankengut spiegeln. »Es ist jetzt bestimmt, daß das Kleistsche Schauspiel >Der Prinz von Homburg oder die Schlacht bei Fehrbellin< nicht auf unserer Bühne erscheinen wird, und zwar, wie ich höre, weil eine edle Dame glaubt, daß ihr Ahnherr in einer unedlen Gestalt erscheine.« Mit der »edlen Dame« war die Prinzessin Wilhelm geb. von Hessen-Homburg gemeint, die ein königliches Verbot gegen das wohl bedeutendste Stück des zehn Jahre zuvor durch Freitod am Wannsee tragisch geendeten Dichters erwirkt hatte. Heine findet, daß Kleists hohenzollernsche Heldentugenden kritisch betrachtendes Drama »gleichsam vom Genius der Poesie selbst geschrieben ist und daß es mehr Wert hat als all jene Farcen und Spektakelstücke und Houwaldschen Rühreier, die man uns täglich auftischt.«12) An gleicher Stelle berichtet Heine darüber, daß E. T. A. Hoffmanns »Meister Floh« bei seinem Erscheinen in Frankfurt »auf Requisition unserer Regierung konfisziert worden« ist mit der Begründung, er »persifliere die Kommission, welche die Untersuchung der demagogischen Umtriebe leitet«. Er werde »aber jetzt mit einigen Abänderungen gedruckt«.13) Ebenso empört sich Heine darüber, daß »die Lesebibliotheken ... von Seiten der Polizei einer Revision unterworfen« werden und sie »ihre Kataloge einliefern« müssen.14)
     Der dritte Brief gestaltet sich dann geradezu zu einer Persiflage auf die Hofgesell-
schaft. In ihm berichtet Heine über »die hohe Vermählung Ihrer Königlichen Hoheit, der Prinzessin Alexandrine mit Sr. Königlichen Hoheit, dem Erbgroßherzog von Mecklenburg-Schwerin« am 25. Mai 1822, zu der er, Heine, seinen »Galarock, schwarzseidene Hosen und dito Strümpfe angezogen« habe.15) In die Schilderungen von der »schönen Komtesse«, die in ihrem »Zypressenwuchs« aussehe »wie eine Blume, die zwischen zwei Blättern Löschpapier geraten ist«, und von den Bedienenden, die »mehr Gold und Silber am Leibe« tragen »als das ganze Hauspersonal des Bürgermeisters von Nordamerika«, mischt Heine die Erinnerung an die »alten Revolutionsgeschichten« mit »nichts als Guillotinen, Laternen, Septembresieren«. Da ist die Ironie dann kaum noch versteckt, wenn Heine in diesem Zusammenhang schreibt: »Es ist eine der schönsten Züge im Charakter der Berliner, daß sie den König und das königliche Haus ganz unbeschreiblich lieben.«16) Sich von jedem romantisierenden national-reaktionären Pathos abgrenzend, räumt Heine ein, daß er »bittern, spottenden Tones ... zuweilen von Dingen spreche, die anderen Leuten teuer sind«. So von Körners antifranzösischen »flachen, poesielosen Versen, die uns gute Deutsche so sehr enthusiasmieren«, oder davon, »wie der greise Schimmel des großen Friedrichs wieder jugendlich sich bäumte und das ganze Manöver machte, wenn er eine Trompete hörte«.17)
     Heine, der im Angesicht des Brandenburger Tores daran erinnert, daß die »gute Frau
SeitenanfangNächste Seite


   30   Probleme/Projekte/Prozesse Heines »Briefe aus Berlin«  Vorige SeiteAnfang
da oben«, die Siegesgöttin Victoria, »auch ihre Schicksale«18) gehabt hat, bekennt: »Meine Seele glüht zu sehr für die wahre Freiheit, als daß mich nicht der Unmut ergreifen sollte, wenn ich unsere winzigen, breit schwatzenden Freiheitshelden ... betrachte.« Er liebe Deutschland zu sehr, als daß er »einstimmen könnte in das unsinnige Gewäsche jener Pfennigsmenschen, die mit dem Deutschtume kokettieren«.19)
     Und an anderer Stelle: »Ich liebe Deutschland und die Deutschen; aber ich liebe nicht minder die Bewohner des übrigen Teils der Erde, deren Zahl vierzigmal größer ist als die der Deutschen.«20) Ein Satz, der heute aktueller denn je ist, gerade weil der »übrige Teil« wesentlich mehr geworden ist und wir mit ihm enger zusammenleben.
     Dem dritten Brief sollten weitere folgen. Wegen Heines Verärgerung über die Zensur kam es nicht dazu. War der erste Brief noch unzensiert erschienen, so wurden im zweiten einige kritische Äußerungen über Spontini gestrichen. Im dritten Brief ist, wie Heine am 1. September 1822 an seinen Freund Ernst Christian August Keller schrieb, »auf unverzeihliche Weise geschnitten worden. Schulz (der Herausgeber des >Rheinisch-Westfälischen Anzeigers<, d. V.) schreibt, es sey die Censur gewesen«.21)
     Mit seinen »Briefen aus Berlin« hat Heine sich nicht nur bei der preußischen Regierung wie bei allen Reaktionären und Muckerern verdächtig, bei den Freunden eines
freiheitlich-spöttischen Geistes aber außerordentlich beliebt gemacht. Er wurde damit auch gleichsam Mitbegründer eines neuen literarisch-journalistischen Genres, des gleichermaßen unterhaltsamen wie detailreichen und kulturhistorisch tiefschürfenden Lokalbzw. Reisefeuilletons.

     Quellen:
1      Und grüß mich nicht Unter den Linden. Heine in Berlin, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1981, S. 144
2      Ebenda, S. 124
3      Ebenda
4      Ebenda, S. 125
5      Ebenda, S. 129
6      Ebenda, S. 135
7      Ebenda, S. 132, 170
8      Ebenda, S. 134, 137
9      Ebenda, S. 129, 192
10     Ebenda, S. 149
11     Ebenda, S. 148, 151 f.
12     Ebenda, S. 162
13     Ebenda, S. 162 f.
14     Ebenda, S. 164
15     Ebenda, S. 175
16     Ebenda, S. 175–181
17     Ebenda, S. 184
18     Ebenda, S. 135
19     Ebenda, S. 184
20     Ebenda, S. 173
21     Siehe Gerhard Höhn: Heine. Zeit, Person, Werk, Metzlersche Verlagsbuchhandlung Stuttgart 1987, S. 139

SeitenanfangAnfang

© Edition Luisenstadt, 1997
www.luise-berlin.de