19   Probleme/Projekte/Prozesse Frauenrechtlerin Lina Morgenstern  Nächste Seite
keit waren die Folgen. Zudem mißbilligten die Eltern ihre Neigung zu dem armen jüdischen Kaufmann Theodor Morgenstern.
     Ihm zuliebe lernte sie Polnisch und gab später eine Übersetzung der religiösen Nationallieder Polens heraus.
     Die Ereignisse der Revolution von 1848 lenkten Lina von ihren Problemen ab. Sie nahm Anteil an den aktuellen politischen Geschehnissen und suchte nach sozialen Aufgaben. Gerade 18 Jahre alt, gründete sie mit Hilfe ihrer Mutter in Breslau einen »Pfennigverein zur Unterstützung armer Schulkinder«, der über 80 Jahre bestand. Als 1854 die Eltern der Heirat mit Theodor Morgenstern zustimmten, gab Lina die Leitung des Vereins ab und zog nach Berlin, wo ihr Mann inzwischen einen Großhandel eröffnet hatte. Die Berliner Statistik weist für 1864 bei einer Gesamtbevölkerung von 585 046 Personen 24 189 Juden aus. Ein Drittel von ihnen konnte zum wohlhabenden Groß- und Mittelbürgertum gerechnet werden. Reiche Juden waren nach ihrer Religion zur sozialen Fürsorge verpflichtet. Im Alten Testament heißt es: »Wenn ein Armer in deiner Mitte ist, so verhärte nicht dein Herz und verschließe nicht deine Hand vor deinem armen Bruder. Geben sollst du ihm wiederholt, und dein Herz sei nicht böse, wenn du ihm gibst.«
     Das hebräische Wort »Zedaka« bedeutet Gerechtigkeit; gemeint ist eine pflichtgemäße Wohltätigkeit als ausgleichende soziale
Zitta Übel
Märchenbücher und Volksküchen

Zum Wirken der Frauenrechtlerin Lina Morgenstern

Lina wurde am 25. November 1830 in Breslau in einer jüdischen Familie geboren, in der Wohltätigkeit für Arme und Bedürftige Tradition war. Der Vater, ein wohlhabender Fabrikant, Albert Bauer, ließ ein Wohnhaus für seine Arbeiter errichten. Die Mutter Fanny, Tochter des Krakauer Senators Jacob Adler, und ihre Schwestern versuchten durch Unterricht einzelne »sittlich verwahrloste« arme Mädchen zu bessern. Lina besuchte von ihrem sechsten bis 15. Lebensjahr eine Höhere Mädchenschule. Danach lebte sie im Elternhaus, teilte sich mit ihren vier Schwestern alle anfallenden Arbeiten im Haus, nahm Musikstunden, trieb autodidaktische Studien in Literatur- und Kunstgeschichte, lernte Sprachen, beschäftigte sich mit Naturwissenschaft und schließlich mit Astronomie. Sie neigte zur Sentimentalität, versank in Träumereien und verlor immer mehr den Bezug zum realen Leben. Die Mutter schränkte deshalb ihre Studien und schriftstellerischen Versuche stark ein. Lina verlegte diese in die Nacht. Kränklichkeit, nervöse Störungen und starke Kurzsichtig-

SeitenanfangNächste Seite


   20   Probleme/Projekte/Prozesse Frauenrechtlerin Lina Morgenstern  Vorige SeiteNächste Seite
Gerechtigkeit, die im wesentlichen durch Geldspenden ausgeübt wird. Da »Zedaka« geben als ein Akt der Gerechtigkeit galt, brauchte sich – im Unterschied zum christlichen Almosenwesen – der Beschenkte nicht gedemütigt zu fühlen. Selbst assimilierte und getaufte Juden hielten daran fest. Lina Morgenstern ging noch über das Gebot der »Zedaka« hinaus. Als höhere Form der Wohltätigkeit galt der persönliche Einsatz in der Armenfürsorge, »Gemilut chessed« genannt. Durch die große Bereitschaft zum sozialen Engagement ist es nicht verwunderlich, daß Lina später zahlreiche jüdische Geldgeber und freiwillige Helferinnen für ihre Unternehmungen fand.
     Wie andere frühe Frauenrechtlerinnen wurde Lina Morgenstern erst durch die Werke von Friedrich Fröbel (1782–1852) angeregt, mit sozialer Arbeit an die Öffentlichkeit zu treten. Das Studium seiner Schriften prägte ihre Einstellung zur Frauenfrage. Nach Fröbel hatte die Frau die Zukunft des menschlichen Geschlechts in der Hand, da sie die sechs ersten entscheidenden Lebensjahre des Kindes gestaltet. Jedes Mädchen sollte deshalb eine Ausbildung als Erzieherin erhalten. Entgegen den bis dahin verbreiteten »Kinderbewahranstalten« sollten hier in seinen Kindergärten alle Klassen durch angeleitetes Spiel, Musik und Handarbeiten in einer Art Vorschule gefördert werden. Evangelische, katholische und jüdische Kinder sollten gemeinsam wie in einer
großen Familie heranwachsen. Dieser Aspekt erweckte das Mißtrauen des preußischen Kultusministers Karl Otto von Raumer (1805–1859), der daraufhin die Kindergärten verbot. Noch vor der Aufhebung des Kindergartenverbots im Jahr 1860 trat Lina dem »Frauenverein zur Förderung der Fröbelschen Kindergärten« bei, bis 1866 war sie dessen Vorsitzende. Bereits 1862 schuf sie das Kinderpflegerinnen-Institut, in dem auch Mädchen aus den unteren Volksschichten ausgebildet wurden.
     Finanzielle Schwierigkeiten ihres Mannes veranlaßten Lina, auf ihr schriftstellerisches Talent zurückzugreifen. Da Fröbels Schriften schwer zugänglich waren, verfaßte sie 1861 ein Handbuch der Fröbelschen Lehre, das Seminaren für Kindergärtnerinnen im In- und Ausland als Leitfaden diente. »Das Paradies der Kindheit« erlebte bis 1905 sieben Auflagen und wurde ein großer buchhändlerischer Erfolg. Sie schrieb weitere Werke für den Kindergarten sowie Kinder- und Märchenbücher.
     Populär wurde Lina Morgenstern durch die Gründung der Berliner Volksküchen im Jahr 1866, die ihr im Volksmund den liebevollschnoddrigen Spitznamen »Suppenlina« einbrachte. Anlaß war die Verteuerung und Verknappung der Lebensmittel, als sich der Krieg zwischen Preußen und Österreich abzeichnete. Die steigenden Preise und verschlechterten Arbeitsmöglichkeiten konnten nach Linas Meinung durch einen preisgün-
SeitenanfangNächste Seite


   21   Probleme/Projekte/Prozesse Frauenrechtlerin Lina Morgenstern  Vorige SeiteNächste Seite
stigen Großeinkauf von Lebensmitteln und die Massenherstellung von Mahlzeiten aufgefangen werden. Damit war die Idee zu einer billigen öffentlichen Volksspeisung aus einer Zentralküche geboren. Durch ehrenamtliche Arbeit konnten die Volksküchen Mahlzeiten zum Selbstkostenpreis abgeben, dadurch trugen sich die Küchen selbst. Nur die Grundeinrichtung mußte durch Spenden finanziert werden. Außerdem konnte man auf Leipziger Erfahrungen aufbauen, wo schon seit 1849 eine Volksküche bestand. Die Idee fand Anklang, zumal Lina einflußreiche Fürsprecher gewinnen konnte, so Dr. Adolf Lette (1799–1868), der gerade den »Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts« gegründet hatte, und Rudolf Virchow (1821–1902), nicht nur Arzt und Forscher, sondern auch Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses und des Deutschen Reichstages. Die Vossische Zeitung machte sich zum Sprachrohr der Volksküchenbewegung und rief zu Spenden auf. Anfang Juni 1866 konstituierte sich der Verein der Berliner Volksküchen. Lina Morgen-

Aus einer Figur des Märchenbrunnens im Friedrichshain machte der Berliner Volkswitz: »Det Frollein aus der Wohlfahrtsküche mit dem Linsengericht für morjen!«

SeitenanfangNächste Seite


   22   Probleme/Projekte/Prozesse Frauenrechtlerin Lina Morgenstern  Vorige SeiteNächste Seite
sterns Spendenaufruf vom 8. Juni erbrachte ein Gründungskapital von mehr als 13 000 Mark. Den Vereinsstatuten entsprechend, war die Repräsentation nach außen, die Überwachung der Finanzen und der technischen Einrichtungen, insgesamt sieben Posten, den Männern vorbehalten. Einen dieser Posten übernahm Theodor Morgenstern, der von nun an bei allen Unternehmungen seiner Frau mitarbeitete. Nur zwei Frauen waren ständige Mitglieder des Zentralvorstands: Lina Morgenstern als Vorsitzende der Küchenvorstände und Johanna Lehmann als ihre Stellvertreterin.
     Als Ende Juni Herren des Vorstands aus Angst vor der ausbrechenden Cholera Berlin verlassen wollten und somit die bevorstehende Eröffnung der ersten Volksküche gefährdet war, holte sich Lina vom 1. Vorstand die Erlaubnis, innerhalb von drei Tagen diese selbst einzurichten. Die Bewilligung erhielt sie mit dem Kommentar: »Was die Männer bis jetzt nicht vermochten, wird eine Frau nicht in drei Tagen vollbringen.« Doch Lina Morgenstern setzte alle Hebel in Bewegung und konnte am 7. Juli ihre erste Volksküche in einem Lokal der städtischen Armenspeisung vorstellen und bereits am ersten Tag 100 Portionen an Bedürftige verkaufen. Das Essen sollte zu Hause verzehrt werden. Die Essenausgabe in großen Speisesälen wagte man noch nicht. Das Bürgertum fürchtete sich vor der »Zusammenrottung« und den »Ausschreitungen« hun-
gernder Menschen, war es doch erst am 4. Juli zu Arbeiterunruhen vor dem Rathaus gekommen. (BM 6/1996) Bei der Einrichtung weiterer Volksküchen ging man mehr und mehr dazu über, Suppenstuben wie die Strousbergsche in der Dorotheenstraße mit langen Holztischen und -bänken einzurichten. Bis Ende 1868 hatte Lina zehn Volksküchen eingerichtet. Pro Kopf wurde durchschnittlich ein Liter Gemüse in Bouillon gekocht und ca. 85 Gramm Fleisch gegeben. Die Preise dafür schwankten zwischen 15 und 25 Pfennig, ein Napf Löffelerbsen mit Speck kostete 20 Pfennig, Milchreis mit Zimt und Zucker zehn Pfennig. Die Not zwang immer mehr Menschen, die Volksküchen zu benutzen, und Lina entwickelte über 80 Rezepte für die Großküchen. Dabei versuchte sie, die neuesten Erkenntnisse der Ernährungslehre umzusetzen und zugleich den Geschmack des Berliner Publikums zu treffen. Viele Gerichte bestanden aus Kartoffeln und Fleisch. Es gab aber auch Zusammenstellungen von Erbsen, weißen Bohnen, Linsen, Kohl, Graupen und Buchweizengrütze mit Speck, Rind- oder Schweinefleisch. Als Süßspeisen gab es z. B. Hefeklöße mit Pflaumenmussauce. Aber auch die Kombination von süßem Milchreis, Hirsebrei oder Buchweizengrütze mit Zucker und Zimt und Würstchen, Klopsen oder Pökelfleisch. Das alles waren Kombinationen des Volkes, die in den Küchen berücksichtigt wurden. Schrifttafeln am Eingang der Volksküchen
SeitenanfangNächste Seite


   23   Probleme/Projekte/Prozesse Frauenrechtlerin Lina Morgenstern  Vorige SeiteNächste Seite
machten auf die Hausordnung aufmerksam:

     »Kopfbedeckung ab!
     Keine laute Unterhaltung!
     Nicht rauchen!
     Nach dem Essen kein Aufenthalt!«

     Die letzte Aufforderung richtete sich vor allem an die Arbeiter, die nach dem Essen gerne noch Karten spielten. Schon bald fanden sich mittags nicht nur Arbeiter und Arbeitslose ein, sondern auch ganze Familien. Das gab Anlaß, Lina öffentlich anzugreifen. Sie zerstöre das häusliche Familienleben und leiste der Faulheit der Frauen Vorschub, hieß es. Da nicht die Hausfrauen des Mittelstandes, sondern Arbeiterinnen aus den Hinterhöfen kamen, die weder die Zeit noch das Geld hatten, selbst eine gesunde und nahrhafte Familienmahlzeit zu kochen, forderte Suppenlina denn auch: nicht die Volksküchen, wohl aber die sozialen Verhältnisse müßten verändert werden.
     Der Verein der Berliner Volksküchen fand das Wohlwollen der Königin seit 1871 deutsche Kaiserin Augusta (1811–1890). Seit 1867 stand er unter ihrem Protektorat. Mehrmals erschien sie mit ihrem Gefolge in den Volksküchen. Sie stiftete Prämien für drei-, fünf- und zehnjährige Dienstzeit in den Küchen. Lange vor der Sozialgesetzgebung des Staates sicherte dieser Verein seine Arbeiterinnen und Angestellten gegen krankheits- oder altersbedingte Arbeitsunfähigkeit ab.

Mit den in Aussicht gestellten Belohnungen für langjährigen Dienst und die gesicherte Altersversorgung hatte er zugleich ein wirksames Disziplinierungsmittel für das Küchenpersonal gefunden. In mehr als 30 Städten wurden nach dem Berliner Vorbild Volksküchen errichtet. Doch Lina Morgensterns Volksküchen gehörten zu den erfolgreichsten Unternehmungen bürgerlicher Wohltätigkeit. Auf Kochkunstausstellungen in Brüssel, Amsterdam und Hamburg wurden die Berliner Volksküchen mit Preisen bedacht. 1883 erhielten sie die Goldmedaille auf der Ausstellung für Hygiene und Rettungswesen in Berlin. Diese öffentliche Anerkennung lenkte auch die Aufmerksamkeit der Antisemiten auf Lina Morgensterns Unternehmen. Ihnen war die jüdische Wohltätigkeit ein Dorn im Auge, und Lina mußtesich bei ihren weiteren Vereinsgründungen fast immer mit gehässigen antisemitischen Angriffen auseinandersetzen.
     Sie war eine Frau der Tat, nicht der großen Parolen. Packte zu, wo es nötig war, koordinierte, kämpfte. Das Ärmelhochkrempeln im richtigen Augenblick mag den Berlinern in besonderer Weise imponiert haben. So gründete sie in Berlin eine Mägdeherberge, wo die Dienstboten vom Land erst einmal unterkommen konnten. Sie kümmerte sich um die hauswirtschaftliche Ausbildung schulentlassener Mädchen ebenso wie um die Erziehung strafentlassener Minderjähriger. Gemeinsam mit der Frauenrechtlerin
SeitenanfangNächste Seite


   24   Probleme/Projekte/Prozesse Frauenrechtlerin Lina Morgenstern  Vorige SeiteNächste Seite
Louise Otto-Peters (1819-1895) rief sie einen Arbeiterinnenbildungsverein ins Leben und gründete einen Kinderschutzverein, der sich der Kinder lediger mittelloser Mütter annahm.
     Mitte Juli 1870 übertrug das preußische Proviantamt Lina Morgenstern die Verpflegung der nach Frankreich ausrückenden Truppen auf den ost- und niederschlesischen Bahnhöfen. In kurzer Zeit verwandelte sie einen Güterschuppen in eine Speisehalle für 2 000 Männer. Unter der Leitung von Lina und Theodor Morgenstern wurde ein »Erfrischungscomité« eingerichtet. Fast 90 bewährte Mitarbeiterinnen des Volksküchenvereins und 15 Männer stellten sich zur Verfügung. Zahlreiche Spender unterstützten ihr Unternehmen, so daß sie eine Feldpost, ein photographisches Atelier und eine Feldapotheke einrichten konnte. Vom 22. Juli bis 2. August wurden 59 000 Soldaten verpflegt. Die Frauen des Erfrischungscomités verbrachten Tag und Nacht auf den Bahnhöfen. Zwischen der Ankunft der Truppentransporte schliefen sie in der Kleiderkammer, notfalls auf den Erbsen und Kartoffelsäcken, dem sorgsam gehüteten Vorrat für die Truppenspeisungen. Die Berlinerinnen halfen, wo sie nur konnten. Bei eisiger Kälte betreuten sie die heimkehrenden und durchziehenden Soldaten auf Bahnhöfen und in eilig hergerichteten Massenquartieren. Verwundete, Krüppel und Erschöpfte boten tagtäglich erdrückende Bilder
des Elends. Bahren wurden bereitgestellt, Verbandszeug, warme Decken und Töpfe mit dampfender Suppe herangeschleppt. Da staatlicherseits kein Lazarett eingerichtet wurde, bat man zwei Ärzte um Beistand. Erst nach einem Appell Linas an die Königin Augusta wurden von offizieller Seite Militärärzte abgeordnet.
     Lina Morgenstern hatte – wie sie es ausdrückte – aus Vaterlandsliebe »für Tausende mütterlich sorgen« können. Ihrer Meinung nach war es Aufgabe der Frau, im Krieg Leiden zu mildern, Strapazen zu erleichtern, Gemüter zu ermutigen und Wunden zu
heilen. All das suchte sie mit ihrem Dienst auf den Berliner Bahnhöfen zu verwirklichen. Ihre Leistungen wurden von staatlicher Seite durch die Verleihung der goldenen Augusta-Medaille, durch das Verdienstkreuz und die Kriegsmedaille gewürdigt. Vermutlich waren aber ihre Erlebnisse mit verwundeten und sterbenden französischen Soldaten der Anlaß, daß sie mehreren Friedensgesellschaften beitrat.
     In den 90er Jahren, als in Deutschland intensiv gerüstet wurde, warb sie als Delegierte der »Ligue internationale pour le Désarmement général«, der »Ligue francaise pour la paix« und der »Deutschen Friedensgesellschaft« für Frauenfriedensgruppen.
     Von großer Bedeutung war 1873 die Gründung des Berliner Hausfrauenvereins. Lina gliederte dem Verein eine Kochschule und eine Dienstbotenvermittlung an. Es über-
SeitenanfangNächste Seite


   25   Probleme/Projekte/Prozesse Frauenrechtlerin Lina Morgenstern  Vorige SeiteAnfang
rascht, daß Lina das Vereinsorgan, die »Deutsche Hausfrauenzeitung«, 30 Jahre redaktionell betreute, weil ihr, wie sie immer wieder betonte, das Schreiben weniger lag als das Handeln und weil sie sich von fast all ihren Projekten dann löste, wenn sie sicher auf eigenen Füßen standen und ihrer nicht mehr bedurften.
     Daß die schon legendäre Suppenlina ohne ihr Zutun mit immer mehr Aufgaben betraut wurde, konnte nicht ausbleiben. Sie wurde in den Vorstand des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins gewählt und arbeitete mit, als sich 1894 der Bund Deutscher Frauenvereine konstituierte. 1896 berief sie einen Internationalen Frauenkongreß nach Berlin ein, den ersten, der auf deutschem Boden stattfand. Hier wurde nicht nur über Frauenbewegung und allgemeine Frauenfragen diskutiert, sondern auch über das Thema, das Lina Morgenstern immer stärker beschäftigte: Weltfrieden. Unter dem Einfluß von Bertha von Suttners (1843–1914) Roman »Die Waffen nieder!« und in Erinnerung an all die Verwundeten und Krüppel, die sie im Kriegswinter 1870/71 auf den Bahnhöfen betreut hatte, setzte sie sich mit zunehmender Leidenschaft für eine internationale Friedensbewegung ein. Das brachte ihr auch über die Grenzen Deutschland hinaus Achtung und Ansehen ein.
     Lina Morgenstern war eine starke Persönlichkeit, die mit großer Überzeugung an ihren Idealen festhielt. Durch soziale Arbeit
im Rahmen der deutschen Frauenbewegung glaubte sie, ihr Ideal der allgemeinen Menschenliebe, der »Menschenverbrüderung«, ihre Hoffnung auf die völlige Integration der Juden ins deutsche Bürgertum verwirklichen zu können. Sie bewies, daß Frauenarbeit in Friedenswie in Kriegszeiten für die Volkswirtschaft von großem Nutzen sein konnte. Ihre Leistung wurde jedoch nur von den Regierenden gewürdigt. Die Institution der Volksküchen wie auch Lina Morgenstern persönlich wurden von rechts und links attackiert. Gegen die antisemitischen Angriffe verteidigte sie sich, indem sie sagte: »Für die Fehler Einzelner ist die gesamte Judenheit ebensowenig verantwortlich zu machen, als für die Fehler Einzelner die gesamte Christenheit.«
     Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs hat sie nicht mehr erlebt. Sie starb am 19. Dezember 1909 in Berlin in der Überzeugung, daß eines Tages ein Zusammenleben in einer Welt ohne Krieg möglich sein würde. Lina Morgenstern ruht auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee.

Bildquelle: Berliner Denkmäler im Volkswitz, Atlantis Verlag Berlin 1933

SeitenanfangAnfang

© Edition Luisenstadt, 1997
www.luise-berlin.de