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Hans Aschenbrenner
Lübars, das letzte
Dorf Berlins, wurde
750 Jahre alt

Lübars ist eines von sechs Dörfern auf märkischem Sand zwischen Wäldern und Seen, die zum Landkreis Niederbarnim gehörten und den Ursprung des heutigen Reinickendorf bilden. Es ist das älteste Dorf des Bezirks im Berliner Norden. Bei allem, was im Laufe der Zeit infolge verschiedenster Unbilden zerstört wurde und dann wieder aufgebaut werden mußte, ist sein Antlitz im eigentlichen Ortskern ziemlich unverändert. Der dörfliche Charakter ist weitgehend erhalten geblieben. Auf der Westseite gabelt sich die Dorfstraße, Alt-Lübars, hinter dem schmalen, von den hohen Mauern zweier Bauernhöfe eingefaßten Zugang. Auf dem Dorfanger, Endhaltestelle der Buslinie 222, die von Tegel aus vorbei am S-Bahnhof Waidmannslust hierher führt, steht die 1793 eingeweihte Dorfkirche. Sie wurde im Langhansschen Stil an Stelle einer drei Jahre zuvor abgebrannten Fachwerkkirche gebaut und 1965 restauriert. »1793« steht noch immer auf der Wetterfahne, die sich auf ihrem Turm dreht. Viele Berliner lassen sich hier trauen. Daneben ein altes Schulhaus und das

Spritzenhaus der Feuerwehr. Die Häuser am Dorfanger legen Zeugnis ab von gediegener Lebensart. Beide Zweige der Straße vereinen sich alsbald wieder, um mit scharfem Knick in die Blankenfelder Chaussee zu führen. Auch der Name des Ortes – er enthält das wendisch-slawische Wort »Ljuba« (Liebe), eine slawische Siedlung läßt sich allerdings nicht nachweisen – ist, abgesehen von geringfügigen klanglichen Abweichungen, gleich geblieben: »Lubas« und »Lubasz« im 13. und 14. Jahrhundert, später auch »Lubarsz«, »Libars«, »Lybarsch«, »Liebbarsch« und seit dem 18. Jahrhundert endgültig »Lübars«.
     Die erste bezeugte, im Original aber leider nicht mehr vorhandene Urkunde, in der das Dorf erwähnt ist, datiert in das Jahr 1247. Von Naturalabgaben in Form von Honig ist da die Rede, woraus entnommen werden kann, daß das Dorf älter als »offiziell ausgewiesen« ist. Wie alt genau, weiß kein Mensch. Heute zählt Lübars 5 000 Einwohner und nimmt eine Fläche von 4,9 Quadratkilometern ein.
     Von August bis Oktober fanden die Festlichkeiten zum Dorfjubiläum statt, ohne Spektakel, »Kommerz-Rummel«, mit gediegenen kulturellen Veranstaltungen, alles gut dosiert, auf die Geschichte der »eigenen kleinen Welt« bezogen, wie es Axel Luther, Pfarrer der evangelischen Dorfgemeinde, formuliert. Im Pfarrhaus gab es dazu eine Ausstellung – neben Schautafeln, Karten
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und Dokumenten auch ein mehrere Meter großes Dorfmodell –, die vom Heimatmuseum Reinickendorf unter Leitung von Ingolf Wernicke realisiert wurde. Sie war später auch im Heimatmuseum, Alt Hermsdorf 35, zu sehen. Der Leiter sowie Mitarbeiter des Heimatmuseums, Mitglieder des Reinickendorfer Förderkreises für Kultur und Bildung, Pfarrer Axel Luther, Archäologie-Student Torsten Dressler und alteingesessene Lübarser steuerten Beiträge für eine Festschrift (Jaron Verlag) bei. Zu einem Höhepunkt der Feiern gestaltete sich im September der »Tag der offenen Höfe«. Zu Tausenden kamen die Berliner, um die seltene Gelegenheit zu nutzen, Einblick in modernes bäuerliches Leben zu nehmen und den von Reinickendorfs Bürgermeisterin Marlies Wanjura angeführten Festumzug mitzuerleben. Im Zug ein Pferdewagen, von dem aus junge »Nonnen« Honig der Lübarser Familie Riebschläger verkauften.
     »Süß« war einstmals auch der Anlaß für die Ersterwähnung von Lübars: »ein vorschreibung marggraf Johansen und Otten

belangt die beuth der dorffer Krummensehe und Lubars datum 1247«. Urkundlich, leider ohne nähere Angaben über Alter und Entstehung des Bauerndörfchens, wurde durch den Markgrafen festgesetzt, daß die Bauern von Lübars (und Krummensee) ihre Beuth – die Ernte aus den Bienenstöcken, Klotzbeuten genannt – an das 1239 gegründete Spandauer Benediktinerinnen-Kloster abzuliefern hätten. Im Klartext: Das Dorf schuldete den Nonnen Honig, zum Süßen von Speis' und Trank, aber auch Wachs, um Altarkerzen und Kirchenlichte herzustellen. 1270 übereigneten askanische Markgrafen nicht mehr nur die Honigernte, sondern das ganze Dorf dem Nonnenkloster St. Marien zu Spandau. Im Landbuch von 1375 findet sich der Eintrag: »Lubas hat 28 Hufen, von denen der Pfarrer 4 hat. An Pacht zahlt jede Hufe 3 Scheffel Roggen und 3 Scheffel Hafer, an Zins 2 Schilling, an Bede 2 Pfennig. Im Dorf wohnen sechs Kossäten, von denen jeder 1 Schilling und ein Huhn zahlt. Das Dorf gehört von alters her den Nonnen in Spandau.«
     Letzterer Umstand sollte sich bald als gar

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bedeutete) zu verrichten, aber in Gestalt adliger Grundbesitzer hätte es gewiß auch schlimmer kommen können. Nach der Auflösung des Marienklosters 1558, womit es all seine Güter und Dörfer an den Kurfürsten abtrat, wurde Lübars wie auch Dalldorf und Tegel nunmehr dem kurfürstlichen Amt Spandau unterstellt.

Lübarser haben sich im Krieg
»nit gebrauchen lassen«

Aus Klosterbauern waren damit Amtsbauern geworden. Für Lübars, klein, alles andere als reich, begannen schwere Zeiten. Und doch gab es auch diesmal glückliche Umstände, die das Schlimmste verhinderten. Vor allem die abseitige Lage des Dorfes stellte sich nun als durchaus vorteilhaft heraus. Anders als Wittenau, Hermsdorf oder Tegel, lag es an keiner der Hauptverkehrsstraßen, auch wenn natürlich Verbindungswege, etwa nach Blankenfelde, Rosenthal und Schildow, existierten. So hat es Plünderungen und Zerstörungen kaum gegeben. Hinter den Rollbergen versteckt gelegen und von der großen Heerstraße, die von Bernau nach Spandau führte (heute alter Bernauer Heerweg) nicht einsehbar, konnte es selbst den Dreißigjährigen Krieg einigermaßen glimpflich überstehen. Zwar hatte man Kontributionen an die kaiserlichen Truppen, später an die schwedischen Fahnen zu entrichten, aber sonst steht schwarz auf weiß fest, daß

Erste Seite aus dem ältesten Kirchenbuch von Lübars, 1746
nicht so nachteilig erweisen. Denn im Burgfrieden zwischen den Nonnen und dem berüchtigten Dietrich von Quitzow bewirkte, daß Lübars von den Raubrittern verschont wurde. Noch viele Jahre hatten die Lübarser den Nonnen dienstbar zu sein, dabei auch Hand- und Spanndienste in Spandau »auf dem Plan« (in Gartenfeld, was einen Weg von immerhin zwei preußischen Meilen
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Erwähnung von Lübars 1375 im Landbuch
Kaiser Karls IV.

sich die Lübarser im Kriege »nit haben gebrauchen lassen«.
     Unter den preußischen Königen erholte sich das Dorf von den Folgen des Krieges. Die Pest, die 1348 auch hier wütete, Raubzüge, Kriege hatte man hinter sich gebracht, als dann 1790 eine große Feuersbrunst das halbe Dorf dem Erdboden gleichmachte; in den Flammen gingen damals auch Schmiede, Hirtenhaus, der Hof des Lehnschulzen und die aus Holz- und Lehmwänden bestehende Kirche auf. Wieder galt es, neu Hand anzulegen.
     Die vom Freiherrn vom und zum Stein 1807 in Gang gesetzte Bauernbefreiung erließ 1812 Lübars – genauer gesagt, waren es sechs
Bauern und fünf Kossäten – gegen ein an das Amt Spandau zu zahlendes Dienstgeld die Frondienste, wobei die letzten Lasten allerdings erst 1850/51 von dem Dorf genommen wurden. In jene Jahre fielen eine Reihe wichtiger Ereignisse: 1820 stand das erste Schulhaus (vorher wurde in der Wohnstube des Lehrers unterrichtet). Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden kleine Industriebetriebe: Tonstich, zwei Ziegeleien (die letzte 1924 stillgelegt, wobei später aus der Tongrube ein Freibad wurde). Man belieferte das schnell wachsende Berlin mit Rohstoffen. Lübarser Tonziegel fanden unter anderem beim Moabiter Zellengefängnis, beim Gymnasium in der Weinmeisterstraße und teil-
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weise auch bei der Errichtung des Berliner Rathauses Verwendung. In Verbindung mit dem Wiesenkalk des Fließes konnte zudem ein Kunststein hergestellt werden, aus dem die Reliefs am Berliner Rathaus geformt wurden. Die Lübarser Bauern brachten ihre landwirtschaftlich angebauten Produkte nun auch auf Berliner Märkte, z. B. auf den Hackeschen Markt. Von 1850 bis 1875 führte die Errichtung der Neusiedlung »Vogtland« zur ersten Dorferweiterung. Hier siedelten sich Handwerkerfamilien aus den benachbarten Orten, aber auch bäuerliche Söhne und Töchter an, die den väterlichen Hof nicht erben konnten. Auf einem Teil der Lübarser Feldmark ist dann auch 1875 im Ergebnis von Landkauf-Manövern die Villenkolonie Waidmannslust begründet worden; 1884, sieben Jahre nach Fertigstellung der Nordbahn, wurde eine Bedarfshaltestelle Waidmannslust (1908–1911 entstand der eigentliche Bahnhof) eingerichtet, was eine steigende Nachfrage nach Grundstücken am Ort und dessen forcierte Besiedelung zur Folge hatte.
     1920 wurde Lübars Ortsteil des neu gegründeten 20. Berliner Verwaltungsbezirks Reinickendorf. Ein Jahr später entstand die Kriegerheimstätten-Siedlung an der Platanenstraße, dem heutigen Zabel-Krüger-Damm (benannt nach dem Lübarser Gemeindevorsteher von 1855 bis 1894). Während der Inflation verkauften Bauern Boden an Siedler. In jener Zeit entstanden
auf Lübarser Terrain mehrere Laubenkolonien, und 1935 wurde dann die AEG-Siedlung auf dem Kienwerder errichtet. Die Einwohnerzahl stieg von 250 Personen im Jahre 1918 auf 5 500 in den 30er Jahren.

Die Lübarser sind
aufs Pferd gekommen

Im Zweiten Weltkrieg von größeren Zerstörungen verschont geblieben, wurde Lübars im Gefolge der Teilung der Stadt und der Insellage Westberlins zu einem immer begehrteren Freizeit- und Erholungsgebiet für die Städter. Gen Norden und Osten seit 1961 durch die Mauer von natürlichem Hinterland abgeschnitten, streckte der Moloch Großstadt dann auch noch von Süden her in Gestalt des Märkischen Viertels seine Hände nach dem idyllischen ländlichen Raum aus. Die Zentralisierung in der Landwirtschaft und die damit verbundene Tatsache, daß der kleine Landwirt landwirtschaftliche Produktion bestenfalls noch als Nebenerwerb betreiben konnte, zwang aber auch zunehmend dazu, nach neuen Wegen zu suchen. Von den wenigen Flächen hätten die Bauern trotz Subventionen nicht mehr existieren können. In dieser Situation entschieden sie sich für die »Pensions-Pferdehaltung«. Aus Bauernhöfen wurden »Pferdepensionen«. Inzwischen gibt es am Ort acht Reiterhöfe, zwei kleine Reitunternehmen. Wenn das Wetter nicht

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Postkarte aus dem Jahre 1899

mitspielt, stehen Reithallen zur Verfügung. Bauer Joachim Kühne, wie die Rathenows, die Neuendorfs und noch andere einer der ganz alteingesessenen Familien angehörend, brachte es im Gespräch auf den Nenner: »Das Pferd hat uns das Überleben der Landwirtschaft im Dorf ermöglicht.« In der Praxis sieht das so aus, daß die Landwirte allen Berlinern, die sich den Luxus, ein Pferd zu halten, leisten können, gegen Entgelt den Hof, den ländlichen Rahmen, die Koppeln, die Betreuung, Heu, Stroh usw. bieten. Auf diese Weise ist es schließlich gelungen, am Rande der Großstadt einen zwar veränderten, aber doch noch landwirtschaftlichen Lebensrahmen zu erhalten. Eine andere wichtige Frage war, wie Lübars mit den Folgen der Wiedervereinigung fertig werden kann. Seine Ausnahmerolle als idyllischer Anziehungspunkt für gestreßte Großstädter war jetzt natürlich dahin. Pfarrer Axel Luther, seit 1971 hier ansässig, inzwischen längst Lübarser aus Leidenschaft: »Vor dem Fall der Mauer kamen an den Wochenenden geradezu Menschenmassen, in der Woche auch viele Schulklassen hierher, um sich an der Landschaft zu erfreuen, die unter Naturschutz steht. Heute kommen zwar immer noch Gäste, aber eben nicht mehr so viele.«
     Störten damals die vielen Reisebusse, ist es heute der zunehmende Verkehr, der den denkmalgeschützten Ortskern frequentiert.
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Das könnte auch Erholungsuchende und Naturfreunde vertreiben, die das dörfliche Erscheinungsbild in seiner Gesamtheit schätzen, die Landschaft mit ihrer überaus artenreichen Tier- und Pflanzenwelt. Bürgermeisterin Marlies Wanjura nannte, befragt nach ihrem Lieblingsplatz, den »Eingang zum Dorf, von wo aus man einen schönen Ausblick auf das Fließ mit den Wiesen und Pferdekoppeln hat. Hier kann man, während in der Frühe noch der Nebel aufsteigt, die Seele baumeln lassen.« Interessantes gibt es im letzten Dorf Berlins in Fülle, auch wenn der Privatzoo des »Dorf-Doktors« Wolfgang Friedrich-Rathenow zum Bedauern vieler nicht mehr existiert. Aber da gibt es einen Freizeit- und Erholungspark, einen Kräuterhof, den die Berliner Behindertenwerkstätten unterhalten, den »Alten Dorfkrug« am Anger, vor zehn Jahren restauriert, unmittelbar daneben das schöne Kulturzentrum »Labsaal«, die »Osterquelle«, die letzte freisprudelnde Quelle Berlins, eine Jugendfarm in der alten Fasanerie, wo man bäuerlichen Alltag erleben kann, eine Sauerkrautfabrik, um nur einiges zu nennen.
     Typisch für die Einstellung der Lübarser ist ein Ereignis am Rande: Da die Räumlichkeiten der vor dem Zweiten Weltkrieg gebauten Schule nicht mehr ausreichten, hat man sich entschlossen, zwei Klassen in den Räumen der alten Dorfschule auf der Aue zu unterrichten, die auf diese Weise wieder
ihrer ursprünglichen Bestimmung zugeführt worden ist. Lübars, ein Dorf, das auf Zukunft setzt.

Literatur:
–      Das letzte Berliner Dorf. 750 Jahre Lübars, herausgegeben vom Bezirksamt Reinickendorf und vom Kunstamt/Heimatmuseum Reinickendorf, Jaron Verlag, Berlin 1997
–      Axel Luther/Ingolf Wernicke: 750 Jahre Lübars, In: Museumsjournal Nr. IV (Oktober) 1997, S. 70 ff.
–      Lutz Diesbach/Jörg Hensel: Lübars – Bilder Buch. Augenblicke vormaligen Dorflebens abseits der Stadt Berlin. Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung GmbH, Berlin 1997
–      Wolfgang Friedrich-Rathenow: Schreib das auf, Dodo. Der Dorfdoktor aus Lübars erzählt, Helmut Scherer Verlag GmbH, Berlin 1994

Bildquellen:
Kirchenbuch der evangelischen Kirchengemeinde
Lübars; Heimatmuseum Reinickendorf;
Privatarchiv Friedrich-Rathenow

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© Edition Luisenstadt, 1997
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