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Berliner aus: Als pragmatisch denkender Experte mit exakter Kenntnis der Alltagsprobleme wirkte er über ein halbes Jahrhundert für soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung der Werktätigen in der Wirtschaft. Zahllos seine Vorschläge und sein nimmermüder Einsatz für die Ausgestaltung der Sozialversicherung, für umfassenderen Arbeitsschutz, gewerblichen Gesundheitsschutz, Neugestaltung des Arbeitsrechts, Einführung von Betriebsräten und Schaffung einer Arbeitslosenversicherung. So konnte Willy Brandt (1913–1992) ihn anläßlich seines Ablebens 1962 zu Recht als das »personifizierte Sozialbewußtsein der Weimarer Republik« bezeichnen.
     Geboren am 8. März 1869 in Göttingen, besuchte er nach der Übersiedlung der Familie 1875 nach Bremen die dortige Bürgerschule. Der Vater, Ludwig Wissell, fuhr als Overstuermann zur See, wurde jedoch wegen eines Augenleidens früh invalidisiert. Die Weigerung des Reeders, dem Vater eine andere Arbeitsstelle anzubieten, hat den jungen Rudolf zutiefst empört und ist das sozialpolitische Schlüsselerlebnis seiner Jugendzeit. Nach seinem Schulabschluß erlernte er den Beruf eines Maschinenbauers, ging anschließend auf die übliche Wanderschaft und schloß sich 1888 der zu dieser Zeit noch durch das Sozialistengesetz verfolgten Sozialdemokratie an. Nun las er sozialdemokratische Schriften und trat in Kiel dem Fachverband der Schlosser und Maschinenbauer
Bernhard Meyer
»Personifiziertes Sozialbewußtsein«

Ehrenbürger Rudolf Wissell
(1869–1962)

Der Sozialpolitiker Rudolf Wissell war der erste Ehrenbürger, den die von der SPD geführte Westberliner Stadtverordnetenversammlung kurz nach ihrer Wahl am 5. Dezember 1948 ernannte. Er erhielt den Ehrentitel als 65. Ehrenbürger am 8. März 1949 anläßlich seines 80. Geburtstages. Die Ehrenurkunde würdigt ihn als eine Persönlichkeit, die sich große Verdienste »um den sozialen Fortschritt, die demokratische Gemeinwirtschaft und die Erforschung des alten Handwerkes erworben hat«. In der Öffentlichkeit ist sein Name durch die Rudolf-Wissell-Brücke in Charlottenburg und eine Gedenktafel am Haus Wiesenerstraße 22, in dem er langjähriger Mieter war, bekannt. Berlin wurde seit 1909 auf Lebenszeit zu seiner Wirkungsstätte, als er eine Berufung als Leiter des gewerkschaftlichen Zentralsekretariats erhielt. Obwohl ihm in seiner Wahlheimat keinerlei kommunale Ämter übertragen wurden, wirkte sich seine Lebensarbeit als Sozialpolitiker der Gewerkschaften und der Weimarer Republik auf die

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bei, dessen Vorsitz er bald übernahm und den er 1891 mit über 600 Mitgliedern in den soeben gegründeten Deutschen Metallarbeiterverband führte. Noch vor Ableistung des Militärdienstes 1891 bis 1893 heiratete er Emma Wunsch. Sie war ihm in allen seinen Unternehmungen eine treue Weggefährtin, gebar fünf Kinder und verstarb 1947 an den Folgen eines Verkehrsunfalls. In Kiel arbeitete Wissell als Dreher und trat gleichzeitig als Korrespondent des »Vorwärts« und der »Leipziger Volkszeitung« hervor. 1901 übernahm er die besoldete Stelle als Arbeitersekretär in Lübeck. In dieser Gewerkschaftsfunktion führte er bis 1908 kostenlos 58 600 Rechtsberatungen für die Arbeiterschaft durch. Diese Jahre wurden seine »Hohe Schule«. Sein dadurch erworbenes Ansehen und das ihm entgegengebrachte Vertrauen spiegelten sich 1905 in der Wahl in die Lübecker Bürgerschaft wider.
     1909 nach Berlin übergesiedelt, entwickelte er sich zu einem bedeutenden Gewerkschaftsführer – er wurde nach dem Ausscheiden von Gustav Bauer Mitglied der Gesamtleitung der Freien Gewerkschaften. Im Frühjahr 1918 gelangte er für den Landkreis Niederbarnim in den Deutschen Reichstag, dem er bis zum Verbot der SPD durch die Nazis 1933 angehörte. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs wurde Wissell Mitglied der Regierung der Volksbeauftragten und darauf Wirtschaftsminister des ersten aus der Weimarer National-
versammlung hervorgegangene Reichskabinetts. Von diesem Amte trat er bereits nach fünf Monaten zurück, weil sein Modell zur Einführung sozialistischer Wirtschaftspolitik vom Kabinett und von seiner Fraktion abgelehnt wurde. Wissell wollte eine neue gemeinwirtschaftliche Ordnung, eine »zugunsten der Volksgemeinschaft planmäßig betriebene und gesellschaftlich kontrollierte Volkswirtschaft«. Mit den Forderungen nach planender Lenkung, Vergesellschaftung sozialisierungsreifer Wirtschaftszweige und wirtschaftlicher Selbstverwaltung gilt Rudolf Wissell als einer der Vordenker des Konzepts der Wirtschaftdemokratie. Dennoch war er mehr Sozialpolitiker als Wirtschaftsfachmann. Seine sozialpolitischen Vorschläge wie Achtstunden-Arbeitstag, Recht auf Sonntagsruhe, Schutz der Frauen-, Kinder- und Jugendarbeit, gewerblicher Gesundheitsschutz, öffentliche Gesundheitspflege, Arbeitsgerichtsbarkeit, Wohungsfürsorge u. a. wurden auf dem Würzburger Parteitag 1917 als »Nächste Aufgaben der Partei« beschlossen. Die wichtigsten dieser Forderungen gelangten in die Weimarer Verfassung. In den 20er Jahren war Wissell neben seiner Parlamentsarbeit vor allem im gewerkschaftlichen Schlichtungswesen tätig – von 1924 bis 1932 als Schlichter für Groß-Berlin und Brandenburg. Zu den bleibenden Verdiensten gehört sein konsequentes Eintreten für die Schaffung der Arbeitslosenversicherung
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sowie deren Ausgestaltung zugunsten der Betroffenen.
     Große Hoffnungen zur Verwirklichung seiner sozialpolitischen Vorstellungen hegte er mit seinem Eintritt als Arbeitsminister in das Kabinett von Reichskanzler Hermann Müller(-Franken) im Juni 1928. Die aufziehende Weltwirtschaftskrise zwang ihn in seiner 21monatigen Amtszeit jedoch vielmehr, für die Einhaltung des im Artikel 163 der Reichsverfassung festgelegten Rechts auf Arbeit und Unterhalt im Rahmen der Arbeitslosenversicherung zu streiten.
     Eine für einen Sozialdemokraten seltene Ehrung widerfuhr ihm zu seinem 60. Geburtstag 1929 durch die Rechts- und Staatsfakultät der Christian-Albrechts-Universität in Kiel, die ihn zu ihrem Ehrendoktor ernannte. Im selben Jahr erschienen die ersten beiden Bände seiner »Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit«, eine mit Umsicht und Liebe zusammengetragene Darstellung alter Sitten und Gebräuche. Diesem Hobby widmete er zeitlebens Aufmerksamkeit und blieb so stets einem Stück seiner Jugend verbunden. In der Zeit des Faschismus in innerer Emigration und ohne politische Betätigung, widmet er sich dem dritten Band seiner Handwerksgeschichte. Am 5. März 1933 stellte er sich angesichts des bereits zur Herrschaft gelangten Faschismus mutig nochmals für seine Partei zur Reichstagswahl, mußte aber die Annullierung aller SPD-Mandate erleben. Mit dem Verbot der
Gewerkschaften durch die Faschisten im Mai 1933 verhaftet, erhielt er für zwei Jahre die Auflage, sich täglich auf dem für seine Tempelhofer Wohnung zuständigen Polizeirevier zu melden. Ansonsten blieb er in diesen Jahren unbehelligt und hatte ein gesichertes Auskommen.
     Nach dem Ende des Weltkrieges stellte er sich seiner Partei sofort wieder zur Verfügung. Nun bereits jenseits des 75. Lebensjahres, reihte er sich bei denen ein, die eine Vereinigung mit der KPD ablehnten. Zum Zehlendorfer Parteitag der Fusionsgegner am 7. April 1946 in der Zinnowaldschule übernahm er kurzfristig die Begrüßungsansprache; dort schlug ihm eine Welle der Sympathie entgegen.
     Aus Altersgründen kehrte er in die Tagespolitik der SPD nicht mehr zurück, stand ihr jedoch als Mitglied der wirschafts- und sozialpolitischen Ausschüsse zur Verfügung. Als er im hohen Alter von 93 Jahren am 13. Dezember 1962 in Berlin verstarb, ehrten ihn Nachrufe als eine »historische Gestalt« und als »Symbol der deutschen Arbeiterbewegung«. Rudolf Wissell erlebte und gestaltete deutsche Geschichte vom Sturz Bismarcks bis zum Bau der Berliner Mauer.
     Bestattet wurde er auf dem Kirchhof der Evangelischen Kirchengemeinde Zum Heiligen Kreuz in der Eisenacher Straße 62 (Schöneberg), wo er vom Land Berlin eine Ehrengrabstelle erhielt.
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