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Sie bewegte sich in der nun schon bewährten Tradition, in der Abfolge der Jahrestreffen ein thematisches Gleichgewicht zwischen »Gratwanderungs-« und »Wanderungs- Tagungen« herzustellen. Hatte der Vorstand seine Mitglieder 1994 zu einer amüsanten Spurensuche nach Gripsholm/ Mariefred und 1996 zu einer harmonisch- «möpselnden« Herbstwanderung in den Spessart eingeladen, erregten sich die Gemüter 1995 bei »Tucholsky und das Judentum«. Eine Vorgehensweise, die gleichfalls im Sinne des streitbaren Spötters liegen dürfte: Er, der seine scharfe schriftstellerische Munition kompromißlos auf die politischen Grundübel seiner Zeit richtete, beobachtete und beschrieb nicht weniger intensiv die kleinen Querelen des menschlichen Alltages und die Schwächen seiner Art- und Zeitgenossen. Und vor den Freuden des Lebens machte er, wie wir wissen, ebenfalls nicht halt – weder auf dem geduldigen Papier noch im eigenen bewegtungeduldigen Dasein.
     Der Mann mit den mindestens fünf Pseudonymen war studierter und promovierter Jurist, und das ist so unbekannt nicht. Daß seine juristische Laufbahn jedoch bereits endete, bevor sie begonnen hatte, erschließt sich dem Interessierten erst, wenn er sich näher mit Tucholskys Vita auseinandersetzt. Tucholsky hat seine einst Franz Kafka gegenüber geäußerte Absicht, Verteidiger zu werden, nie realisiert – zumindest nicht in
Wolfgang Helfritsch
»Justitia geht schwoofen ...«

Jahrestagung der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft (KTG)

Der notorische Vereinskritiker Tucholsky hätte sich beifälligen Spott nicht verkneifen können: Die Jahrestagung der KTG wurde am 23. Oktober im Foyer des Jagdschlosses Glienicke mit einer Ausstellung von Karikaturen des ins satirische Fach abgeschwenkten Juristen Philipp Heinisch eröffnet, und sie endete im ehrwürdigen Deutschen Theater am 26. Oktober mit der Verleihung des Tucholsky-Preises für literarische Publizistik an den zum aufmüpfigen Schriftsteller mutierten Schweizer Theologen Kurt Marti. Für solche Metamorphosen hatte der frischgekürte Preisträger, sicher ganz im Stil des Namensgebers der Meriten, in seiner Entgegnung auf die Laudatio Friedrich Schorlemmers eine originelle Wortschöpfung parat: Postmoderne Asymmetrie. Wie wahr, und wenn es doch noch mehr davon gäbe!
     Mit dem Konferenzthema »Kurt Tucholsky und die Justiz« betrat die inzwischen auf 225 Mitglieder aus 17 Staaten angewachsene Gesellschaft ein weiteres Mal schwieriges, aber lohnend zu durchpflügendes Neuland.

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der Robe des juristischen Profis. Auch seine Dissertation über »Die Vormerkung aus § 1179 BGB und ihre Wirkungen« hat das Hypothekenrecht offensichtlich weder erschüttert noch revolutioniert – falls das überhaupt jemals in der Absicht des Promovenden gelegen haben sollte.
     Tucholsky, der sich also zu keiner Zeit darum riß, als berufsmäßiger Gesetzeshüter den Justizsaal zu frequentieren, genoß dagegen mehrfach das zweifelhafte Vergnügen, als Angeklagter vor den Schranken des Gerichts zu stehen. Auch das kann niemanden verwundern, der sich gründlich oder punktuell mit den deutlich artikulierten Ansichten des Gegen- und Querdenkers auseinandergesetzt hat. 13 Verfahren gegen den aufmüpfigen Publizisten und Schriftsteller, zwei davon wegen Beleidigung, listete Vereinsvorsitzender Michael Hepp auf, der sich in seinem Vortrag des »Angeklagten Dr. jur. Kurt Tucholsky« annahm.
     In dem 1921 gegen ihn geführten Prozeß konterte Tucholsky die Anschuldigung, er bekämpfe die republikanische Reichswehr, mit der Entgegnung, daß er sie deshalb bekämpfe, weil sie eben nicht republikanisch sei. Und 1932 fand sich Tucholsky mit v. Ossietzky auf ein und derselben Anklagebank wieder, nachdem er in der »Weltbühne« zu Spenden für die Rote Hilfe aufgerufen hatte.
     Damit wurde im übrigen ein Thema berührt, dem sich Roland Links in seinem Kon-
ferenzbeitrag mit Akribie widmete: »Tucholskys Engagement im Kontext politischer Organisationen ...«.
     Summa summarum: Die juristische Relevanz Tucholskys offenbarte sich nicht in seiner berufsgebundenen Aktivität, sondern in der brillanten Verteidigung eigener Verfahrenssachen, in seinem publizistischen Wirken als kritischer Gerichtsberichterstatter und in seiner damit verbundenen schonungslosen Justizkritik. Und diese hatte, so der Bremer Senatsrat Hans Wrobel, »eine sehr wesentliche Eigenschaft: Sie traf in der Sache meistens zu!«.
     Mit unverhohlenem Argwohn analysierte Tucholsky die gegen rechts und links erlassenen Urteile, und die Untersuchungsresultate rechtfertigten sein Mißtrauen. Allein die Gegenüberstellung der verhängten Zuchthausjahre, ins Verhältnis gesetzt zu den verhandelten Vergehen, vermittelte ein anschauliches Bild juristischer »Objektivität« jener Zeit.
     Hätte es dazu noch einer Illustration bedurft, lieferte sie die Vorführung des Hans-Prescher-Filmes »Sie rüsten zur Reise ins Dritte Reich« über Tucholsky und den Maximilian-Harden-Prozeß.
     »Sage mir, wie ein Land mit seinen schlimmsten politischen Gegnern umgeht, und ich will dir sagen, was es für einen Kulturzustand hat«, zitierte Bernhard Weck, Bayreuther Dozent für Staats- und Verfassungsrecht, eine Maxime des vielgeschmähten Autors.
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Aber die »Unabsetzbaren«, die K.T. zumeist in der Haut von Peter Panter und Ignaz Wrobel anging, nahmen die bissig-sachkundige Kritik kaum oder nicht wahr. Seine Warnungen verhallten, aber auch seiner Kompromißlosigkeit war es geschuldet, daß er nur wenige juristische und publizistische Mitstreiter an seiner Seite fand.
     Da sein Urteil pauschal war und nicht singulär, so Hans Wrobel, hat Tucholsky »... die Böswilligen nicht erreicht und die Gutwilligen nicht gewonnen ...«. Eine streitbare These, die nicht weniger intensiv diskutiert wurde als die Frage, ob die Weimarer Republik auch an ihrem Richterstand gescheitert sei.
     Die Podiumsdiskussion, auf Grund ihrer kompetenten Besetzung mit Spannung erwartet, griff dieses Thema auf und wich auch nicht vor der Frage zurück, ob die Justiz heutzutage »vorauseilenden Gehorsam« betreibe und beim »Täter Justiz« Wiederholungsgefahr bestünde. Der in London ansässige Anwalt Heinrich Senfft, als »Spiegel«- und »Stern«-Verteidiger vor
Jahren in die Schlagzeilen gekommen, der Berliner Richter Eckart Rottka, der gewesene Staatsanwalt, jetzige Münchener Publizist
und 96er Tucholsky-Preisträger Heribert Prantl und Vereinsvorsitzender Michael Hepp erwiesen sich, lebhaft und sachkundig flankiert durch Beiträge des Juristen-Ehepaares Kramer aus dem Forum, als leiden-

Karikatur von Philipp Heinisch

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schaftliche und streitbare Diskussionspartner. Allgemein bedauert wurde, daß BVG-Präsidentin Jutta Limbach die Teilnahmezusage kurzfristig zurücknehmen mußte.
     Während die Mitschuld der Justiz am Untergang der Weimarer Republik nicht bestritten wurde, warnten die Disputanten vor einer pauschalen Verurteilung der Juristen als »Negativgröße« der damaligen Gesellschaftsetappe. Konträre Auffassungen standen auch hinsichtlich der Wirkung und Kontrapunktion der Justiz in der Gegenwart im Raum – jeweils belegt durch Beispiele jener und der anderen Art.
     So erfuhr der Wiener Journalist Karl Pfeifer, KTG-Mitglied, juristischen Beistand, als er gegen die vom Münsteraner Professor der Politikwissenschaften Pfeifenberger zu Tucholsky artikulierten Nazi-Töne zu Felde zog und dafür von seinem Kontrahenten vor den Kadi geklagt wurde. Das Wiener Landgericht wies die Klage ab und folgte einer Gutachterexpertise, derzufolge der Professor »direkt die nationalsozialistische Argumentationsweise« übernommen habe.
     Verspätet, aber immerhin erfolgte darauf die Entfernung aus dem Lehramt.
     Während das Tagungsforum den anspruchsvollen Versuch anerkannte, einer differenziertvergleichenden Bewertung der Weimarer und bundesdeutschen Justizrealität näherzutreten, wurde bemängelt, daß bei diesem Bemühen die 40jährige
DDR-Justizpraxis ausgeblendet blieb. Ein berechtigter Einwand, der die positive Gesamtbeurteilung der Jahrestagung jedoch nicht in Zweifel ziehen kann.
     Halten wir es mit dem Juristen Tucholsky, der seine Artikelserie »Deutsche Richter« 1927 mit folgender Forderung beschloß: »Und das Gesetzbuch um die Ohren aller,
die sich mit Erwägungen, mit Bedenken und mit wissenschaftlichen Hemmungen dem wichtigsten Ziel entgegenstellen, das einen anständigen Menschen anfeuern kann: Recht für die Rechtlosen.«
     Die in die Konferenz eingebettete Jahrestagung wählte den neuen Vorstand der Gesellschaft. Michael Hepp und Roland Links setzen ihre Tätigkeit als 1. bzw. 2. Vorsitzender fort. Die Funktion der Schatzmeisterin übernahm Helga Irmler, Berlin; als Beisitzer fungieren Renate Bökenkamp, St. Georgen, Hans Peters, Eindhoven/ Holland, und Wolfgang Helfritsch, Berlin.

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