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Kirche darf nicht ortlos sein

Altbischof D. Albrecht Schönherr zur Verantwortung evangelischer Christen

     Sie haben als Zeitzeuge mehrere Epochen deutscher Geschichte miterlebt, zu DDR-Zeiten haben Sie Geschichte auch an einer sehr sensiblen Stelle mitgestaltet: als Bischof und als Vorsitzender der Konferenz der Kirchenleitung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Ihren Erinnerungen eines Altbischofs, vier Jahre nach der Wende erschienen, gaben Sie den Titel »... aber die Zeit war nicht verloren«. Klingt da Resignation an?
     Albrecht Schönherr: Ganz im Gegenteil. Das Buch soll Resignation bekämpfen, die man heute besonders stark im Osten vernimmt. Das Zitat stammt nicht aus der Bibel, wie es sich eigentlich für einen Theologen gehörte. Es ist von Dietrich Bonhoeffer. Noch ganz kurz vor seiner Verhaftung schrieb er: Für viele ist die Zeit, die wir erlebt haben, eine gestohlene Zeit. Aber die Zeit ist nicht verloren, wir haben gelebt, wir haben gelitten und wir haben genossen, deshalb kann die Zeit nicht verloren sein. Sie ist auch eine von Gott gegebene Zeit. Wir haben uns diese Zeit ja nicht selbst gemacht, sondern sie ist uns gegeben.

     Sie wurden 1911 in Oberschlesien geboren

und kamen mit sechs Jahren nach Neuruppin. Sie haben dann in Tübingen und später in Berlin studiert. In Berlin trafen Sie Dietrich Bonhoeffer. Außer Ihrer Mutter, so schreiben Sie, habe Sie kein Mensch so stark beeinflußt wie er. Wie lernten Sie Bonhoeffer kennen?
     Albrecht Schönherr: Ein Bekannter machte mich auf diesen jungen Privatdozenten aufmerksam. Er ist ja nur fünfeinhalb Jahre älter als ich gewesen. Ich war sofort sehr eingenommen von ihm, weil man das Gefühl hatte, da ist einer, der steht voll zu dem, was er sagt. Alles ist bezogen auf das Zentrum unseres Glaubens. Das hat mir so imponiert, daß ich mich sofort ihm zugewandt habe. Besonders beeindruckend waren die Freizeiten, die wir gemeinsam in der Nähe von Rheinsberg verlebt haben. Wir haben dort einige Tage versucht zu verwirklichen, was es heißt, ein christliches Leben zu führen. Das hat mich natürlich auch sehr stark beeinflußt.

     War Bonhoeffer eine charismatische Erscheinung?
     Albrecht Schönherr: Charismatisch, wie man das heute versteht, war er eigentlich nicht. Er vermittelte den Eindruck einer sehr klugen, sehr umfassend gebildeten Persönlichkeit, einer sehr frommen Persönlichkeit. Bei seinem Intellekt war er doch ein ganz frommer, man kann fast sagen, kindlich frommer Christ geblieben. Das hat uns an ihm bewegt. Rhetorisch, durch seine äußere Erscheinung oder eine bestimmte

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Ausstrahlung ist er nicht aufgefallen. Von Ausstrahlung hat er übrigens gar nichts gehalten. Unmittelbar bei der Machtübernahme von Hitler hielt Bonhoeffer einen Vortrag über die Probleme des Führertums. Er machte deutlich, daß ein Führer, der nicht von sich weg- und zur Sache hinführt, er meinte natürlich auch zur Sache des Glaubens, zum Verführer wird.

     Bonhoeffer war nicht nur Ihr Lehrer, er war auch Ihr Freund und hat Sie getraut.
     Albrecht Schönherr: Die wichtigste Zeit meines Lebens, wenn man mal von den ganz persönlichen Dingen absieht, war das Jahr im Predigerseminar von Zingst und Finkenwalde. Da sind wir uns sehr nahe gekommen. Da ist der Grund gelegt worden zu meiner ganzen geistlichen Persönlichkeit. Von daher kam die nahe Verbindung, die Bonhoeffer zu mir, aber auch zu meiner damaligen Braut hatte. 1936 hat er uns in Falkensee getraut.

     Und er hat Ihnen empfohlen, ein fröhlicher Pfarrer zu sein. Es war ja die Zeit des Kirchenkampfes der staatstreuen gegen die Bekennende Kirche.
     Albrecht Schönherr: Der Kirchenkampf entzündete sich daran, daß die Deutschen Christen versuchten, die Macht in der Kirche an sich zu reißen, alle Stellen zu besetzen. Die Deutschen Christen waren evangelische Leute, die versuchten, den Nationalsozialismus und den christlichen Glauben miteinander zu verbinden. Typisch für Sie

ist ihr Zeichen, ein Christenkreuz, in dessen Mitte ein Hakenkreuz eingezeichnet war. Das sagt eigentlich schon alles. Diese Deutschen Christen, die auf der Welle des neuen Nationalismus hochgekommen waren, haben durch Hitlers Beistand in einer Kirchenwahl 1933 die absolute Mehrheit gewonnen. Sie haben dann in der Kirche zwei gravierende Dinge durchgesetzt: das Führerprinzip und den Arierparagraphen. Daraufhin wurde 1933 der Pfarrernotbund gegründet, dem Martin Niemöller lange Zeit vorgestanden hat. Dieser Pfarrernotbund war später das Rückgrat der Bekennenden Kirche. 1934 haben sich dann allmählich die Gemeinden zusammengefunden, nach einem ziemlichen inneren Kampf. Die meisten hatten den Nationalsozialismus ja begrüßt als eine Wiederherstellung der deutschen Ehre und der deutschen Macht. Es war keineswegs so, daß dieser Nationalsozialismus uns aufgezwungen war, die Leute haben ihn mit Begeisterung angenommen. Im Mai 1934 stellte dann die Barmer Theologische Erklärung fest, was in der Kirche gilt. Im Herbst gab es dann eine sehr folgenschwere Entscheidung in der Dahlemer Synode, in der das kirchliche Notrecht verkündet wurde. Weil die deutsch-christlichen Verwaltungen, Bischöfe usw. nicht mehr auf dem Boden der Verfassung der Kirche standen, mußte eine neue kirchliche Leitung bestimmt werden und das waren die Bruderräte.

     Sie haben sich damals als junger Mann be-

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dingungslos der Bekennenden Kirche unterstellt.
     Albrecht Schönherr: Ich gehöre zu denjenigen, denen es vergönnt war, von vornherein einen klaren Standpunkt zum Nationalsozialismus zu haben. Nicht weil ich so gut oder so vernünftig war, sondern weil ich Bonhoeffer hatte. Bonhoeffer wußte von Anfang an, Hitler wählen, das heißt Krieg.
Es gab sehr wenige, die in Deutschland so dachten.

     Auch an Ihnen ist der Krieg nicht vorbeigegangen. Sie sind eingezogen worden, kamen später in Kriegsgefangenschaft. Nach Kriegsende hätten Sie zur Familie nach Hause zurückkehren können, haben sich dann aber entschlossen, ein Jahr freiwillig als Pfarrer in einem Kriegsgefangenenlager in Italien zu arbeiten. Was hat Sie dazu bewogen?
     Albrecht Schönherr: Die große innere Not der Menschen, denen ja alles zusammengebrochen war. Besonders die jüngeren Soldaten hatten den Boden unter den Füßen verloren, nicht wenige wollten den Freitod wählen. Viele ließen sich einen Vollbart wachsen, sie versuchten, sich hinter einer Maske zu verbergen. Wenn sie den Bart dann abnahmen, wußten wir, jetzt haben sie verstanden, jetzt geht das Leben für sie wieder weiter.
     Ich fand die Arbeit bei den Kriegsgefangenen in dieser Zeit am wichtigsten. Dieses Jahr ist für mich auch von besonderer Bedeutung gewesen. Ich hatte eine solche Fülle von seelsorgerischen Aufgaben wie nie wie-

der in meinem Leben. Das seelsorgerische Gespräch fand auf der Lagerstraße statt. Das ging manchmal in Zehn-Minuten- Einteilung.

     Kam die Verzweiflung der Menschen auch daher, daß sie anfingen, über Schuld nachzudenken?
     Albrecht Schönherr: Das war wohl nur bei ganz wenigen der Fall. Ich hatte die Aufgabe, das Generalslager bei Rimini geistlich zu betreuen. Es war sehr schwer, diesen Gefangenen etwas vom Stuttgarter Schuldbekenntnis der Kirche vom Oktober 1945 zu vermitteln. Da war überhaupt keine Spur von Einsicht.

     Sie sind dann nach Brüssow zurückgegangen, wo Sie auch vorher schon eine Pfarrstelle hatten. Eine der nächsten Stationen war Brandenburg, die Stadt, die dann in Ihrem Leben eine besondere Rolle gespielt hat.
     Albrecht Schönherr: Ich wurde nach Brandenburg berufen als Superintendent und als künftiger Leiter eines noch zu gründenden Predigerseminars. Letzteres hat mich natürlich gereizt, weil ich selbst vom Predigerseminar besonders gefördert wurde. Der Superintendent hat mir weniger Freude gemacht, aber das mußte ich so mitschlucken. Natürlich gehörte dann auch die Pfarrstelle am Dom zu Brandenburg dazu. Bald danach, 1947, wurde das Domkapitel von Brandenburg neu installiert. Damals wurde ich, was ich noch heute bin: Dechant des Domkapitels. Wir konnten in diesem Jahr mein 50jähriges Jubiläum feiern.

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     Die Evangelischen Kirchen im Osten wurden von der sowjetischen Besatzungsmacht eher glimpflich behandelt. Es gab keine Enteignungen, theologische Fakultäten waren nach Öffnung der Universitäten zugelassen. Das änderte sich dann gravierend in den 50er Jahren. Der Staat DDR ging ja davon aus, daß Religion Opium für das Volk sei.
     Albrecht Schönherr: Das begann mit dem Beschluß, die SED zur Partei neuen Typs zu machen, womit Ulbricht gleichzeitig den Aufbau des Sozialismus proklamierte. Das hieß auch Durchsetzung des Atheismus. Es war dann so, daß 1952/53 der Versuch gemacht wurde, die Kirche umzubringen, indem man ihr die Jugend entfremdete. Es ging vor allem um die Junge Gemeinde und die Studentengemeinde, die ja beide einen großen Zulauf hatten. Vor allem von der Studentengemeinde kamen etliche für einige Monate ins Gefängnis.
     Noch eine Bemerkung zur Formulierung »Opium für das Volk«. Bei Karl Marx heißt es »Opium des Volkes«. Er hat der Kirche keineswegs unterstellt, daß sie die Menschen mit Opium versorge, um sie vom vernünftigen Denken abzuhalten. Opium konnten sich nur die Reichen leisten, für die Armen blieb die Religion zur Tröstung.

     Von den Drangsalierungen der Jungen Gemeinde war auch eine Ihrer Töchter betroffen. Was hatte das für Folgen?
     Albrecht Schönherr: Meine älteste Tochter wurde der Schule verwiesen, weil sie in

der Jungen Gemeinde war. Ich sehe sie noch, wie sie weinend nach Hause kam.
Obwohl diese Relegierung später zurückgenommen wurde, in diese Schule ist sie nicht wieder gegangen. So hat sie dann kein Abitur gemacht.

     Die Kirchen waren, gegen ihren Willen, eingebunden in den Kalten Krieg. Am Abschluß des Militärseelsorgevertrages 1957 zwischen den noch in der EKD zusammengeschlossenen Evangelischen Kirchen mit der Bundesrepublik erläutern Sie in Ihrem Buch, in welch schwieriger Situation sich die Kirche befand.
     Albrecht Schönherr: Durch den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland mit Schwerpunkt in Westdeutschland wurde ein Militärseelsorgevertrag mit der BRD-Regierung abgeschlossen. In letzter Minute wurde solch ein Vertrag auch der DDR angeboten, die hat das natürlich abgelehnt. Und wir mußten nun in der noch einheitlichen Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, in der wir als Ostler auch vertreten waren, mit abstimmen über diesen Militärseelsorgevertrag. Das hat damals ja ganz besondere Wut in der DDR hervorgerufen. Man hat das im Zusammenhang mit der NATO gesehen, mit einem antisowjetischen Bündnis; das konnte eben nur heißen, daß die Leute auch mit religiösen Fragestellungen angeheizt werden sollten. Ergebnis war, daß die offiziellen Verbindungen von EKD zur DDR-Regierung abgebrochen wurden.

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     Damit war eine Entwicklung in Gang gesetzt, die dann später zur Aufgabe der organisatorischen Einheit in der EKD führte. 1969 wurde der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR gegründet, dessen Vorsitzender Sie wurden. Das hat ja damals im Westen viel Staub aufgewirbelt.
     Albrecht Schönherr: Die Bildung des Bundes ist immer sehr umstritten gewesen, und viele können uns das heute noch nicht verzeihen. Eine wichtige Rolle hat dabei gespielt, daß es nicht gut möglich war, uns von der westlichen Position aus die Anstöße und geistliche Hilfe zu geben, die wir hier im Osten unter ganz anderen sozialen und auch politischen Verhältnissen brauchten. Hinzu kam, daß durch die neue DDR-Verfassung von 1968 jede Institution illegal geworden wäre, die über die Grenze der DDR hinausging. Wir standen also wirklich vor der Frage, ob wir nun legal oder illegal sein wollten.
     Uns wurde vorgehalten, daß wir die letzte Verbindung zwischen Ost und West gekappt hätten. Aber warum sollten wir uns in einen Kampf hineinbegeben, der nicht unser Kampf sein konnte. Meiner Meinung nach haben Kirchen nur sehr begrenzt ein nationales Mandat. Unser Mandat ist, daß wir, da wo wir sind, das Evangelium zu vertreten haben durch Wort und Tat. Dieser Bund hat dann darum gekämpft, eben hier ganz Kirche sein zu können, mit all den Möglichkeiten, die wir für notwendig gehalten haben. Wir hatten es als Christen in der DDR als
ganz besonders dringend angesehen, daß an der Grenze zweier Systeme kein offener Krieg ausbricht. Man hat uns vorgeworfen, die sowjetische Friedenspolitik zu betreiben. Das haben wir aber bewußt nicht getan. Wir meinten, Friede als solches ist eine der wichtigsten politischen Aufgaben. Darum haben wir möglichst viel dafür getan, daß eben zwischen den beiden deutschen Staaten und zwischen den beiden Systemen ein einigermaßen friedliches Verhältnis existierte, und haben es begrüßt, daß auch von westlicher Seite her, etwa in der Zeit der sozialliberalen Koalition, Wege gesucht wurden, zu einem politisch normalen Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten zu kommen. Davon haben wir natürlich auch profitiert.
     Wir haben, wenn auch mit großem Fragezeichen, doch gemeint, daß für Frieden gesorgt wurde, für Recht nur in einem beschränkten Sinne, aber beim Zivilrecht kann man schon davon sprechen. Deshalb halte ich auch nicht für richtig, das Wort Unrechtstaat zu gebrauchen. Das assoziiert ja, daß alles, was in diesem Staat geschehen ist, Unrecht gewesen ist. Das stimmt natürlich nicht. Wenn die Leute heute nach DDR-Recht verurteilt werden, kann ja nicht alles Unrecht gewesen sein.

     1978 gab es ein Treffen mit Erich Honecker. Wie haben Sie ihn erlebt?
     Albrecht Schönherr: Es war eine Einladung an den Vorstand des Bundes der Evangelischen Kirche. Wir waren zu fünft da.

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Zuerst hat Honecker eine anderthalb Stunden lange Rede gehalten, die aber, im Gegensatz zu den Reden, die wir sonst von ihm gewöhnt waren, sehr viel angenehmer war. Er hatte auch kein ausgearbeitetes Manuskript, sondern nur einige Stichworte auf einem Zettel. Wir waren uns vorher nicht ganz klar darüber, was bei diesem Gespräch passieren würde. Oft genug hatten wir ja erlebt, daß da nur Blabla geredet wurde. Aber im Gegenteil, es war so, daß Honecker auf alle unsere Wünsche einging. Und er sprach davon, daß in diesem Staat jeder Mensch, ob alt oder jung, ob Christ oder Nichtchrist, gleichberechtigt und gleichgeachtet sein würde. Wir haben natürlich auch unsere inneren Fragezeichen an dieser Stelle gemacht, aber immerhin, von höchster Stelle ausgesprochen ist das ja nicht Nichts. Es gab danach eine Verlautbarung des Staatsrates, der wir einen Passus hinzufügen konnten. Zu unserer großen Genugtuung war es der Schluß meiner Rede, daß nämlich das Verhältnis von Staat und Kirche so gut ist, wie es sich für den einzelnen vor Ort darstellt. Viele Menschen haben sich das aus der Zeitung ausgeschnitten und vorgezeigt, wenn beispielsweise der Parteisekretär ihres Betriebes dumme Reden führte.

     Der Begriff Kirche im Sozialismus stammt nicht, wie oft behauptet wird, von Ihnen, trotzdem halten Sie in gewissem Sinne an ihm fest. Ein Begriff, der ja im Westen für erhebliche Irritationen gesorgt hat.

     Albrecht Schönherr: Die Wortwahl halte ich für nicht richtig. Den Begriff Kirche allgemein mit Kirche im Sozialismus zu verbinden, führt irre. Wir hätten sagen müssen: Evangelische Kirche in der sozialistischen Gesellschaft der DDR. Das hätte die Sache zwar getroffen, aber nicht so eingängig geklungen. Es ging nicht um ein Bekenntnis zum Sozialismus, sondern um das Bekenntnis, an diesem Ort unseren christlichen Glauben leben und verkünden zu wollen. Von Bonhoeffer stammt der Gedanke, daß die Kirche nicht ortlos werden darf. Wir wollten deutlich machen, daß wir zu diesem Ort DDR gehören, daß wir dem nicht einfach entlaufen können, ob uns das paßt oder nicht.

     Im Urteil von heute bestehen ja beinahe nur die DDR-Bürger, die diesem Staat den Rücken gekehrt haben.
     Albrecht Schönherr: Ich möchte kein Urteil fällen über die Menschen, die gegangen sind, z. T. sind sie wirklich unter schweren Bedrückungen gewesen. Sie werden sich selber fragen müssen, wieweit sie diese Bedrückungen selbst hervorgebracht haben, das gab es leider eben auch. Ich habe aber überhaupt kein Verständnis dafür gehabt, daß Pfarrer oder auch Ärzte weggegangen sind. Denn ihr Beruf ist es in erster Linie, für den anderen dazusein. Wenn Pfarrer ihre Gemeinde zurückließen, dann bedeutete dies doch auch: Ihr seid keine richtigen Christen, ich bin der richtige Christ. Wir

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haben als Christen nicht die Aufgabe gesehen, die DDR kaputtzumachen, sie zu zerstören, sondern wir haben versucht, das Unsere dazu beizutragen, daß sie reformiert wird, daß sie liberalisiert wird, vielleicht ein bißchen demokratisiert wird. Und wir haben in der Art, wie man mit der Kirche umging, einen Hoffnungsschimmer gesehen. In der Kirche sind wir ja relativ gut behandelt worden in den letzten 20 Jahren. Wir haben immer gehofft, daß die Freiheit, die wir genossen haben, die wir gar nicht ganz ausgefüllt haben, sich auf die ganze Gesellschaft ausdehnen würde.

     Wie groß dieser Spielraum war, kann man ja daran ermessen, daß sich unter dem Dach der Evangelischen Kirche die Opposition finden konnte.
     Albrecht Schönherr: Daß sich diese Gruppen in den Kirchen versammeln konnten, haben sie letzten Endes der Kirchenpolitik zu verdanken, die sie später so sehr mißdeutet oder angefeindet haben.

     Obwohl sich das Verhältnis Kirche–Staat in den letzten Jahren entspannt hatte, kam zu DDR-Zeiten nur ein einziger Film in die Kinos, der das als aktuelles Thema aufgegriffen hat. Der Stoff zu »Einer trage des anderen Last« lag lange auf Eis, der Film wurde dann aber ein großer Erfolg. Ein Beweis für veränderten Umgang mit Andersdenkenden?
     Albrecht Schönherr: Ich habe damals in Neuenhagen bei Berlin an einer Aufführung mit anschließender Diskussion

teilgenommen. Ich war erstaunt, daß sich niemand im Namen der marxistischen Ideologie über diesen Film beschwerte und sagte, hier wird Versöhnlertum betrieben oder Sozialdemokratismus oder irgend etwas ganz Schreckliches. Es gab dagegen allgemeine Zustimmung, ich hatte den Eindruck, daß die Menschen – von der Volksarmee bis zum Pfarrer – alle hofften, daß nun endlich die Zeit vorbei ist, in der ideologische Kämpfe ausgefochten werden. Die Menschen wollten endlich vernünftig miteinander leben und miteinander reden. 1987 gab es ja eine relativ schöne Entwicklung. Ich denke an das SED/SPD-Papier, da wurden beide Systeme für möglich gehalten. Ich denke an den Olof-Palme-Marsch, bei dem junge Christen und FDJler miteinander marschiert sind, von Rügen bis ins Erzgebirge. Aber dann kamen die Betonköpfe und drehten diese Entwicklung zurück. Das hat ja dann auch den Untergang der DDR zumindest beschleunigt.

     Sie haben Einblick in Ihre Stasiakten genommen. Was hatten Sie da für Gefühle?
     Albrecht Schönherr: Mit Erstaunen habe ich festgestellt, daß die Stasiakten Beobachtungen nur für die Zeit enthalten, bevor ich in Berlin meine Ämter übernahm. Da sind sie einfach albern. Jede Post wurde darauf geprüft, ob sie aus dem nichtsozialistischen Ausland kam, und alles was daher kam, wenn es der Brief einer Tante an eines meiner Kinder war, wurde fotokopiert und festgehalten. Jedes Telefongespräch wurde

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notiert. Man konnte eigentlich nur lachen. Allerdings wurde ein Studienkreis von einem der Mitglieder observiert. Das hat dann aufgehört. Was dann später kam, das waren die Durchschläge, die in den Bezirken oder auch im Staatssekretariat für Kirchenfragen gemacht wurden. Und meine langjährige Sekretärin war Stasispitzel, von 1966 bis Mitte der 80er Jahre. Sie ist zwei Jahre lang von der Stasi umgedreht worden mit großer psychologischer und pädagogischer Sorgfalt. Sie ist nicht bedroht worden, ganz im Gegenteil, man hat sehr genau, sehr schnell ihre Fehler, ihre Charaktereigenschaften herausbekommen und entsprechend reagiert. Aber wenn ich nun denke, was da angewandt worden ist an Sorge, diese Frau umzudrehen, wirklich echt umzudrehen – sie hat am Schluß selber darum gebeten, eine Verpflichtung zu unterschreiben –, dann ist das Ergebnis außerordentlich mager.

     Haben Sie mit der Frau jemals wieder gesprochen?
     Albrecht Schönherr: Nach der Wende habe ich sie im Krankenhaus besucht, kurz danach ist sie gestorben. Ich habe eine sehr ehrenvolle Beerdigungsrede gehalten. Wir hatten viel Vertrauen zu dieser Frau.
Sie war für uns immer ein wenig wie die klugen und mutigen Frauen, die in der Zeit der Bekennenden Kirche eine große Rolle gespielt haben und denen wir sehr, sehr viel verdanken. Wir dachten, sie ist aus demselben Holz. Aber leider war es

ganz anders, was ich zum Zeitpunkt der Beerdigung noch nicht wußte.

     Wie haben Sie die Wende erlebt?
     Albrecht Schönherr: Ich habe sie natürlich mit Freude begrüßt. Aber nicht mit diesem Enthusiasmus, mit dem es manche getan haben. Wissen Sie, ich habe schon viele Revolutionen erlebt, 1918, 1933, 1945 ... Ich habe immer wieder bemerken müssen, daß eine politische Wende ja noch lange nicht die Menschen verändert. Und darauf kommt es ja letzten Endes an.

     Haben Sie das Gefühl, daß die Erfahrungen der Evangelische Kirche in der DDR heute noch gefragt und noch anerkannt werden?
     Albrecht Schönherr: Sicher mehr, als das in den ersten Jahren nach der Wende geschah. Die Evangelische Kirche muß sich in ganz Deutschland um eine neue Art von Darstellung bemühen. Sie kann nicht mehr überall als Volkskirche bezeichnet werden, sie ist weitgehend eine Minderheitskirche geworden. In Niedersachsen, Schleswig-Holstein usw. herrschen, was den persönlichen Glauben betrifft, wohl die gleichen Verhältnisse wie damals in der DDR. Ich denke, daß einiges von dem, was wir damals gedacht haben, was wir uns an neuen Formen für eine Minderheitskirche überlegt haben, heute noch Bestand hat. Ich hoffe, daß man daran nicht vorbeigeht, daß das Rad nicht noch einmal erfunden wird.

Das Gespräch führte Jutta Arnold

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