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Bernd Siegmund
24. November 1912:
Berlin erhält sein erstes Krematorium

Am Totensonntag, dem 24. November 1912, wurde in der Weddinger Gerichtstraße 37/38 feierlich das erste Krematorium Berlins eingeweiht. In Anwesenheit von rund 700 Ehrengästen übernahm Oberbürgermeister Dr. Adolf Wermuth die Anlage für die Stadt. Es war, auch wenn der Ausdruck deplaziert erscheint, ein freudiges Ereignis.
     Endlich konnte Berlin seine Toten einäschern, platzsparend und doch würdig unter die Erde bringen. Das mit feierlichen Reden bedachte Krematorium war bereits das dritte in Preußen und das 34. im Deutschen Reich. Die erste deutsche Stadt, die den Bürgern die Möglichkeit gab, ihre Toten zu verbrennen, war Gotha gewesen. Das dortige Krematorium, 1878 eingeweiht, blieb allerdings 13 Jahre lang ein Einzelfall. Aufgehalten wurde der Bestattungs- Fortschritt in Berlin und anderswo durch religiöse Vorurteile, gesellschaftliche Traditionen und gesetzliche Beschränkungen. So wurde Preußens erstes Krematorium zwar schon 1907 in Hagen erbaut, erst fünf Jahre später aber durfte es in Betrieb genommen werden. »... aus Rücksicht auf die vorherr-

schenden entgegenstehenden religiösen Anschauungen und die in weiten Kreisen sich kundgebenden, in dem Gemüt beruhenden Gefühle der Pietät«, so begründete die Königliche Staatsregierung ihr Verbot, Leichen einzuäschern. Die Verweigerung der Arbeitserlaubnis für das Hagener Krematorium fand genau fünf Jahre, bevor das in Berlin eingeweiht wurde, statt.
     Bereits vier Tage nach der feierlichen Übergabe, am 28. November 1912, erfolgte die erste Einäscherung. Die von dem Berliner Feuerbestattungsverein eingebauten und von der Stadt Berlin übernommenen zwei Regenerativ-Gasöfen arbeiteten zuverlässig und gut. Entwickelt hatte sie Oberingenieur Richard Schneider von der Firma Siemens. Noch heute geschieht die Verbrennung nach dem Schneiderschen Prinzip. »Die ... unter der Verbrennungskammer liegende Vorwärmkammer besteht aus einem System von neben- und übereinanderliegenden Kanälen für die Zuführung der Heiz- und Verbrennungsluft, zwischen die noch Kanäle für die zum Schornstein abziehenden Verbrennungsgase eingebettet sind. Die Öfen sind so eingerichtet, daß in einer Nachverbrennung die die Verbrennungskammer verlassenden Leichengase sich mit den Heizgasen aus der Feuerung mischen und auf dem Wege zu den Regenerationskanälen unter nochmaliger Zuführung erhitzter Luft verbrennen können, ehe sie durch den Schornstein entweichen. Da-
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durch wird eine vollständig geruch- und fast rauchlose Verbrennung gewährleistet. Die Anheizdauer beträgt bei diesen Öfen 3 bis 4 Stunden, die Einäscherungsdauer 3/4 bis 1 1/2 Stunden.«
     Die Firma Siemens bekam übrigens für die Lösung des technischen Problems der Leichenverbrennung den ersten Preis eines von der Lombardischen Akademie der Wissenschaften in Mailand 1872 ausgeschriebenen Preisausschreibens. In dieser norditalienischen Stadt fand am 22. Februar 1876 auch die erste Leicheneinäscherung im modernen Sinne statt. Vom Mailand des Jahres 1876 bis in das Berlin des Jahres 1912 aber war noch ein weiter Weg.
     Jahrzehntelang hatte die Frage »Feuer oder Erde« die Öffentlichkeit erregt. Während sich die Kirchen, denen das Monopol der Leichenbestattung 785 von Karl dem Großen durch das Edikt von Paderborn verliehen worden war, vehement gegen die Feuerbestattung wehrten und von einer »Verhöhnung der Auferstehungslehre« sprachen, plädierten immer mehr Mediziner für diesen Weg. Selbst Wissenschaftler wie der bekannte Sprachforscher Jacob Grimm meldeten sich in dieser Frage zu Wort. In einem Vortrag vor der Berliner Akademie der Wissenschaften am 29. November 1849 sagte er u.a.: Es ist »ein heiterer, der Menschheit würdiger Gedanke, ihre Toten der hellen und reinen Flamme statt der trägen
Erde zu überlassen«. Sechs Jahre später schrieb ein gewisser Oberstabsarzt Dr. Trusen ein Buch mit dem Titel »Die Leichenverbrennung, die geeignetste Art der Totenbestattung«. Das Buch und die darin geäußerte Forderung, die bisher übliche kirchliche Verwaltung des Leichenwesens müsse auf ein städtisches Totenamt übergehen, löste bei der Kirche und den Befürwortern einer Erdbestattung helle Empörung aus. Und machte Dr. Trusen in ganz Europa bekannt.
     Überall bildeten sich Feuerbestattungsvereine, internationale Kongresse zu dieser Frage fanden in Florenz (1869), Rom (1871), Dresden (1876), Berlin (1890) und Budapest (1894) statt. Die Idee der modernen Feuerbestattung wuchs trotz aller Widerstände.
     Auch der Arzt und Kommunalpolitiker Rudolf Virchow meldete sich 1875 zu Wort. In einer aufsehenerregenden Rede vor dem Preußischen Abgeordnetenhaus trat er vor allem aus hygienischen Gründen für eine Feuerbestattung ein. »Vom Standpunkt der öffentlichen Gesundheitspflege wäre doch nichts erwünschter, als wenn unsere Sitte im ganzen sich dahin richten wollte, daß die Verbrennung Regel würde, denn daß die zunehmende Anhäufung von Verwesungsstätten, welche die großen Städte wie einen Kranz umgeben, welche das Erdreich mit unreinen Stoffen erfüllen, welche das Erdreich weit und breit und die Unwässer verunreinigen, daß das kein Zustand ist,
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der sich mit der öffentlichen Gesundheit verträgt, liegt auf der Hand.«
     Und Virchow wußte, wovon er sprach. Spätestens seit den Gründerjahren waren die Friedhöfe Berlins an die Grenzen ihrer Kapazität gestoßen, hielten mit der Bevölkerungs- und Stadtentwicklung nicht mehr Schritt. Der permanente Platzmangel auf ihnen hatte zur Folge, daß die gesetzlichen Ruhefristen der Gräber immer kürzer wurden. In einigen Städten mußten diese bereits nach sieben Jahren aufgelassen werden, um dem nächsten Toten Platz zu machen. Dabei entstanden, neben der Geruchsbelästigung, ernsthafte Gefahren für die Gesundheit der Menschen.
     Epidemien hatten häufig ihren Ursprung hier. Damals wußte man noch nicht, was mit einem Leichnam in der Erde passiert, wie schnell und gründlich der Prozeß der Verwesung voranschreitet. Tatsache ist, daß dabei hochgiftige Substanzen entstehen, die u. a. ins Grundwasser gelangen können. Dererlei potentielle Gefährdungen fallen bei einer Feuerbestattung weg. Sie ist die hygienischste aller Begräbnisarten. Selbst hohe Kirchenführer forderten nach Epidemien die Verbrennung der Pest- oder Choleratoten. Um dann, nach Abklingen der Seuchen, wieder Glaubensbarrieren aufzubauen.
     Aber nicht nur hygienische Gründe sprachen für eine Feuerbestattung. Die »Verwesungsstätten«, wie Virchow sie nannte, nahmen den Lebenden zuviel Platz weg.
Platz aber war in Berlin ein teures Gut. Zu teuer, um Tote darin zu begraben.
     Traditionell unterschieden sich das Friedhofs- und Bestattungswesen Berlins erheblich von dem anderer großer Städte. In der deutschen Hauptstadt waren die Bestattungsfelder seit altersher über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Es gab lange Zeit keine Zentralfriedhöfe. Diese Zersplitterung hatte etwas zu tun mit dem verbrieften Recht der Kirchen, eigene Friedhöfe für ihre Gemeindemitglieder besitzen zu dürfen. 1894 lagen auf dem Territorium, das ab 1920 Groß-Berlin bilden sollte, 79 Friedhöfe. Ihre Gesamtfläche betrug 397,6 Hektar. Sie waren im Besitz von 53 Kirchengemeinden. Und hoffnungslos überfüllt.
     Die Kommune Berlin sah lange Zeit keinen Handlungsbedarf in Sachen Friedhof. Erst als sie in Erfüllung sozialer Pflichten selbst Beerdigungsaufgaben übernehmen mußte, jedes Jahr waren beispielsweise 2700 »Armenleichen« und 1000 »Anatomieleichen« zu bestatten, wurde um 1800 der erste kommunale Friedhof in der Friedensstraße eröffnet. 1828 folgte in der Gerichtstraße der zweite Friedhof, der sogenannte Wedding-Acker. Hier sollte 84 Jahre später das erste Berliner Krematorium entstehen. Nach 1881 kam als dritter städtischer Friedhof der in Berlin- Friedrichsfelde hinzu. Der Platzmangel auf den überfüllten Friedhöfen führte zu einem regelrechten Bestattungs-Notstand.
     Als der Staat nun aus hygienischen und
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Platzgründen jede Möglichkeit unterband, neue Friedhöfe anzulegen, gingen die Kommunen und die Kirchen dazu über, zentrale Friedhöfe außerhalb der Vororte Berlins zu errichten. So 1908/09 in Ahrensfelde und Stahnsdorf. Allerdings mußten nun wegen der großen Entfernungen zu den neuen Friedhöfen Leichensammelstellen in der Mitte Berlins eingerichtet werden, eine solche befand sich beispielsweise am Ostbahnhof. Nachts wurden die Leichen per Eisenbahn zu den Friedhöfen befördert. Die Situation wurde immer paradoxer.
     1892 beantragte der Magistrat von Berlin die Einführung der Feuerbestattung in Preußen. In einer Denkschrift hieß es dazu: »Die rund 1000 Leichen solcher Personen, die teils unbenannt blieben, teils ohne Widerspruch ihrer Angehörigen der Feuerbestattung zugeführt werden konnten, erforderten bei einer Beerdigung in der bisherigen Weise hohe städtische Kosten. Es würde hierzu ein Begräbnisplatz von dem Umfange gebraucht, wie ihn große deutsche Städte für ihre gesamte Bevölkerung benötigen.«
     Das war ein massiver finanzieller Hilfeschrei. Als flankierende Maßnahme fügte die Stadt Berlin am 7. September 1892 der Denkschrift eine beinahe persönliche Bitte an den Minister des Inneren, den Grafen zu Eulenburg, hinzu. »Ew. Exzellenz bitten wir«, hieß es da, »mit Rücksicht auf die durch die Choleragefahr hervorgerufe-
nen Besorgnisse, uns geneigtest keine polizeilichen Hindernisse bei dem auf dem nichtkonfessionellen städtischen Friedhof zu Friedrichsfelde projektierten Bau eines Krematoriums nach dem System des Zivilingenieurs Richard Schneider, Dresden, welchen Bau wir schleunigst in Angriff zu nehmen beabsichtigen, bereiten zu wollen.«
     Selbst die Furcht vor Cholera mußte herhalten, um Bewegung in die Sache zu bringen. Aber erst 1912 fanden die Stadt Berlin und der Seuchenexperte, »Der Präservativ-Mann gegen Cholera«, den wir zum Titelbild unseres Heftes gemacht haben, Gehör.
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© Edition Luisenstadt, 1997
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