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monstrieren. Die Einladung für eine seiner Sektionen lautete: »Die Erkänntniß seiner selbst nach der Natur recommendiret Allen und Jeden Und ladet auf den 5. Febr. dieses 1714ten Jahres alle Liebhaber der Anatomie, insbesondere die Chirurgos und Wund-Aerzte Auf das Königliche Theatrum Anatomicum zu denen Neuen Anantomischen Demonstrationen vornehmlich und den Musceln/Blut-Gefässen und Nerven hiermit ein Christian Maximilian Spener, Dr. Com. Pal. Caesar. St. Königlichen Majestät in Preussen Rath Hoff- und Garnisons-Medicus, auch Professor der Anatomie; der Kayserlichen Academie Nat. Curios. und Königlicher Preußischer Societ. Mitglied. Berlin.«
     Neben Räumlichkeiten und Finanzen klärte die königliche Entscheidung vor allem die Bereitstellung von Leichen. Da die gottesfürchtigen Untertanen, ganz so wie es ihnen der Klerus vorgab, an ein Weiterleben nach dem Tode glaubten, wollte jedermann seinen Körper unversehrt für die himmlische Auferstehung erhalten. Anatomische Eingriffe jedweder Art galten als unchristliche Akte. So blieb dem König nur die Möglichkeit, die von staatswegen vom Henker zu Tode Gebrachten der Anatomie zu übereignen. Da aber auch sie ihre Seele für die Wiederauferstehung erhalten wollten, kam es nicht selten vor, daß ihr letzter Wunsch darin bestand, nicht auf den Sektionstisch zu gelangen. Trotzdem bekam Spener das für eine anatomische Präparierübung Unerläßliche.
Bernhard Meyer
29. November 1713:
Erste Sektion einer Leiche in Berlin

Erst vor wenigen Monaten inthronisiert, verfügte der 25jährige König Friedrich Wilhelm I. (1688–1740; König seit 1713) per Cabinets-Ordre mit Datum vom 26. November 1713 die Eröffnung eines Königlichen Theatrum anatomicum. Bereits drei Tage später drängelten sich an die 100 professionelle Heilkundler unterschiedlicher Couleur vom Arzt bis zum Wundarzt III. Klasse und Feldscher sowie eine handvoll interessierte Laien, um einen günstigen Platz für die erste Sektion einer menschlichen Leiche in der Residenz- und Hauptstadt des Königreiches Preußen zu ergattern. Eingeladen hatte zu dieser von der Öffentlichkeit gleichermaßen als Spektakel und Gotteslästerung empfundenen wissenschaftlich- medizinischen Lehr und Demonstrationsveranstaltung der namhafte Anatom Christian Maximilian Spener (1678–1714). Der ließ den Sektionstisch gewissermaßen als Katheder herrichten, um dem Publikum mit offiziell erteilter behördlicher Genehmigung den Blick in das Innere des Menschen zu gewähren, Blutgefäße und Nervenbahnen freizulegen sowie Muskeln und Sehnen, Gelenke und Knochen zu de-

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In fünf Monaten sezierte er im Theatrum anatomicum zehn Leichen, was an den in- und ausländischen Universitäten mit größtem Erstaunen registriert wurde, weil man dort pro Semester höchstens einen Leichnam zugesprochen bekam. Und das Theatrum anatomicum war nicht einmal eine universitäre Institution! Spener hielt seine Vorträge in deutscher Sprache, was an Universitäten nicht möglich gewesen wäre. Das war auch erforderlich, da seine Zuhörer über keine höhere Bildung verfügten. Der König befahl seinen Armeechirurgen die Teilnahme an den Spenerschen Übungen, deren Nützlichkeit sie jedoch so ohne weiteres nicht von vornherein erkennen wollten.
     Der Veranstaltungsort, amphitheatralisch gestaltet, mit sechs Sitzreihen für knapp 100 Personen, war im Nordwestpavillon des Königlichen Marstalls (heute das Areal von Staats- und Universitätsbibliothek) in der Dorotheen-, Ecke Charlottenstraße untergebracht. 1691 von Arnold Nering (1659–1695) erbaut, wurde das zweigeschossige Gebäude bereits für die Akademie der Künste, die Societät und ab 1705 mit dem nachträglich errichteten 26 Meter hohen Turm als Observatorium genutzt. Über dem Eingang zum Theatrum prangte ein kunstvoll geformtes Relief mit dem Text: »Friedrich Wilhelm, König von Preußen und Kurfürst von Brandenburg, hat dieses anatomische Theater im Jahre 1713 gegründet ... und zur fortdauernden Ausübung der Kunst mit einem
Überfluß an Leichnamen versehen, zum Heil der Armee und des Volkes, zum Nutzen der Bürger und Fremden.«
     Den an Glitzer und Glamour gewöhnten Barockmenschen begegnete im Theatrum strenge Sachlichkeit und Nüchternheit – anatomische Zwiesprache, vermittelt von einem Spezialisten, dem vom Anatomie-Diener, dem späteren Prosektor, assistiert wurde. Dem Geschehen haftete Unheimliches und Mystisches an, obwohl die erste anatomische Leichenschau schon 1302 für Bologna beurkundet ist. Aber Sektionen blieben vor allem aus Gründen der Pietät gegenüber dem Gestorbenen bis in das 18. Jahrhundert hinein äußerst selten. Doch Spener ließ nicht locker; er bat Woche für Woche jeweils montags, mittwochs und samtags für je eine Stunde zur Demonstration. Schon bald spielten sich feste Regelungen für die Sitzordnung ein: Die erste Reihe gehörte Professoren und Doktoren sowie Ehrengästen, dahinter plazierten sich Regimentschirurgen und Amtschirurgen. Sodann folgten in der dritten Reihe die Feldschere der Berliner Garnison und dahinter die Barbiere und schließlich in der letzten Reihe neugierige Berliner Laien.
     Was da im Theatrum anatomicum in Szene gesetzt wurde, war in mehrfacher Hinsicht für die Wissenschaftsentwicklung in Berlin bedeutungsvoll. Der König, wenig später Befehlshaber über ein stehendes Heer von 80 000 Soldaten, hatte im Gegensatz zu
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seinem Vater Friedrich I. (1657–1713; König seit 1701) ein offenes Ohr für die vom Leibarzt Friedrich Hoffmann (»Hoffmanns-Tropfen«, 1660–1742) geäußerte Absicht, mit Hilfe anatomischer Unterweisungen die Kriegschirurgen und Feldschere besser für die Versorgung der Schlachtenopfer vorzubereiten. Damals waren Medizin und Chirurgie noch zwei grundverschiedene Dinge. Chirurgische Handlungen wie Glieder amputieren, Brüche operieren und einrenken, Blasensteine schneiden, Augenstar stechen und Zähne reißen galten als handwerkliche Leistungen, die von Barbieren, Marktschreiern und Zahnreißern vom Schlage eines Dr. Eisenbarth, alten Frauen und Schäfern, bestenfalls noch von mäßig vor- und ausgebildeten Wundärzten erbracht wurden.
     Anatomische Kenntnisse besaß keiner von ihnen, denn eine Universität hatten sie nicht absolviert. Sie kamen aus einer handwerklichen Lehre, deren Niveau von ihrem Lehrherren bestimmt wurde. Und Ärzte rührten ein Skalpell nicht an. So wurden Militärinteressen schon damals zu einem Impetus für wissenschaftlichen Fortschritt. Aber die höfische Schatulle sollte nicht belastet werden und so bekam die Societät die Kosten von zunächst 1 000 Talern pro Jahr auferlegt.
     Mit Christian Maximilian Spener stand dem Theatrum anatomicum ein renommierter Gelehrter zur Verfügung, dessen Vater Propst von St. Nikolai war, während der Bruder die Spenersche Apotheke am Spreekanal
führte. Seine anatomischen Sporen verdiente er sich in Holland, woraufhin ihn die Universitäten Gießen und Helmstedt zum Professor beriefen. Anwesendes Mitglied der Berliner Societät seit 1701 und im Jahr darauf in die Leopoldina berufen, mit der Gründung der Ritterakademie in Berlin 1705 beauftragt und dort Professor der Genealogie, Heraldik und Naturgeschichte, als praktizierender Arzt am Hofe – Spener war vielseitig und einflußreich. Friedrich Wilhelm I. und Spener schufen mit dem Theatrum anatomicum für Berlin die grundlegende Voraussetzung für das 1724 entstandene Collegium medicochirurgicum, die Charité von 1727 und die Medizinische Fakultät der Universität von 1810, mit der die Medizin für einige Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts von Berlin aus Weltgeltung erlangte.
     Spener selbst konnte nur den Grundstein legen, denn schon fünf Monate nach der Eröffnung starb der 36jährige am 5. Mai 1714. Es gilt als ziemlich sicher, daß er sich bei einer der Sektionen infizierte. In der »Berliner geschriebenen Zeitung« vom 12. Mai hieß es: »Der unlängst verstorbene Hof- und Garnisons-Medicus Spener hat bey seiner Krankheit grausamlich geraset und nur von den Körpern gesprochen, so er secieret, und gleichsam mit denen immer gefochten.«
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