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wurde die bis dahin fehlende Verkehrsanbindung nach Berlin geschaffen.
     Um den Verkehr zu den inzwischen entstandenen Industriegebieten in Tegel zu erleichtern, begann man 1907 mit dem Bau der Industriebahn von Tegel nach Friedrichsfelde. Die Tegeler Gemeindeväter wollten auch den Umschlag der über die Havel kommenden Schiffsgüter erleichtern und beschlossen, einen Hafen zu bauen. 500 000 Goldmark kostete der 556 Meter lange und 38 Meter breite Hafen, der Ladegelegenheit für 20 große Schiffe bot. Insgesamt mußte die Gemeinde für den Grunderwerb zum Bau der Industriebahn und des Hafens eine Anleihe von zwei Millionen Goldmark aufnehmen. Die Einweihung beider Anlagen am 31. Oktober 1908 gestaltete sich laut Zeitungsberichten zu einem wahren Volksfest.
     An der Promenade entlang am Tegeler See hinauf zur »Großen Malche«, so heißt die nördlichste Bucht des Sees, hatte sich eine Reihe von Ausflugslokalen etabliert, so das »Klippsteinsche Sommeretablissement«, das »Strandschloß Tegel« und der »Kaiserpavillon«. Der Tegeler Hafen wurde gebaut, indem man das vor der »Großen Malche« in den See mündende Tegeler Fließ ausbaggerte und erweiterte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Fischer Siebert wanderlustige Berliner mit seinem Kahn für fünf Pfennig übergesetzt. Nach der Jahrhundertwende strömten vergnügungssüchtige Ber-
Hainer Weißpflug
Die »Sechserbrücke« in Tegel

Auch in den vergangenen heißen Sommertagen strömten wieder Tausende Berliner und Ausflügler zu den Anlegestellen der Fahrgastschiffe am Tegeler See, um sich auf mehrstündigen Seenrundfahrten Abkühlung und Erholung zu verschaffen. Unweit dieser Anlegestellen führt eine rund 91 Meter lange stählerne Bogenbrücke über den Tegeler Hafen. Offiziell heißt sie Tegeler Hafenbrücke, sie wurde 1909 aus sogenanntem Flußeisen erbaut. Im Volksmund aber wird sie noch immer »Sechserbrücke« genannt. Ihre Errichtung hängt mit der Entwicklung von Industrie und Verkehr nach der Jahrhundertwende in Tegel zusammen.
     Die Lage am Ufer des Tegeler Sees und dessen Havelanbindung begünstigten die industrielle Entwicklung im ehemaligen Dorf Tegel. Zunächst entstand der Eisenhammer Franz Anton Egells, der dann später seine Fabrik am Oranienburger Tor hatte. 1896 schließlich kaufte Borsig Grundstücke am Tegeler See und errichtete die Borsigwerke. 1877 nahm das Berliner Wasserwerk am Tegeler See den Betrieb auf und 1905 wurde ein Gaswerk eingeweiht. Mit dem Bau der Kremmener Bahn (1893 eröffnet)

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Rund um den Tegeler See
liner in Scharen hierher, promenierten um den See und mußten das Fließ überqueren, um z. B. das »Klippsteinsche Sommeretablissement« zu erreichen, in dem nach Zeitungsberichten die erste Berliner Damenkapelle gastierte. Diesen sonntäglichen Besucherstrom konnte der Fischer mit seinem Kahn nicht mehr bewältigen. Aber er wußte sich zu helfen, denn er zimmerte eine kleine Holzbrücke über das Fließ und kassierte von jedem, der hinüber wollte, fünf Pfennig »Fährgeld«. So hatte der Fischer ein Zubrot, die Lokale hatten ihre Gäste und die Ausflügler ihr Vergnügen. Alle profitierten bis dahin von diesem Vorläufer der heutigen »Sechserbrücke« und der Möglichkeit, ungehindert um den See herumzulaufen, die zahlreichen Lokalitäten und das Seebad »Ostende« zu besuchen und die nördlich angrenzenden Waldgebiete des Tegeler Forstes zu erreichen. »Sieberts Brücke« mußte 1905 dem Hafenprojekt weichen.
     Der Hafenbau drohte den Strom der Aus-
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flügler zum Versiegen zu bringen. Deshalb beschlossen die Gemeindeväter, über den Hafen eine neue Fußgängerbrücke zu bauen. 1909 wurde sie eingeweiht. Damit wenigstens ein Teil der Kosten wieder in die Gemeindekasse floß, verlangten die Tegeler, so wie zuvor der Fischer Siebert, von jedem Benutzer einen »Sechser« Brückenzoll. Als »Sechser« bezeichnet(e) der Berliner ein Fünfpfennigstück. Daraus entstand im Volksmund der Name »Sechserbrücke«, den alte Tegeler noch gut kennen. Nach Zeitzeugen soll sie eine wahre Goldgrube gewesen sein, und die Brückenzöllner hatten alle Hände voll zu tun, um den bis zu 28 000 Passanten an Sonn- und Feiertagen den Sechser abzunehmen. 7 000 Goldmark machte die Gemeinde fast jedes Jahr Gewinn. Carl Neumann hieß der letzte Brückenzöllner, der zum Schutz vor Dieben sogar bewaffnet war und der von einem Gendarmen, dem »Langen Hielscher«, abends samt Kasse nach Hause geleitet wurde. Die Inflation bereitete dem Geldsegen ein Ende. Die Kosten für den Brückenzöllner überstiegen die Einnahmen um ein Vielfaches. 1922 schaffte man die Zollgebühr ab.
     Zum 50. Geburtstag der Sechserbrücke 1959 wurde sie renoviert. Man erneuerte die Treppen, die an beiden Ufern hinauf zur Brücke führen, ersetzte 75 Prozent der Holzbohlen und setzte die Räume der ehemaligen Hafenverwaltung unter dem Brückenaufgang instand. 10 000 Mark hat der
Senat dafür bereitgestellt. Auch dem heutigen Besucher bietet die Brücke einen gepflegten Eindruck. Von der Brücke hat man einen schönen Blick über den Tegeler See und den Hafen, in dem heute vor allem Segeljachten und Motorboote ankern.
     Man erreicht die »Sechserbrücke«, wenn man mit S-Bahn, U-Bahn oder Bus bis Alt-Tegel fährt und dann die Straße Alt-Tegel zum Seeufer geht. Straßenkaffees und Biergärten laden hier schon zum Verweilen ein. Vorbei an der Kirche Alt-Tegel und einer Reihe Hotels und Restaurants erreicht man die Anlegestelle der Berliner Fahrgastschiffe. Davor biegt rechts die Greenwichpromenade ab. Folgt man dieser, so steht man schon nach kurzer Zeit vor der »Sechserbrücke«. Eine Tour zur Brücke kann man verbinden mit dem Besuch der ältesten Berliner Eiche, »Dicke Marie« genannt, an der »Großen Malche« oder einem Besuch im Schloßpark Tegel mit der »Humboldteiche« und dem Grab der Familie Humboldt.

Bildquelle:
Aus: Rund um den Tegeler See und die nähere Umgebung, Berlin 1968

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© Edition Luisenstadt, 1997
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