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dann, ab 1930, als Redakteur der hannoverschen SPD-Zeitung »Volkswille«. Die Nazis hatten 1933 nicht nur das Blatt verboten und ihn mit einem Berufsverbot belegt, sondern ihm auch »Besserungsunfähigkeit« bescheinigt.
     Am 15. März 1946 erhielt Scholz aus den Händen von General Alec Bishop die Lizenzurkunde für die Tageszeitung »Telegraf«.3) Um dem Blatt bei der Auseinandersetzung mit den Kommunisten besonderes Gewicht zu verleihen, hatte Scholz den früheren Reichstagspräsidenten Paul Löbe und Annedore Leber, die Witwe des von den Nazis ermordeten Widerstandskämpfers, als Mitlizenzträger gewonnen. Ihm wurde, anders als sonst bei Lizenzvergaben, keine Gebietsbeschränkung auferlegt. Scholz konnte dazu die Druckerei und das Papierkontigent des britischen Nachrichtenblattes »Der Berliner«, dessen deutscher Geschäftsführer er gewesen war, übernehmen. Die Auflage stieg von anfangs 150 000 Exemplaren auf 550 000 zum Ende des Jahres 1946. Davon gingen über 100 000 in die Ostzone.
     Der Vertrieb in der Ostzone lief nur über Kioske und wurde häufig behindert. Deshalb ging die Redaktion schon früh dazu über, eine auf Kleinoktav verkleinerte Wochenausgabe herauszubringen, den »kleinen Telegraf«. Das Blatt wurde über einen eigenen illegalen Vertriebsapparat und sozialdemokratische Widerstandsgruppen verteilt.4) Der Erfolg dieser Agitation zeigte sich bei
Klaus Körner
»Berlin bleibt frei«

Arno Scholz und der »Telegraf«

Im März 1946 war die Berliner Innenstadt mit Plakaten übersät wie in den Wahlkampfzeiten der Weimarer Republik. »KPD-SPD, Ein Weg – ein Ziel: Einheit«, so lautete die Parole. 80 Prozent der veröffentlichten Meinung forderten die Fusion der beiden Arbeiterparteien. Die Vereinigungsgegner waren darauf angewiesen, im US-lizenzierten bürgerlichen »Tagesspiegel« ihre abweichende Meinung zu veröffentlichen.1) Zu den Organisatoren des Kampfes gegen die »Zwangsvereinigung« gehörte von Anfang an der Journalist Arno Scholz aus Berlin-Wilmersdorf. Er beantragte bei der britischen Militärregierung die Lizenz zur Herausgabe einer populären SPD-nahen Tageszeitung, die entschieden gegen den Einheitskurs der SPD-Führung in der Sowjetzone opponieren sollte.
     Der 42jährige Scholz stammte aus einer sozialdemokratischen Familie. Sein Vater war Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln gewesen, sein Stiefvater Stadtverordneter von Groß-Berlin.2) Das Handwerk des Druckers und den Journalismus hatte Scholz von der Pike auf gelernt, zuerst als Reporter beim SPD-Zentralorgan »Vorwärts«,

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den Wahlen am 20. Oktober 1946. Bei einer Wahlbeteiligung von 92 Prozent hatten sich in Groß-Berlin über 48 Prozent der Wähler für die SPD entschieden und nur 19 für die SED. In einer ersten Einschätzung des Wahlergebnisses meinte ein sowjetischer Kontrolloffizier, das sei der Erfolg einer fünften Partei, der »Telegraf-Partei«.5)

Ein Konzern entsteht

Der Auflagenerfolg und die politische Resonanz des »Telegraf« ermutigten Scholz, seinen Zeitungsverlag zu einem Pressekonzern auszubauen. Zunächst erweiterte er sein Blatt um eine Jugend-, eine Frauen-, eine Bild- und eine Satirebeilage. Dann wurden daraus selbständige Objekte: die Jugendzeitschrift »Blickpunkt«, die Frauenzeitschrift »Mosaik«, die Illustrierte »Illus« und das Satireblatt »Puck«. Zur Verstärkung der Leser-Blatt-Bindung führte der »Telegraf« öffentliche Diskussionsveranstaltungen durch, richtete im kalten Winter 1946/47 den Zoo-Bunker als öffentliche Wärmehalle her und war mit Filialen und Agenturen im gesamten Berliner Stadtgebiet präsent. Für die Zuteilung des nötigen Zeitungspapiers sorgten britische Presseoffiziere, insbesondere der später als Verleger bekanntgewordene Robert Maxwell6) und Peter K. Orton. Die Briten schirmten den »Telegraf« auch gegen die Kritik der sowjetischen Militäradministration ab, das Blatt übe unzuläs-

sige Kritik an einer Besatzungsmacht und gefährde die Einheit der Alliierten. Scholz und die anderen sozialdemokratischen Vereinigungsgegner hatten den Kampf um die Selbstbehauptung der Partei im Februar 1946 erst aufgenommen, nachdem ihnen die Briten den nötigen Rückhalt zugesichert hatten.7)
     Eine große Bewährungsprobe für den »Telegraf« war die Zeit der Berliner Blockade 1948/49. Der Rundfunksender RIAS und der »Telegraf« prägten maßgeblich die von der SED als »Frontstadtideologie« gebrandmarkte Kampf- und Abwehrhaltung der Westberliner, die sie gegenüber jedweden Verständigungs- oder Infiltrationsversuchen der SED und der DDR bis in die 70er Jahre hinein immunisierten.
     Schon zu Beginn des publizistischen Kalten Krieges in Deutschland mußten die Sowjets erkennen, daß die Meinungsführerschaft in Groß-Berlin auf die Westpresse übergegangen war. Die Ostpresse, so der neue Terminus für sowjetisch lizenzierte Zeitungen, verdankte ihre hohen Verkaufserfolge auch in Westdeutschland vornehmlich dem Umstand, daß Papier Mangelware war. Nach dem Potsdamer Abkommen von 1945 standen jedem Deutschen sieben Kilo Papier pro Jahr zu.8) Der Industrieplan des Alliierten Kontrollrats von 1946 sah für das Jahr 1949 eine Steigerung auf 26 Kilo vor. Heute beträgt der Verbrauch 195 Kilo.
     Am 9. Juni 1948 hatte die SMA durch VO
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Nr. 105 die rechtliche Basis für ein Vertriebsmonopol des Zeitungspostdienstes geschaffen, was einem Vertriebsverbot für Westzeitungen gleichkam. Jetzt übergab die britische Besatzungsmacht Scholz zwei weitere Lizenzen. Eine für den illegal seit 1946 produzierten »kleinen Telegraf« und eine weitere für den »Telegraf-Wochenspiegel«. Diese Wochenendausgabe des »Telegraf« war ebenfalls zur Verbreitung in der Ostzone bestimmt, wurde aber auch nach Westdeutschland exportiert.

Berlin ist eine freie Stadt

Neben seiner Reporter-Tätigkeit für den »Vorwärts« hatte Scholz Ende der 20er Jahre einen Leitartikeldienst aufgebaut. Zu seinen Abnehmern gehörte Kurt Schumacher, damals Redakteur der Stuttgarter SPD-Zeitung »Schwäbische Tagwacht«. Durch seine »Telegraf«-Leitartikel wollte Scholz den Berlinern politische Orientierung und Führung bieten. »Die Sonntagsauflage des >Telegraf< war in den 50er Jahren sicher vor allem wegen Scholz' Leitartikel um ein Drittel höher als die Wochentagsauflage«, erinnert sich Oscar Scholz, »und mit den gesammelten Leitartikeln in Buchform wollte Scholz diesen Effekt noch verstärken und sich außerdem noch ein Denkmal setzen«.9) Anfang März 1948 erschien die erste Leitartikelsammlung unter dem Titel »Politik am Kreuzweg. Beiträge aus dem >Tele-

graf< in den Jahren 1946/47«. Die Sozialdemokratie sei seit ihrem erfolgreichen Kampf gegen die Zwangsvereinigung zum Bannerträger einer freiheitlich denkenden und sich gegen »jede Totalität« wendenden Bevölkerung geworden, hieß es im Vorwort.
Die britische Besatzungsmacht hatte für dieses Buch die übliche Auflagenbegrenzung von 5 000 Exemplaren aufgehoben.
     Die Startauflage betrug 25 000, die Nachauflage 10 000. Gleichzeitig gab Oschilewski zu Scholz' 45. Geburtstag eine kleine Festschrift »Kreuzwege der Politik. Sammlung klassischer Leitartikel von Swift bis Scholz« heraus. Unter demselben Titel erschienen 1950 die gesammelten Leitartikel der Jahre 1948/49. Der mit 559 Seiten doppelt so starke Anschlußband für die Jahre 1950 bis 1952 »Berlin in Würgegriff« war bebildert, mit einer Chronik der Jahre 1945 bis 1952 versehen und wurde durch ein Gesamtregister für alle drei Bände erschlossen. In gleicher Ausstattung erschienen die Folgebände für die Jahre 1953 bis 1955 »Zwischen Krieg und Frieden« und 1956 bis 1960 »Berlin ist eine freie Stadt«. Die letzten Bände für die Jahre 1961 bis 1963 »Auf Umwegen zum Ziel« und schließlich »Umdenken« für die Jahre zwischen Passierscheinvereinbarungen und CSSR-Intervention 1964 bis 1968 erschienen wieder mit geringerer Seitenzahl und ohne die frühere Selbstsicherheit und Gewißheit des Sieges im Kalten Krieg.
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»Sowjetzone – kurz belichtet«

Der »Telegraf« war 1946 im Vorfeld der Zwangsvereinigung von SPD und KPD gegründet worden mit dem Ziel, in die Sowjetische Zone hineinzuwirken. Voraussetzung dafür war die Beschaffung von Informationen. Im ersten Rückblick auf seine Arbeit »Zwei Jahre Telegraf« ist eine Karte mit dem weitverzweigten Korrespondentennetz abgebildet. Die Korrespondentenstützpunkte in der Sowjetzone sind ohne Verbindungslinien zur Berliner Zentrale abgebildet. Um nicht nur auf die Mitteilungen sozialdemokratischer Widerstandsgruppen angewiesen zu sein, hatte Ressortchef Werner Nieke eine »Telegraf«-Ostredaktion mit eigenem Nachrichtenapparat aufgebaut. Nieke war eine etwas exzentrische Persönlichkeit. Er hatte Philosophie studiert und war danach Assistent am Religionspsychologischen Seminar der Universität Berlin geworden. Zunächst hatte er an wissenschaftlichen Publikationen mitgearbeitet, sich aber später als Kaufmann und Bauführer in Mecklenburg durchgeschlagen. Was ihn für seine dritte Karriere als Journalist qualifizierte, war das Vertrauen des britischen Geheimdienstes, den er mit Ostinformationen belieferte. Daß er sich auch beim sowjetischen KGB und später der Staatssicherheit der DDR abgesichert hatte, kam erst nach 1989 ans Licht.10) Die zweite Aufgabe der Ostredaktion des »Telegraf« bestand im Aufbau

eines illegalen Vertriebsapparats in der Ostzone. Über diesen Apparat wurden der »kleine Telegraf«, SPD-Druckschriften und weitere beim »Telegraf« für den Osteinsatz besonders hergestellte Schriften vertrieben.
     Als im Frühjahr 1948 die kommunistische Agitation gegen die angebliche Versklavung der Westzonen durch Demontagen und Marshall-Plan einsetzte, konterte der »Telegraf« mit einer Broschüre »Ost-Demontage«. Darin wurde eine Liste der 318 in der Ostzone demontierten oder zur Demontage vorgesehenen Betriebe veröffentlicht, von der Metallurgiefirma Leiphold in Suhl bis zur Schokoladenfabrik Mauxion. Auf der letzten Seite der Schrift wurde noch ein Artikel der amerikanischen »Neuen Zeitung« über »Weitere Verluste in der Ostzone« nachgedruckt. Die Umschlagszeichnung zeigt zwei ratlose Arbeiter, die vor einer ausgeräumten Fabrikhalle auf einer Holzbank sitzen und verunsichert in die Zukunft blicken.
     Im Kleinformat und auf Dünndruckpapier erschienen beim »Telegraf« die Wochenzeitung des vom US-Geheimdienst gegründeten Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen »Nachrichten aus der freien Welt« und die Ostausgabe der Wochenzeitung des DGB »Welt der Arbeit«. Die Redaktion besorgte der Leiter des Ostbüros des DGB in Berlin, Gerhard Haas, der in den 60er Jahren zur Psychologischen Kampfführung der Bundeswehr überwechselte. In gleicher Auf-
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   46   Probleme/Projekte/Prozesse Der »Telegraf«  Vorige SeiteNächste Seite
machung wurde als Gegenstück zum Zentralorgan der Freien Deutschen Jugend (FDJ) »Junge Welt« eine »Freie Junge Welt« herausgebracht.
     Noch wirksamer als die Tarnschriften waren die über sogenannte Ostabonnements vertriebenen normalen »Telegraf«-Ausgaben. Im Rahmen des aus dem Bundeshaushalt finanzierten »Gesamtberliner Kulturplans« konnten Bewohner der DDR und Ostberlins ab 1957 gegen Zahlung von Ostmark im Verhältnis 1:1 Westberliner Kulturveranstaltungen besuchen, prämierte Filme sehen (»Die Brücke am Kwai«) und normale Westzeitungen und -zeitschriften, darunter den »Spiegel«, als Abholabonnement über bestimmte Grenzkioske beziehen.11) Bis zu 500 000 Menschen passierten bis 1961 täglich in Berlin die offene Grenze.
     »Telegraf«-Redakteure, die in Ostberlin gefaßt wurden, mußten allerdings mit hoher Bestrafung rechnen. So wurde der Redakteur Heinz Gerull 1950 beim Besuch seiner Mutter im Ostsektor verhaftet und von einem sowjetischen Militärtribunal zu einer 25jährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Sein jüngerer Bruder Jürgen Gerull, der mit einer Gruppe der »Falken« versucht hatte, den »kleinen Telegraf« im Ostsektor zu verteilen, wurde 1949 im sogenannten »Falken-Prozeß« zu einer Haftstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt.
     Gegen Menschenraub, eine in den 50er Jahren bei KGB und Staatssicherheit übliche
Praktik, versuchten sich die Redakteure durch geladene Revolver in der Schreibtischlade zu schützen. Dem aus Hamburg nach Westberlin übergesiedelten Journalisten Thorsten Müller gefiel das politische Klima in der »Telegraf«-Redaktion nicht. Beim Versuch, in die tägliche Kolumne »Sowjetzone – kurz belichtet« menschliche Töne ohne Kampfbegriffe hineinzubringen, wurde er schon nach drei Tagen von einer Kollegin gestoppt: »Thorsten, du kannst nicht genügend hassen!«12)

Niemand wollte nach Westberlin

Die kämpferisch-antikommunistische Haltung des »Telegraf« bestimmte den publizistischen Erfolg des Blattes in den 40er und frühen 50er Jahren. Als aber der Ullstein Verlag ab 1952 mit seinen Traditionsblättern »Berliner Morgenpost« und »BZ« wieder antrat, kehrten viele der als Zeitungsleser konservativen Berliner den nach 1945 neugegründeten Zeitungen den Rücken.
     Die Ullstein-Blätter trafen mit ihrer seichten Blattmischung viel eher die Wünsche der Leser, die nicht ständig daran erinnert werden wollten, daß sie auf einer gefährdeten Insel wohnten und kämpfen sollten.
     In anderen Verlagen gilt der eiserne Grundsatz, daß der Verleger bei sinkender Auflage den Chefredakteur auswechselt. Aber Verleger war schließlich Scholz selbst. Beim »Telegraf« hatten viele später bekanntgewordene

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Journalisten angefangen, so Hanns Joachim Friedrichs, Lutz Lehmann oder Jörg Mettke. Aber kein erfolgreicher westdeutscher Redakteur ließ sich nach Westberlin holen. Nach den Auflageneinbußen beim »Telegraf« gingen auch die Anzeigeneinnahmen zurück, als der Sender Freies Berlin (SFB) 1960 mit dem Werbefernsehen begann. Die SFB-Abendschau »stahl« den Zeitungen die aktuellen Nachrichten.13)
     »Bei der konstituierenden Sitzung des Fernsehrats des ZDF 1963 verlangte Scholz eine Art Sperrfrist für aktuelle Meldungen«, erinnert sich der frühere SPD-Werbechef Karl Garbe, »eigentlich eine unmögliche Sache, aber so dachte der Scholz.«14) Am härtesten traf den »Telegraf« der Bau der Berliner Mauer 1961. Auf einen Schlag verlor das Blatt nicht nur seine Ostabonnements, seine Ostdruckaufträge, sondern auch seine politische Perspektive. Aus der Hauptstadtzeitung war endgültig eine Inselzeitung geworden. Im Verdrängungswettbewerb mit den zum Springer-Konzern gehörenden Ullstein-Blättern konnte der »Telegraf« nicht mithalten. »Arno Scholz mußte jetzt bei Bonner Ministerien Klinken putzen gehen«, schildert ein Kenner der Berliner Presselandschaft die Lage. Die Hilfe bestand zunächst aus Druckaufträgen und Übergangszahlungen. »Aus dem Etat des Gesamtdeutschen Ministeriums wurden die Berliner Parteizeitungen finanziert mit der Auflage, sie bei Scholz drucken zu lassen«, so der frü-
here Leiter der Berliner Abteilung des Ministeriums, Hermann Kreutzer.
     Als nach 1969 der »Telegraf« als einzige Berliner Tageszeitung die neue Ostpolitik der sozialliberalen Koalition unterstützte, organisierte der rechte Sozialdemokrat Kreutzer als entschiedener Gegner dieser Politik eine Abbestellaktion. »Da haben Tausende mitgemacht. Das hat dem >Telegraf< wahrscheinlich einen schweren Schlag versetzt«, gesteht Kreutzer heute selbstkritisch.
     Doch auch mit Druckaufträgen und verdeckten Subventionen war der »Telegraf« 1971 nicht mehr zu halten. Der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz entschloß sich zu einem Bittgang nach Bonn, um aus dem Bundeshaushalt einen niedrigverzinslichen Millionenkredit zur Erhaltung der Berliner Pressevielfalt einzuwerben. Die Gelder sollten als überplanmäßige Einnahmen aus dem allgemeinen Bundeszuschuß und entsprechend im Landeshaushalt als überplanmä-ßige Ausgaben bei der Haushaltsstelle »Gesamtberliner Aufgaben« verbucht werden. »Da sollten ungeprüft Steuermittel ausgegeben werden, um jemandem den Bankrott zu vergolden«, höhnte der Berliner CDU-Politiker Heinrich Lummer. Grundsätzliche Kritik an dieser Form der Subventionierung kam vom »Tagesspiegel«-Verleger Franz Karl Maier, der darin einen Verstoß gegen die Pressefreiheit sah. Das Verwaltungsgericht Berlin gab der Klage des
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»Tagesspiegels« gegen die Zuwendungsbescheide statt und erklärte die Zahlungen 1973 für rechtswidrig.15)
     1971 konnte der »Telegraf« noch sein 25jähriges Jubiläum mit einer Sonderausgabe unter dem Titel »25 Jahre jung geblieben« feiern. Arno Scholz war zu der Zeit schon ein kranker Mann und hatte sich auf den Posten des Herausgebers zurückgezogen. Er starb am 30. Juli 1971.
     Die SPD übernahm nach seinem Tod die Mehrheit der Geschäftsanteile des Verlages. Als das monatliche Defizit 300 000 Mark erreichte, ließ der SPD-Schatzmeister Alfred Nau das Blatt am 30. Juni 1972 einstellen. Die Redakteure kamen gerade von der Beerdigung ihres früheren stellvertretenden Chefs und Ostredakteurs Werner Nieke zurück, als sie die Agenturmeldung über das Aus auf dem Schreibtisch fanden.16)
     Mit der Abwicklung wurde Oscar Scholz betraut. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Sozialpläne auszuarbeiten und die Betriebseinrichtung zu verkaufen.

Quellen:
1     Harold Hurwitz: Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945, Bd. 4, Teil 2, Köln 1990, S. 890 ff.
2     Jürgen Zarusky: Die deutschen Sozialdemokraten und das sowjetische Modell, München 1992, S. 286 f.
3     Peter de Mendelssohn: Zeitungsstadt Berlin, 2. Aufl., Berlin 1982, S. 535 ff.

4     Mitteilung von Herrn Helmut Bärwald vom 10. Januar 1995
5     Wolfgang Leonhard: Die Revolution entläßt ihre Kinder, Köln/Berlin 1955, S. 453 f.
6     Arno Scholz: Nullvier. Ein Jahrgang zwischen den Fronten, Berlin-Grunewald 1962, S. 429
7     Noel Annan: Our Age, London 1991, S. 300
8     Wisso Weiß: Zeittafel zur Papiergeschichte, Leipzig 1983, S. 498
9     Mitteilung von Herrn Oscar Scholz vom 6. Dezember 1994
10     Mitteilung von Herrn Heinz Gerull vom 7. Januar 1995
11     Walter Krumholz: Berlin-ABC, München 1969, Stichworte »Gesamtberliner Kulturplan« und »Presse«
12     Interview mit Herrn Thorsten Müller vom 11. Januar 1991
13     Bericht der Kommission zur Untersuchung der Wettbewerbsgleichheit von Presse, Funk/Fernsehen und Film (Michel-Kommission) über die Wettbewerbsbeziehungen zwischen Presse und Rundfunk in Berlin (West) vom 25. September 1967, In: Rundfunkanstalten und Tageszeitungen, hrsg. von der ARD, Mainz 1969, S. 240 ff.
14     Mitteilung von Herrn Karl Garbe vom 12. Dezember 1994
15     VG Berlin, Deutsches Verwaltungsblatt 1975, S. 268 f. mit Anmerkungen von Wilhelm Henke
16     Peter Hort: Da waren's nur noch sieben, In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 30. Juni 1972
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