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straße nahe dem Zentralviehhof auf. Er besuchte die 109. Gemeindeschule in der Tilsiter Straße und wollte eigentlich Lehrer werden. Mit seiner Schulzeit hatte er Pech, denn seine Lehrer wurden als Soldaten eingezogen, so daß der Unterricht oft ausfiel. Der Bildungshunger des Jugendlichen konnte so nur mäßig befriedigt werden. Seine Mutter und der gewerkschaftlich organisierte Vater förderten ihren Kronsohn so gut sie konnten.
Während seiner Schlosserlehre und auch in der Zeit seiner ersten Anstellungen bei »kleinen Krautern« in der Rüdersdorfer Straße und in der Frankfurter Allee besuchte er bis zu fünfmal in der Woche abends Handwerkerschulen in der Straßmann- und Andreasstraße.
     In den bewegten politischen Zeiten der jungen Weimarer Republik fand er sehr schnell eine politische Heimat in der Gewerkschaftsjugend und in der SPD. 1919 schloß er sich dem Metallarbeiterverband an, deren Jugend er seit 1920 in Berlin vorstand. Im selben Jahr erwarb er die Mitgliedschaft in der SPD. Sie wurde fortan zu seiner politischen Heimat. 1925 gehörte er zu den Mitbegründern der Berliner Gewerkschaftsjugend. In den Jahren bis 1933 arbeitete er als Jugendfürsorger beim Berliner Magistrat. Nach seiner Vermählung mit Gertrud Jänichen 1929 wohnte das Paar in der »Freien Scholle«, zuerst im Allmendeweg und dann – nachdem es dort ausgebombt wurde – bis zu seinem Tode
Bernhard Meyer
Er stemmte sich gegen die Zwangsvereinigung

Ehrenbürger Franz Neumann
(1904–1974)

Der Name Franz Neumann wurde unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg im politischen Berlin zu einem Begriff für Standhaftigkeit und unbeugsamen Willen. Als waschechter Berliner und Urgestein der Sozialdemokratie verfocht er wie kein anderer seiner Mitstreiter die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der SPD. Sein Name wurde zum Synonym konsequenter Ablehnung der Vereinigung von KPD und SPD zur SED in Berlin. Nach 12 Jahren Faschismus bahnte er dringend erforderlichen demokratischen Tugenden den Weg in seiner Heimatstadt.
     Franz Neumann, geboren am 14. August 1904, entstammte einer Friedrichshainer Arbeiterfamilie und verband sein Leben mit der Berliner Arbeiterbewegung, den Sorgen und Nöten einfacher Menschen. Mit seinen drei Schwestern wuchs er in einer typischen Arbeiterwohnung – Stube und Küche im Parterre – in der Friedrichshainer Pintsch-

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Moorweg 10. Mit seiner ebenfalls politisch sehr aktiven Frau verlor er während der Nazizeit nie den Kontakt zu Gleichgesinnten. Mut bewies er angesichts des sich blutig und diktatorisch etablierenden Faschismus bei den Wahlen im März 1933 als SPD-Spitzenkandidat in Reinickendorf. Als Stadtverordneter gewählt, konnte er sein Mandat nicht ausüben, da seine Partei kurze Zeit später verboten wurde. Im folgenden Jahr stellten ihn die Nazis wegen angeblicher Vorbereitung zum Hochverrat vor ein Gericht, verurteilten ihn zu 1 1/2 Jahren Gefängnis und stellten ihn danach unter Polizeiaufsicht.
     Sofort nach Kriegsende 1945 wählten ihn seine Parteifreunde zum Kreisvorsitzenden der SPD in Reinickendorf. In seinem Amt als stellvertretender Bürgermeister von Reinickendorf geriet er in Kollision mit der französischen Besatzungsmacht, die ihn kurzzeitig arrestierte. Neben seiner kommunalen Einbindung beobachtete Franz Neumann aufmerksam die politischen Vorgänge in der Viersektorenstadt und in seiner Partei. Frühzeitig wie kaum ein anderer spürte er spätestens nach der 60er Konferenz von KPD und SPD im Dezember 1945 die Gefahr einer zwangsweisen Vereinigung mit den Kommunisten, was für ihn die Selbstaufgabe der Sozialdemokratie bedeutet hätte. Im Februar 1946 entsprang aus dem von ihm geführten Kreisverband der SPD die Initiative zu einer Urabstimmung unter den Sozialdemokraten Berlins zur Frage der Vereinigung mit der
KPD. Zu dieser Meinungsäußerung kam es am 31. März 1946, nachdem Neumann zuvor am 1. März mit seinen Anhängern die legendäre Funktionärskonferenz der Berliner Sozialdemokratie organisierte und politisch führte. Er war es, der sich im damaligen Admiralspalast in der Friedrichstraße gegen die Einheitsbefürworter Otto Grotewohl und Max Fechner behauptete und in einer begeistert aufgenommenen Rede die Urabstimmung durchsetzte. Das Ergebnis der Urabstimmung gilt in der Parteigeschichte der SPD als eindeutige Absage an Zusammenschluß, Verschmelzung oder Vereinigung, ja sogar an eine Zusammenarbeit mit der KPD. Damit hatte sich Franz Neumann gegen nicht unerhebliche Widerstände von Funktionsträgern und Unsicherheiten in der Mitgliedschaft in seiner Partei durchgesetzt und die Unabhängigkeit der Berliner Sozialdemokratie gesichert.
     Im April 1946 wurde er auf dem Zehlendorfer Landesparteitag zu einem der drei Berliner SPD-Vorsitzenden gewählt. Schon wenige Monate danach übernahm er den alleinigen Vorsitz des Landesverbandes Berlin. Der »mutige Traditionalist«, wie Willy Brandt den kraftvollen und hellen Berliner später nannte, war fest in der Berliner Arbeiterschaft verwurzelt und widerstand dem von den Sowjets unterstützten Hegemoniestreben der KPD. Die praktizierte Politik und die Behandlung der ehemaligen Sozialdemokraten in der Einheitspartei ga-
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ben ihm recht. Die kommunalen Oktoberwahlen 1946 in Berlin gestalteten sich zur Überraschung aller Alliierten zum Triumph der SPD, die als stärkste politische Kraft aus diesen demokratischen Wahlen hervorging. Maßgeblicher geistiger und organisatorischer Vater des Erfolgs war Franz Neumann.
     Darüber verlor er seine sozialpoltischen Ambitionen keineswegs aus dem Auge.
1946 gehörte Neumann zu den Mitbegründern der Berliner Arbeiterwohlfahrt und war seitdem einer der Mitvorsitzenden. Bis 1956 war er Vorsitzender der SPD von Berlin. Zwischen 1946 und 1960 gehörte er ununterbrochen der Stadtverordnetenversammlung bzw. dem Abgeordnetenhaus an, wo er bis 1958 die Fraktion seiner Partei führte.
20 Jahre lang (1949 bis 1969) gehörte er als Berliner Vertreter dem Deutschen Bundestag an. Am 20. Oktober 1971 wurde Franz Neumann für seine Verdienste um die Stadt die Ehrenbürgerschaft Berlins verliehen.
In der Ehrenurkunde des Senats und des Abgeordnetenhauses wird sein Wirken beim Aufbau einer freiheitlichen Demokratie in Berlin, als Vorsitzender der SPD von Berlin sowie als Mitbegründer und späterer Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt Berlin gewürdigt, wobei betont wird, daß er entscheidend dazu beigetragen habe, »daß die 1946 geplante Zwangsvereinigung von SPD und KPD verhindert wurde«.
     Franz Neumann verstarb am 9. Oktober 1974 in Berlin. Er wurde auf dem Friedhof
Tegel »Am Nordgraben« beerdigt. In der Öffentlichkeit der Stadt erinnern heute der »Franz-Neumann-Platz« und der dort gelegene U-Bahnhof in Reinickendorf an ihn.
     Am 14. Dezember 1974 gründete sich das Franz-Neumann-Archiv, das sich in der Ackerstraße (Wedding) befindet und liebevoll die Hinterlassenschaft seines Wirkens pflegt.
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