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Bernhard Meyer
10. Oktober 1837:
Eröffnung des ersten evangelischen Krankenhauses in Berlin

Jenseits des Brandenburger Tores, flankiert von Tiergarten und Landwehrkanal, gründete sich 1837 in der Potsdamer Straße 31 (heute Lützowstraße 24–26) ein Krankenhaus, das im Jahr darauf den Namen der Kronprinzessin und späteren (1840) Königin von Preußen Elisabeth (1801–1873), Frau des Königs Friedrich Wilhelm IV., erhielt. Aufgenommen wurden bis 1872 nur hilfsbedürftige Frauen. Ihnen sollte in der Krankenanstalt seelische Betreuung, Krankenpflege im Sinne christlichen Liebesdienstes und medizinische Betreuung durch Ärzte widerfahren. So wollte es der Initiator der Krankenanstalt, Pastor Johannes Evangelista Gossner (auch Goßner; 1773–1858), der in seiner Eröffnungspredigt verkündete, die Einrichtung solle »eine christlich-evangelische Anstalt, eine Samariterherberge und ein Haus der Barmherzigkeit und Nächstenliebe« werden, in der die »Verlassenen, Elenden und Kranken (Frauen – B. M.) der

Stadt Zuflucht und Genesung finden« können.1)
     Der Gründung des Hauses kam in mehrfacher Hinsicht beträchtliche Bedeutung zu: In Berlin gab es noch kein einziges städtisches Krankenhaus, obwohl bereits 300 000 Einwohner (1834) gemeldet waren. Beginnende Industrialisierung, Übersiedlung vom Land in die Stadt und Lockerung des Lebens im traditionellen Familienverband, in dem Geburt, Krankheit, Alter und Tod ihre soziale Heimstatt fanden, ließen die Zahl derer, die für die Wechselfälle des Lebens weder Bleibe noch Zuwendung besaßen und dementsprechend in unausweichliche Notlagen gerieten, ansteigen. Wer begütert war, ging im Krankheitsfalle nicht in ein Hospital oder Krankenhaus, sondern ließ den Arzt auf eigene Kosten in seine Wohnung kommen. Alleinstehende Arme und vor allem Frauen gerieten in Notsituationen und benötigten die Institution Krankenhaus. So setzte sich die Klientel der wenigen Krankenhäuser Berlins (Charité, Jüdisches Krankenhaus, Krankenhaus der französisch-reformierten Gemeinde) vordergründig aus jenen Armen, Behinderten, Kranken und Siechen zusammen, die in jeder Weise entwurzelt waren. Mit dem Elisabeth-Krankenhaus entstand eine in der Stadt dringend benötigte Einrichtung, die sich in selbstloser Weise dieser Verelendeten annahm.
     Zum anderen rührt die Bedeutung des Krankenhauses aus der Verbindung von kör-
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Das erste Krankenhaus von 1837 – links der Erweiterungsbau aus dem Jahre 1838

perlicher Pflege mit medizinischer Hilfe durch Ärzte und seelischer Betreuung entsprechend christlicher Nächstenliebe. Gossner wollte nicht nur hospitalisieren und pflegen, also die Betroffenen gewissermaßen von der Straße holen und verwahren, sondern ihnen zugleich ärztliche Hilfe angedeihen lassen. Schließlich erstreckte sich die Gossnersche Konzeption auf die Sozialisation unverheirateter und berufsloser evangelischer Frauen. Deren Ehe- und Kinderlosigkeit war seinerzeit mit einem gewissen Makel umgeben, der sie in der bürgerlichen Welt an die Peripherie drängte. Sie erhielten im Elisabeth-Krankenhaus eine sie ausfüllende Aufgabe und zunehmend über eine qualifizierte Ausbildung einen anerkannten Beruf, in dem sie barmherzige Dienste für den hilflosen Nächsten leisteten, ihn trösteten, wuschen und fütterten, freilich ohne zunächst über krankenpflegerische Kenntnisse zu verfügen.
     Gossner gründete am 10. Oktober 1833 einen »Frauen-Kranken-Verein«, der unverheiratete und an sozial-pflegerischer Arbeit interessierte evangelische Frauen zusammenfaßte. Sie führten zunächst Krankenbesuche mit praktischer Hilfe in den armseligen Wohnstätten der erkrankten Frauen durch. Das erwies sich in jeder Hinsicht als völlig unzulänglich und nur bedingt hilfreich. Auch die 1836 angemietete Etagen-
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wohnung in der Hirschelstraße am Leipziger Platz und deren Nutzung als »Krankenwohnung« erfüllte die Hoffnungen nur unzulänglich, denn lediglich 72 Kranke konnten dort in 12 Monaten gepflegt werden, wobei der Diakoniegedanke sich so nur ansatzweise verwirklichen ließ. Gossners Vorstellung vom biblischen Gebot der Nächstenliebe, der Verantwortung der Gemeinde für die sozialen Belange Bedürftiger erstreckte sich bis zur aktiven Wahrnahme der diakonischen Pflicht der Gemeindemitglieder, durch tätige Hilfe oder Spenden Mildtätigkeit zu üben. Verdienstvoll sind seine Bemühungen um die Wiederbelebung des Diakonats der Frauen im Sinne der Barmherzigen Schwestern, für die er ein spezifisches diakonisches Berufsfeld absteckte: Berufliche Fachkraft zur medizinisch ausgerichteten Pflege und seelischen Betreuung erkrankter Menschen. Gossner ebnete damit durch praktische Schritte den Weg als Diakonisse im Gesundheitswesen, wobei er sich auf Anstöße zur krankenpflegerischen Fundierung durch Amalie Sieveking (1794–1859) stützte. Mit diesem gedanklichen Konstrukt erkannte er schnell, daß nur die Herauslösung der Erkrankten aus dem sozial und hygienisch belastenden Wohnquartier und die Aufnahme in ein Krankenhaus Linderung oder Besserung bringen konnte. Bald schon ermöglichten Geld- und Sachspenden wohltätig denkender Bürger, darunter 6 000 Taler von König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840, König seit 1797), den Erwerb eines zweistöckigen Wohnhauses mit Hof, Garten und Brunnen in der damaligen Potsdamer Straße für ca. 20 000 Taler.2) Der Grundstock für das Krankenhaus war gelegt.
     Pastor Gossner, 1826 vom katholischen zum evangelischen Glauben gewechselt und seit 1829 Pfarrer der böhmisch-lutherischen Bethlehemsgemeinde in der Mauerstraße, befand sich mit seinem Projekt frühzeitig in Übereinstimmung mit diakonischen Gedanken der christlichen Lehre, die sich bei Theodor Fliedner (1800–1864) als dem Begründer des ersten Diakonissen- Mutterhauses 1836 in Kaiserswerth und bei Johann Heinrich Wichern (1808–1881) mit seinem »Rauhen Haus« (1839) zur Ausbildung von Diakonissinnen in Hamburg ebenfalls finden. Gossner gilt als einer der »Väter der Diakonie«. Geboren am 14. Dezember 1773 in Hausen (Kreis Günzburg) erhielt er 1796 die Priesterweihe und wurde Domkaplan (1802) in Augsburg. Als das Berliner Wohnhaus im heutigen südlichen Teil des Bezirks Tiergarten alsbald mit 60 Betten als einfaches Haus zur Unterbringung von Kranken ausgestattet werden konnte, hatte er das 64. Lebensjahr bereits erreicht. Die Krankenhausgründung gestaltete sich zum Höhepunkt seiner sozialen Bestrebungen. Die Gemeinde unterstützte sein diakonisches Werk. Wäsche und Bettzeug stifteten und nähten Bürgerfrauen, die Pflege leisteten unverheiratete Frauen – alles ehrenamt-
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lich. Die medizinische Betreuung übernahm stundenweise bis 1847 der Arzt Hans Ferdinand von Arnim, der keine Anstellung besaß, sondern sein Einkommen aus seiner privaten Niederlassung bezog. An seiner Seite agierte der Frauenarzt Karl Wilhelm Mayer (1795–1868), der 1844 die Geburtshilfliche Gesellschaft gründete und später der Schwiegervater von Rudolf Virchow (1821–1902) wurde. Als erste Hausmutter amtierte Fräulein Julie von Hochwächter, die den Krankenhausbetrieb organisierte und die vorerst aus 12 Pflegerinnen bestehende Schwesternschaft zusammenhielt. Neben dem körperlichen und geistlichen Wohl der Patientinnen, morgens und abends fanden Gottesdienste im Krankenzimmer statt, sorgte sich Gossner seelsorgerisch auch um die Schwestern. Sie wohnten fortan im Krankenhaus (heute Seniorenwohnheim) und fühlten sich wie eine Familie, die als eine Glaubens-, Lebens- und Dienstgemeinschaft fungierte. Laut Ordinationsordnung opferten sie die »Kräfte ihres Lebens und ihrer Seele dem heiligen Amte«, verzichteten auf Lohn und Gehalt zugunsten eines knappen Taschengeldes, kannten keine geregelte Arbeitszeit und trugen zeitlebens im Dienst und in der karg bemessenen Freizeit die gleiche Tracht – Haube und Lebid. Als 1842 die Genehmigung zur Ausbildung von Schwestern erteilt und 1862 das Diakonie-Mutterhaus gebildet wurde, erhielten sie eine solide krankenpflegerische Un- terweisung. Sie waren fachlich in die Lage versetzt, barmherzige Hilfe mit Sachkenntnis als christliche Antwort auf ungelöste soziale Probleme zu leisten. Nun mit einer beruflichen Ausbildung ausgestattet, waren sie unentbehrliche Glieder der Diakonie im Sinne der Geschichte vom barmherzigen Samariter: »Gehe hin und tue das Gleiche.«
     Für die Solidierung des Krankenhauses steht das Jahr 1867. Nach zweijähriger Bauzeit werden Kirche und 170-Bettenhaus als Neubauten eingeweiht, während sich die Berliner Stadtverordneten immer noch um die Finanzierung des ersten städtischen Krankenhauses stritten, das erst 1874 die Pforten öffnete. Der Name lautete nun bis in die heutige Zeit »Elisabeth-Diakonissen und Krankenhaus«. Die Interpretation der Elisabeth erfuhr eine Wandlung zur Heiligen Elisabeth (1207–1231), der Landgräfin von Thüringen, die als »Mutter der Armen« nach ihrem frühen Tod kultische Verehrung erfuhr. Ferner bringt der Name die spezielle Beziehung von Diakonie und Medizin sinnfällig zum Ausdruck. Das nach dem Tode von Gossner 1858 nunmehr langjährige Zusammenwirken von Nachfolger Pastor Kuhlo und der Oberin A. von Arnim wirkte sich segensreich auf das Krankenhaus aus. 1872 erfolgte die Einrichtung einer chirurgischen Männer- und Kinderstation, während 1885 ein moderner Operationssaal nebst Feierabendheim ihrer Bestimmung übergeben wurden. 102 Diakonissinnen (einige davon
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in Außenstellen) versahen ihren Dienst im Krankenhaus, das nun 153 Betten der I. bis III. Klasse mit Verpflegungskosten von 1,75 Mark bis acht Mark pro Tag umfaßte (1883). Die Aufnahmebedingungen erfuhren seit der Gründung vor ca. 50 Jahren eine deutliche Lockerung, denn es wurden jetzt Kranke beiderlei Geschlechts und jeden Alters unabhängig von der Konfession aufgenommen. Letzteres hatte auch finanzielle Gründe, denn auf die Bezahlung für Kranke aus der Armenkasse der Stadt wollte die Direktion wohl nicht verzichten. Ausgeschlossen von der Aufnahme waren aus räumlichen und arbeitsteiligen Gründen Geistes- und Geschlechtskranke sowie Cholera- und Flecktyphusinfizierte, für die in der Charité spezielle Stationen bestanden. Insgesamt 1 639 Patienten wurden 1883 stationär aufgenommen, wobei die Einnahmen (159 000 Mark) die Ausgaben (154 000 Mark) leicht überstiegen. Über die Hälfte der Einnahmen resultierte aus dem Posten »Verpflegungsgelder«.3)
     Im Oktober 1997 jährt sich zum 160. Male der Gründungstag des Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhauses, das den Status eines Akademischen Lehrkrankenhauses trägt. Es ist das nach der Charité zweitälteste Berliner Krankenhaus am gleichen Standort. (Das jüdische Krankenhaus kann zwar auf eine bedeutend längere Existenz verweisen, befand sich jedoch an verschiedenen Standorten.) Heute sorgen sich 400 Mitarbeiter
(je 100 Betten in der Chirurgie und Inneren Medizin) um die Patienten, wobei ein Seniorenheim und ein weltliches Krankenschwesternhaus zum Ensemble unweit des neuentstehenden Potsdamer Platzes gehören. Trotz konfessioneller Anbindung, Kirchenkapelle direkt am Eingang und Kirchenglocke auf dem Gelände, wird die Einrichtung vom Senat von Berlin finanziert und strukturiert, während als Geschäftsführer der Verein zur Errichtung evangelischer Krankenhäuser e. V. Berlin fungiert.4) Auslastung und Ruf des »Kiezkrankenhauses« beweisen seine ungebrochene Leistungsfähigkeit.

Quellen:
1     Zit. in: H. Lang: Die Gründung und Frühzeit des Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhauses in Berlin (1837–1859), Berlin 1964, S. 37
2     Geschichtslandschaft Berlin. Orte und Ereignisse, Bd. 2, Tiergarten. Vom Brandenburger Tor zum Zoo, Berlin 1989, hrsg. von H. Engel/ S. Jersch-Wenzel/ W. Treue
3     Krankenhaus-Lexikon für das Königreich Preußen, Berlin 1885
4     150 Jahre Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus 1837–1987, Festschrift, Berlin 1987

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© Edition Luisenstadt, 1997
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