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Gerhard Fischer
»Die Lüfte der Zeit ließen sich nicht mehr absperren«

Anfänge des politisch organisierten Liberalismus in Berlin

Seit der Pariser Februarrevolution von 1848 lag, wie in anderen europäischen Hauptstädten, auch in Berlin ein Volksaufstand gleichsam in der Luft. Den bürgerlich- demokratischen Literaten Karl Gutzkow (1811–1878) – in Berlin aufgewachsen, seit 1846 in Dresden wirkend – zog es Anfang März in seine Vaterstadt zurück; er wollte die bevorstehenden Ereignisse an Ort und Stelle erleben. »Das Wetter war unfreundlich«, erinnert er sich 1875 in den »Rückblicken auf mein Leben« an seine Reise in die preußische Hauptstadt. (Siehe BM 5/93 und 5/95) »Aber die Welt war aus den Fugen. Auf jeder Station gab es eine Errungenschaft mehr, die von den Zeitungen ausgerufen wurde. Nur in Berlin war noch alles ruhig. Wieder schien hier, wie 1830, die Woge am Militär, an den Gendarmen sich brechen zu wollen ... Aber die Lüfte der Zeit ließen sich nicht mehr absperren.«1)

Gutzkow behielt recht: Am 6. März fand in den »Zelten« am Nordrand des Tiergartens die erste Massenversammlung revolutionär gestimmter Berliner Bürger statt, der fortan täglich an gleichem Ort weitere derartige Zusammenkünfte folgten. Schon am nächsten Tage forderten die Versammelten den Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861, König von 1840–1858) in einer Petition auf, Presse- und Redefreiheit zu gewähren, alle politischen Gefangenen zu amnestieren, Geschworenengerichte einzuführen, das stehende Heer zu vermindern, einer Volksbewaffnung zuzustimmen, sich für eine allgemeine deutsche Volksvertretung einzusetzen und schleunigst den Vereinigten Landtag einzuberufen.2) Dieser faßte seit 1847 die Ständevertretungen der acht preußischen Provinzen zusammen, um endlich das königliche Verfassungsversprechen von 1815 wenigstens der Form nach zu erfüllen, war jedoch im wesentlichen ein Debattierklub geblieben.
     Gutzkow wurde nicht allein Augenzeuge, sondern Akteur des nun beginnenden revolutionären Geschehens in Berlin. Am 18. März fand es seinen ersten Höhepunkt in den Barrikadenkämpfen zwischen Armee und bewaffneten Bürgern. Am Tag darauf sprach der Schriftsteller auf dem Schloßplatz zu den dort Zusammenströmenden, die den »Märzgefallenen« bei der Überführung der Särge zum Friedrichshain die letzte Ehre erwiesen, und forderte eine Bür-
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gergarde – ein Verlangen, das er dem König schon brieflich unterbreitet hatte. Die Grundgedanken dieser spontanen Rede arbeitete er zu einer gedruckten »Ansprache an die Berliner« aus, die er bei Robert Springer (1816–1885) als Flugschrift erscheinen ließ3) und die einen lebhaften öffentlichen Widerhall erfuhr, weil er darin das Volk aufrief, die im ersten Anlauf errungenen Rechte und Freiheiten zu verteidigen.
     Am 23. März 1848 gründete sich im Hôtel de Russie, wo Gutzkow abgestiegen war, der »politische Club der Demokraten«, in der Hauptsache aus Handwerkern und Intellektuellen zusammengesetzt. Zum Präsidenten wurde der Assessor Georg Gottlob Jung (1814–1886) bestimmt, ein aus Köln nach Berlin gekommener Junghegelianer, der am Vortag bei der Trauerfeier für die Märzgefallenen im Friedrichshain die Gedenkrede gehalten hatte. Mitbegründer des Klubs waren neben Gutzkow sein Freund Heinrich Bernhard Oppenheim (1819–1880), Nationalökonom und Journalist, und Maximilian Freiherr von Gagern (1810–1889), der liberale Politiker aus Nassau und spätere Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung. Das war die Geburtsstunde des politisch organisierten Liberalismus in Preußen und seiner Hauptstadt.
     Gewiß, Vereinigungen mit politischen Zielen hatte es auch zuvor in Berlin schon gegeben. Erinnert sei an Zusammenschlüsse im Kampf gegen die napoleonische Besetzung
wie den »Deutschen Bund«, 1810 von Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) und seinem getreuen Helfer Karl Friedrich Friesen (1784–1814) geschaffen, oder die mehr konservativromantisch orientierte »Christlich- deutsche Tischgesellschaft«, im Jahr darauf durch Achim von Arnim (1781–1831) und Adam Heinrich Müller (1779–1829) ins Leben gerufen, auch an studentische Korporationen im Sinne der Burschenschaft von 1815 oder an die Turnvereine, die sich vor allem seit 1842 bildeten. Das Wachstum von Industrie und Banken, von Handel und Verkehr, das 1819 in Frankfurt am Main unter maßgeblichem Anteil von Friedrich List (1789–1846) den Allgemeinen Deutschen Handels- und Gewerbeverein entstehen ließ, brachte 1820 die »Korporation der Kaufmannschaft von Berlin« und 1844 den Berliner Handwerkerverein hervor.
     Ein sehr unterschiedliches Herangehen an die immer drängender werdende »soziale Frage« führte im gleichen Jahr zu dem von Begüterten in Berlin gebildeten »Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen« und im Jahr danach zu einem Zweig des »Bundes der Gerechten«, des 1836 in Paris entstandenen Vorläufers des »Bundes der Kommunisten« von 1848. Auch hatten zuweilen aktuelle Umstände neue Vereine mit politischem Zweck kurzzeitig auf den Plan treten lassen, so 1821 der griechische Aufstand gegen die türkische Herrschaft einen »Griechenverein« mit Persönlichkeiten des
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Berliner Geisteslebens wie dem Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836), dem Komponisten Albert Lortzing (1801–1851) und dem Dichter Wilhelm Müller (1794–1827). Dies alles waren jedoch keine politischen Parteien in dem Sinne, den das Wort »Partei« dann seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts gewonnen hat.
     Überhaupt verstand man damals unter einer Partei noch keine festgefügte Organisation mit eingeschriebenen und beitragzahlenden Mitgliedern, mit beschlossenem Programm und Statut, auf beständige und zielstrebige Vertretung sozialer Interessen und politischer Überzeugungen gerichtet, sondern einfach ein politisches Lager, eine Bewegung, eine mehr oder weniger große Gruppe von Gleichgesinnten. Insoweit ist also beispielsweise der Versuch, die »marxistisch- leninistische Theorie von der Partei« direkt aus dem Parteibegriff im »Manifest der Kommunistischen Partei« von 1848 herzuleiten, historisch gesehen in die Irre gegangen. Realistisch betrachtet, konzentrierte sich im Berlin des Vormärz politische Meinungs- und Parteienbildung auf die genannten Vereine bürgerlich- liberalen, kleinbürgerlich- demokratischen oder proletarischen Charakters; ansonsten fand sie in Redaktionen und Lesekabinetten, in Restaurants und Cafés statt.
     So verwundert es nicht, daß die »Zeitungshalle«, in der gleichnamigen Einrichtung von Dr. Gustav Julius (1810–1851) in der
Jägerstraße redigiert, sofort zum Sprachrohr des »politischen Clubs der Demokraten« avancierte. Verstärkung und zugleich Konkurrenz erhielt sie, als »Die Reform«, seit dem 1. April 1848 von Oppenheim und dem Junghegelianer Arnold Ruge (1803–1880) in Leipzig herausgegeben, am 1. Juli jenes Jahres ihren Sitz nach Berlin verlegte. Überhaupt schossen um diese Zeit in Berlin neue Blätter unterschiedlichster Couleur förmlich wie Pilze aus der Erde, und alteingesessene Zeitungen wetteiferten mit ihnen um eine entschiedenere Sprache, höhere Auflagen und erhöhten Einfluß.
     Die »Spenersche« und die »Vossische Zeitung« zum Beispiel wurden zum Organ der zweiten parteiartigen Organisation des Bürgertums in Berlin, des »Constitutionellen Clubs zu Berlin«, der sich am 28. März 1848 im Bahnhofsgebäude der Berlin- Potsdamer Eisenbahn gründete. An seine Spitze trat der Breslauer Kammergerichtsrat Ludwig Crelinger (geb. 1797), und der Berliner Journalist Ernst Kossak (1814–1880) wurde einer der Clubsekretäre. Dieser politische Zusammenschluß, der als Mitteilungsblatt die »Constitutionelle Clubzeitung« herausbrachte, wollte am Königtum als dem Garanten von Ruhe und Ordnung, aber auch an den bis dahin erkämpften demokratischen Errungenschaften festhalten. Dagegen gründeten linke Revolutionäre am folgenden Tag im Café des Artistes in der Taubenstraße den »Central- Arbeiter- Club« und am 11. April das
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»Central-Komité für Arbeiter« unter dem kommunistischen Schriftsetzer Stephan Born (1824–1898); seine ab Ende Mai erscheinende »sozial- politische Zeitschrift« trug den Titel »Das Volk«.
     Radikale Demokraten waren es auch, die am 30. März in den »Zelten« auf Vorschlag des Philosophen Dr. Max Schaßler den »Volksverein« proklamierten. Seine 3 000 Mitglieder – in der Hauptsache Arbeiter und linksdemokratische Angehörige der Intelligenz – traten für »wahrhafte Volksbewaffnung, wahrhafte Volksvertretung, wahrhafte politische und sittliche Volksbildung« ein; ihr Blatt war »Die Volksstimme«. Wenige Tage darauf bildete sich ein weiterer politischer Klub um die »gemäßigt«liberale Berliner »National- Zeitung«, das seit dem 1. April erscheinende Organ des Verlegers und späteren Gewerkschaftsführers Franz Duncker (1822–1888), des Pädagogen Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg (1790–1866), des Publizisten Adolf Rutenberg (1808–1869) und des Industriellen Werner Siemens (1816–1892).
     Dem revolutionär- demokratischen Flügel wiederum erwuchs zusätzliche Unterstützung durch das »zwanglose Flugblatt«, das unter dem Titel »Der Volksfreund« seit dem 5. April unter der Redaktion des Studenten Gustav Adolph Schloeffel (1828–1849) erschien, und seit dem 8. April durch die »Deutsche Arbeiter- Zeitung«, zu deren Redaktionskomitee der Goldarbeiter und Kom-
munist Ludwig Bisky (1817–1863) gehörte. Eine organisatorische Plattform erhielten die linksdemokratischen Bestrebungen in Gestalt des »Volkswahlkomitees«, das mehr als 10 000 Berliner Bürger am 10. April in den »Zelten« bildeten, um ein allgemeines und direktes Wahlrecht durchzusetzen.
     Den politischen Hintergrund all jener Klub-, Komitee- und Zeitungsgründungen nämlich bildeten die damals anstehenden Wahlen zur verfassunggebenden Versammlungen – der Konstituierenden Nationalversammlung, die erstmals am 18. Mai 1848 in der Paulskirche zu Frankfurt am Main zusammentreten sollte, und der »konstituierenden Versammlung zur Vereinbarung der Preußischen Staatsverfassung«, deren erste Arbeitssitzung zum 22. Mai 1848 in die Berliner Singakademie einberufen wurde – sowie zur Berliner Stadtverordnetenversammlung. So zeigte sich, wie eng die Entstehung von Parteien und die Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland und auch in Berlin mit der bürgerlich- demokratischen Revolution zusammenhingen. In den Wahlkämpfen des April und Mai 1848 prallten die Standpunkte zu den Grundfragen der deutschen nationalstaatlichen Einheit, der freiheitlich- demokratischen Rechte, der künftigen sozialen Ordnung hart aufeinander.
     Zu einem Brennpunkt der Auseinandersetzungen um Fortschritt oder Reaktion wurden – dem Charakter der Revolution
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entsprechend – die schon angedeuteten Meinungsgegensätze beim Wahlrecht. Um beim Berliner Beispiel zu bleiben: Die preußische Hauptstadt zählte seinerzeit etwa 400 000 Einwohner. Am 1. Mai 1848 durften jedoch nur 60 000 »Urwähler« die Berliner »Wahlmänner« bestimmen, die ihrerseits die Berliner Abgeordneten für die verfassunggebenden Versammlungen erkoren: am 8. Mai zehn für die Singakademie, am 10. Mai sechs für die Paulskirche. Bei den Stadtverordnetenwahlen, die sich Mitte Mai anschlossen, waren ganze 25 000 Berliner wahlberechtigt – lediglich die Haus- und Grundstücksbesitzer! Gerade solche Zahlenvergleiche lassen erkennen, warum zuvor so heftig um den Wahlmodus gestritten worden war. Noch Jahrzehnte sollte es dauern, bis das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht verwirklicht wurde: eines von vielen Anzeichen dafür, daß die Revolution von 1848/49 auf halbem Wege steckenblieb.
     Mitte April 1848 gelangte das revolutionäre Geschehen in Berlin an einen Wendepunkt: Das Volkswahlkomitee rief am 17. April in den »Zelten«, unterstützt vom »Politischen Club der Demokraten«, zu einer Massendemonstration am 20. April auf, um den Forderungen der demokratisch gesonnenen Bevölkerung nach allgemeinem Wahlrecht Nachdruck zu geben. Am 18. April wurde die Kundgebung von der Regierung verboten; Stadtverordnetenversammlung und Magistrat, Liberal- konstitutionelle und
eine neugebildete »Bürgergesellschaft« stimmten dem Verbot zu. Daraufhin wichen die Einberufer der Demonstration, bewaffnete Konflikte befürchtend, zurück und sagten die Aktion ab. Von nun an zeigten sich Risse im bürgerlich- demokratischen Lager immer deutlicher, und die nach rechts orientierten Kreise gewannen wieder an Boden. Auch kam es zu organisatorischen Spaltungen: Am 26. April löste sich vom »Politischen Klub der Demokraten« ein »Reformklub«, im Mai vom »Constitutionellen Club« ein »Volksclub« und schließlich ein »Patriotischer Verein« mit stark konservativer Tendenz.
     Beträchtlichen Auftrieb gewann die Volksbewegung in Berlin noch einmal im Mai 1848. Nach dem 18. März hatte Prinz Wilhelm von Preußen, der den Aufstand niederzukartätschen geraten hatte, die Hauptstadt verlassen und nach England ausweichen müssen. Nun wollten die Regierung und die »Kamarilla«, die sich als Vertreterin der Adelsinteressen am 30. März um Ernst Ludwig von Gerlach (1795–1877) und dessen Bruder Leopold (1790–1861) gebildet hatte, ihn bitten, nach Berlin zurückzukehren. Doch die Berliner protestierten, bis hin zum »Constitutionellen Club«, und 40 000 Einwohner der Hauptstadt verlangten in einer Demonstration am 14. Mai, der Hohenzollernprinz solle bleiben, wo er ist. Zu den Wirkungen dieser Massenbewegung zählte, daß sich der »Politische Club der
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Demokraten« organisatorisch straffte und am 21. Mai als »Demokratischer Club« eine neue Satzung beschloß; nun über 1 200 Mitglieder umfassend, begann er am folgenden Tag, die Zeitung »Der Demokrat« herauszugeben, die dreimal in der Woche erschien.
     Allerdings blieb auch die politische Gegenseite in Berlin nicht untätig. Nachdem die preußische Regierung den neugewählten Abgeordneten in der Singakademie einen Verfassungsentwurf vorgelegt hatte, der weder von Volkssouveränität noch von sozialen Grundrechten etwas wissen wollte, konstituierten sich am 25. Mai 1848 ein hohenzollerntreuer »Preußen- Verein für konstitutionelles Königtum«, am 3. Juli ein »Verein für König und Vaterland« und am 24. Juli ein »Verein zur Wahrung der Interessen des Grundbesitzes« mit dem recht demagogischen Zusatz »... und Förderung des Wohlstandes aller Volksklassen«. Als Blatt der »Kamarilla« und der anderen monarchistischen Vereine erschien am 16. Juni erstmals die »Neue Preußische Zeitung«, nach dem Symbol in ihrem Kopf – einem Eisernen Kreuz – sehr bald als »Kreuz-Zeitung« bekannt geworden. Seitdem formierte sich das konservative Lager unter dem Sammelbegriff »Kreuzzeitungs- Partei«.
     Ein weiteres Mal äußerte sich die außerparlamentarische Volksbewegung im revolutionären Berlin von 1848 in dem Massensturm auf das Zeughaus am 14. Juni. In seinem Gefolge entstand ein »Republikani-
scher Klub«, und auch in anderen politischen Vereinen der Hauptstadt, in Zeitungen und Flugschriften wurde die Frage »Monarchie oder Republik?« aufgeworfen. Doch im Grunde hatte der Gang der Ereignisse nach den Märzkämpfen diese Frage bereits entschieden. Daran konnte auch der 2. Demokratenkongreß, der vom 26. bis 30. Oktober 1848 in Berlin tagte, nichts Wesentliches mehr ändern.4)
     Noch einmal repräsentierten hier 226 Delegierte kleinbürgerlich- demokratischer und Arbeitervereine das vielfältige Spektrum der konsequenten Revolutionäre: von dem Linksliberalen Ludwig Bamberger (1823–1899) über Arnold Ruge und den Schriftsteller Gottfried Kinkel (1815–1882), einen linken Abgeordneten der Preußischen Nationalversammlung, bis zu Stephan Born und dem utopischen Sozialisten Wilhelm Weitling (1808–1871), der seit dem 1. Oktober 1848 in Berlin seine Wochenschrift »Der Urwähler« herausgab. Der Kongreß bekannte sich zu den Menschenrechten im umfassenden Sinn des Wortes; er forderte, die Feudallasten ohne Entgelt abzuschaffen, direktes Wahlrecht und Ein-Kammer- System in Deutschland und seinen Einzelstaaten einzuführen, und setzte sich für das Recht des Volkes ein, seine Vertreter abzuberufen, wenn sie ihr Mandat nicht erfüllten.
     Doch diese Forderungen verhallten; die Gegenrevolution hatte auch in Berlin das Blatt zu ihren Gunsten gewendet. Kaum
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zwei Wochen nach dem Kongreß vertrieb die preußische Regierung die Abgeordneten der Konstituierenden Versammlung aus der Singakademie. Am 12. November verhängte General Friedrich Heinrich Graf von Wrangel (1784–1877) den Belagerungszustand über die Stadt und verbot alle politischen Klubs, demokratischen Vereine und auch eine Reihe von Zeitungen. So zerschlug sich einstweilen die Hoffnung, die Karl Gutzkow acht Monate zuvor in seiner »Ansprache an die Berliner« geäußert hatte: »Preußen reiht sich endlich den Staaten an, die auf dem Grund des Volkswohls angelegt sind ...« Aber lebendig und wirksam blieb seine im gleichen Satz ausgesprochene Mahnung, alles zu tun, »... damit wir nie wieder zurückfallen in jenen Zustand lokaler Sklaverei und unterbundener persönlicher Freiheit ...«5)
     Festgehalten sei, daß sich in Berlin 1848 in den Grundzügen schon jenes demokratische Parteiensystem samt seinem Trend zu fortwährender Differenzierung herausbildete, das sich – in etwa vorgezeichnet auch in den Fraktionen der damaligen Verfassunggebenden Versammlungen für Deutschland und für Preußen – dann ab den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts definitiv entwickelte. Zu den Gründern der linksliberalen »Deutschen Fortschrittspartei« beispielsweise, die sich 1861 in Berlin konstituierte, oder zu den Mitgliedern der leitenden Gremien in ihrer
Frühzeit gehörten Männer, die sich bereits 1848 in der Hauptstadt hervorgetan hatten, wie Bamberger, Duncker und Siemens, der Mediziner Rudolf Virchow (1821–1902) und der Berlin- Historiker Adolf Streckfuß (1823–1895), die Abgeordneten der preußischen Konstituierenden Versammlung Johann Jacoby (1805–1878), Franz Hermann Schulze-Delitzsch (1808–1883) und Benedikt Franz Leo Waldeck (1802–1870), die in den Namen von Berliner Straßen, Plätzen oder Parks fortleben.
     Auch führende Kommunalpolitiker, die sich um unsere Stadt verdient gemacht haben und an die ebenfalls Straßen- oder Platznamen erinnern, sind aus dieser Partei hervorgegangen. Genannt seien hier nur ihr Mitbegründer Max von Forckenbeck (1821–1892, Oberbürgermeister von 1878 bis 1892), Stadtrat Heinrich Runge (1817–1886, Stadtverordneter ab 1862, Stadtkämmerer ab 1871) und Robert Zelle (1829–1901, Oberbürgermeister von 1892 bis 1898). Und auch wer vor dem Denkmal für den Historiker Theodor Mommsen (1817–1903) an der Humboldt- Universität steht, sollte an eine Persönlichkeit denken, die ihrerseits dieser Partei als Mitglied ihres Zentral- Wahlkomitees und als Reichstagsabgeordneter Rang und Profil verliehen hat.

Quellen und Anmerkungen:
1     Dieses wie die folgenden Zitate nach: Karl Gutzkow: Unter dem schwarzen Bären. Autobio-

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graphische Aufzeichnungen, Bilder und Erinnerungen, Auswahl und Einleitung: Fritz Böttger, Berlin 1959, S. 401 ff. – Vgl. auch den Text in: Karl Gutzkow: Berliner Erinnerungen und Erlebnisse, hrsg. von Paul Friedländer, Berlin 1960, S. 363 ff.
2     Vgl. zu diesem wie auch den nachfolgenden Ereignissen z. B.: Roland Bauer: Berlin. Illustrierte Chronik bis 1870, Berlin 1988, S. 294 ff. – Vgl. auch: Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945). Vier Bände, hrsg. von Dieter Fricke u. a., Leipzig 1983. – Siehe auch: BM 3/93, S. 8 ff., 16 ff., 20 ff.
3     Wortlaut in der Auswahl von Fritz Böttger, a. a. O., S. 414 ff., und in der Ausgabe von Paul Friedländer, a. a. O., S. 377 ff., sowie in: 1848.
Augenzeugen der Revolution. Briefe, Tagebücher, Reden, Berichte, hrsg. von Peter Goldammer, Berlin 1973, S. 156 ff.
4     Beschlüsse in: Sturm läutet das Gewissen. Nichtproletarische Demokraten auf der Seite des Fortschritts, Berlin 1980, S. 100 f. – Der 1. Demokratenkongreß hatte vom 14. bis 17. Juni 1848 in Frankfurt am Main stattgefunden; 234 Delegierte vertraten 89 Vereine aus 66 Städten, forderten eine deutsche demokratische Republik und wählten den »Centralausschuß der Demokraten Deutschlands«, der sich im Juli 1848 in Berlin konstituierte. Zu einem Organ der gesamtdeutschen demokratischen Bewegung erklärte der Kongreß die »Berliner Zeitungshalle«. – Vom 22. bis 24. Juli 1848 wurde in Berlin ein Kongreß von 99 national- liberalen Vereinen aus ganz Deutsch-
land veranstaltet. Dazu aufgerufen hatte am 1. Juli der »Constitutionelle Club zu Berlin« in seinem Blatt.
5     Karl Gutzkow: Unter dem schwarzen Bären, a. a. O., S. 417
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