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Christian Böttger
Wege zur Gemeinschaft

Der Sozialreformer Franz Oppenheimer (1864–1943)

In Deutschland hatte sich im 19. Jahrhundert der epochale Wandel von der Agrarzur Industriegesellschaft vollzogen. Durch die damit verbundene Verschärfung der sozialen Widersprüche setzte ein gesellschaftlicher Entwicklungsprozeß ein, der gegen Ende des vorigen Jahrhunderts zur Herausbildung inhaltlich differenzierter Reformbewegungen beitrug. An der Entstehung, Ausformung und Verbreitung dieser sozialen Bewegungen waren verschiedene bürgerliche Gruppen mit unterschiedlichen Motivationen und daraus abgeleiteten Anschauungen beteiligt. Um heute den sozialen Charakter dieser Reformansätze besser einordnen zu können, ist es interessant, sich die soziale Herkunft, die Lebenswege und Lebensleistungen von führenden Persönlichkeiten dieser auch in Berlin etablierten Reformbewegungen vor Augen zu führen.
     Eine herausragende Persönlichkeit innerhalb dieser sozialen Bewegungen war der Mediziner und Soziologe Franz Oppenheimer. Sein Todestag jährt sich am 30. Septem-

Franz Oppenheimer
ber. Das Licht der Welt erblickte er am 30. März 1864 im damaligen Berliner Norden, in der Krausnickstraße Nr. 5. Seiner sozialen Herkunft nach stammte Franz
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Oppenheimer aus einem akademischen Kleinbürgerhaus. Sein Vater, der in Leipzig den Doktorgrad in orientalischen Sprachen erwarb, war in Berlin als Prediger und Religionslehrer der kleinen und nicht gerade wohlhabenden jüdischen Reformgemeinde tätig. Die Entstehung der Reformgemeinde, in der die Gottesdienste nicht Samstags, sondern Sonntags stattfanden und in deutscher und nicht in hebräischer Sprache abgehalten wurden, war Ausdruck eines hohen Assimilationsgrades vieler deutscher Juden, der oft auch in einem starken deutschen Patriotismus zum Ausdruck kam.
     Franz Oppenheimer wurde zum Michaelistermin 1870 in das Friedrichgymnasium, das sich damals noch in der Albrechtstraße befand, eingeschult. Lag seine Begabung ganz explizit auf philologischem und historischem Gebiet und war es auch sein Herzenswunsch, Lehrer zu werden, so bedeutete diese berufliche Laufbahn an einer höheren Lehranstalt für einen Menschen jüdischen Glaubens unter den Bedingungen des anwachsenden Antisemitismus jener Jahre geradezu ein Martyrium. Andererseits ließ die »antimammonistische Einstellung« seines Elternhauses den Gedanken an eine kaufmännische Ausbildung gar nicht erst aufkommen. Franz Oppenheimer entschloß sich zu einem Medizinstudium in Freiburg im Breisgau und Berlin. In Freiburg wurde er Mitglied der Burschenschaft Allemannia, und in Berlin trat er der Burschenschaft
Hevellia bei, von der er sich aber aufgrund der dort zum damaligen Zeitpunkt aufkommenden reaktionären Tendenzen (»Judenparagraph«, »Husarenideal«, »Adelsäfferei«) enttäuscht zurückzog.
     Daß er über die strenge Methode der Naturwissenschaften später zu den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften finden sollte, hat Oppenheimer immer als ein Vorteil empfunden. Sein sozialwissenschaftlicher Ansatz war, wie bei vielen anderen Sozialreformern und Sozialwissenschaftlern jener Zeit auch, ein medizinisch- organologischer: Ist der Gesellschaftskörper erkrankt, muß es eine Ursache und einen Sitz der Erkrankung geben. Aus der Diagnose kann dann der Heilplan abgeleitet werden.
     In der »Bodensperre« (Bodenmonopol der Großgrundbesitzer und die Aussperrung der Unterschichten vom Boden) glaubte er die Ursache der gesellschaftlichen Mißstände zu erkennen. Die Landflucht der besitzlosen Massen und die Entstehung der industriellen Reservearmee waren für ihn das Grundproblem der sozialen Frage. In seinem 1896 erschienenen Werk »Die Siedlungsgenossenschaft« versuchte er, eine wissenschaftliche fundierte Begründung zu geben, warum die soziale Frage nur vom Lande her zu lösen sei. Seine Ausgangsthese: Will man die soziale Lage der Arbeiter, Handwerker und Beamten verbessern, so muß man die schlechtestgestellte, die tiefste Schicht der Bevölkerung, die Landarbeiterschaft, heben.
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Mit der von ihm angestrebten Verwandlung der Großgüter in ländliche Produktivgenossenschaften war die Erwartung an eine einsetzende Rückwanderung großer Bevölkerungsteile auf das Land verknüpft, was seiner Meinung nach zu einer stark wachsenden Nachfrage nach Industriearbeitern aufgrund der Verringerung des Angebotes dieser auf dem Arbeitsmarkt geführt hätte. Ein Ansteigen der Löhne wäre die Folge, womit letztendlich ganz ohne blutige Revolution, ohne Umwälzung der Staatsform und ohne Änderung auch nur eines einzigen Gesetzes eine nahezu ausbeutungsfreie Gesellschaft entstehen und damit die soziale Frage gelöst sein würde. Die »Aufhebung der Bodensperre«, d. h. die Enteignung des Großgrundbesitzes durch eine Bodenreform, bildete für ihn deshalb die Grundlage seiner Konzeption. Von den übrigen Bodenreformern unterschied er sich besonders im Hinblick auf die von ihm teilweise angestrebte kollektive Nutzung des zu enteignenden Großgrundbesitzerlandes auf genossenschaftlicher Basis. Die zentrale Bedeutung, die er der Verwirklichung der freien Konkurrenz durch die Beseitigung des Bodenmonopols der Großgrundbesitzer zumaß, unterschied ihn wiederum von anderen Genossenschaftstheoretikern wie Hermann Schulze- Delitzsch (1808–1883), der lediglich auf die Macht des genossenschaftlichen Beispiels setzte, oder Ferdinand Lassalle (1825–1864), der auf Staatshilfe hoffte. Natürlich findet man bei Oppenheimer, wie auch bei anderen Gesellschaftsreformern und Genossenschaftstheoretikern des ausgehenden 19. Jahrhunderts, quasi zur Bestätigung der eigenen Position, den Rückgriff auf das Mittelalter bis hin zur pauschalen Glorifizierung der gesellschaftlichen Zustände in Deutschland im Zeitraum vom 11. bis 14. Jahrhundert, einen Zeitraum, in dem ja tatsächlich das genossenschaftliche Prinzip in Gestalt von Markgenossenschaft und Zunft einen gewissen, wenn auch bei Oppenheimer sicher überbewerteten Anteil an der kulturellen Blüte unseres Vaterlandes hatte. Dieser Rückgriff geschieht bei Oppenheimer aber keineswegs aus romantischen Beweggründen. Vielmehr sah er, in Anlehnung an den Rechtslehrer Otto von Gierke (1841–1921), im Kampf zwischen Herrschaft und Genossenschaft den Inhalt der Weltgeschichte, einen Kampf, den er letztendlich wieder zugunsten des genossenschaftlichen Prinzips entschieden haben wollte, den er aber für notwendig hielt, um die Institution Genossenschaft einer neuen, höheren Qualität zuzuführen. Im Übrigen betrachtete sich Oppenheimer als einen »liberalen Sozialisten«, der seinen »großen Meister« Karl Marx aufs höchste verehrte, dessen Werk er aber von den, wie er meinte, »notwendigerweise immer vorhandenen Schlacken« befreien und weiterbilden wollte. Seine Zweifel an der Richtigkeit der marxistischen Gesellschafts-
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konzeption faßte er 1896 in seinem Buch »Die Siedlungsgenossenschaft« zusammen: »Auch wir stehen auf dem Standpunkte der Gegner des Kommunismus, daß dieser sich auf psychologischen Voraussetzungen aufbaut, die nicht gegeben sind und nicht geschaffen werden können. Wir halten es für unmöglich, Statistiker zu finden, welche auch nur annähernd die Bedürfnisse eines wohlhabenden Volkes für irgend eine Epoche der Zukunft abschätzen könnten; wir halten es für noch weniger möglich, Beamte zu finden, welche eine so unerhörte, das politische und wirtschaftliche Leben umgreifende Macht nicht mißbrauchen würden; und wir halten es am wenigsten für möglich, daß ein Volk auf die Dauer solchen Beamten vertraut.« (S. 569) Nicht die Beseitigung des freien Marktes, sondern die Verwirklichung der freien Konkurrenz durch die Beseitigung des sie behindernden Bodenmonopols mache den Sozialismus erst möglich. Diese Auffassung mußte ihn von der damaligen, noch überwiegend marxistisch orientierten Sozialdemokratie trennen.
     Inspiriert wurde Oppenheimers »liberaler Sozialismus« außer von dem amerikanischen Volkswirtschaftler und Bodenreformtheoretiker Henry George (1839–1897) vor allem von dem Ökonomen und Philosophen Eugen Dühring (1833–1921), der ein fanatischer Antisemit war und durch den auch der sozialdemokratische Politiker Eduard Bernstein (1850–1932) die entscheidenden Anre-
gungen enthielt. Wie Oppenheimer in seinen Lebenserinnerungen feststellte, sind es seltsamerweise fast ausschließlich Juden gewesen, die Dührings Lehre aufgegriffen haben und weitertrugen.
     Nicht unerwähnt bleiben darf aber auch der Ungar Theodor Hertzka (1845–1924), durch den Oppenheimer ursprünglich für den »liberalen Sozialismus« gewonnen wurde. Hertzkas Buch »Freiland, ein soziales Zukunftsbild«, das 1890 in Romanform erschien und dadurch eine weite Verbreitung erzielte, führte dazu, das sich auf der Grundlage der dort entwickelten Gesellschaftsutopie vielerorts Gruppen zusammenschlossen, die sich als Refugien vieler nichtmarxistischer Sozialisten und versprengten Epigonen Dührings erwiesen und sich allmählich zu einer bedrohlichen Konkurrenz für Adolf Damaschkes »Deutschen Bund für Bodenbesitzreform« (vgl. BM 7/97, S. 61 ff.) entwickelten.
     Auch Franz Oppenheimer wurde ein sehr aktives Mitglied der Berliner Freilandgruppe, war aber im Gegensatz zu vielen anderen Anhängern der Freiland- Bewegung, die ihre Pläne in Afrika zu verwirklichten suchten, von Anfang an daran interessiert, »Freiland in Deutschland« – so der Titel einer kleinen, 1894 von ihm herausgegebenen Schrift – zu errichten. Die erste genossenschaftliche Siedlung in Deutschland, die u. a. von Freiland- Anhängern initiiert wurde, war die »Vegetarische Obstbau- Kolonie
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Eden« bei Oranienburg in der Mark (vgl. BM 3/97, S. 36 ff.). An ihrer Gründung im Jahre 1893 war auch Franz Oppenheimer beteiligt und später (von 1920 bis 1928) auch für einige Zeit förderndes Mitglied der Genossenschaft. Andere Siedlungsexperimente auf genossenschaftlicher Grundlage, für die Oppenheimer sich persönlich sehr engagierte (z. B. Bärenklau in der Mark), folgten.
     In der eindeutig agrozentrischen Akzentuierung seines gesellschaftlichen Reformansatzes kommt eine für die damalige Zeit typische Unterschätzung der Entwicklungsmöglichkeiten und Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Industriegesellschaft zum Ausdruck. Obwohl er selbst in einer sich dynamisch entwickelnden Großstadt aufgewachsen war und diese Stadt auch liebte, machte er aus seiner Ablehnung der großstädtischen Lebensweise unter den Bedingungen der Industriegesellschaft keinen Hehl. Nicht zufällig war er auch ein Mitglied der 1902 gegründeten Deutschen Gartenstadtgesellschaft, die auf bodenreformerischer und genossenschaftlicher Grundlage wirkte. Daß es sich bei seiner kritischen Haltung gegenüber den Metropolen nicht nur um eine für die Zeit der Jahrhundertwende typische »virulente Großstadtfeindschaft« handelt, wird besonders dann verständlich, wenn man berücksichtigt, daß Oppenheimer als Arzt genauestens über die hygienischen Zustände in der Großstadt informiert war und durch eigenes Erleben –
er verlor schon als Achtjähriger seinen jüngeren Bruder Georg infolge der durch die unhygienischen Zustände hervorgerufenen Kindercholera – einen geschärften Blick für die sozialen Bedingungen der meisten Krankheiten besaß.
     Seine Tätigkeit als Arzt konnte ihn deshalb auf Dauer auch nicht voll befriedigen. Er absolvierte weitere sozialwissenschaftliche Studien, war als Privatdozent tätig und wurde 1919 als erster deutscher Professor auf den ordentlichen Lehrstuhl für theoretische Nationalökonomie und Soziologie in Frankfurt am Main berufen. Im März 1929 verließ Oppenheimer Frankfurt, um sich vor allem in seiner alten Heimat der Förderung der Siedlung zu widmen.
     Mit der Errichtung des NS-Regimes begann für Franz Oppenheimer eine schwere Zeit. Zwar erfüllte der ihm freundschaftlich verbundene Verlag Gustav Fischer seine vertraglichen Verpflichtungen bis zum letzten Buchstaben, obwohl vorauszusehen war, daß nur noch ein geringer Teil von Oppenheimers Büchern verkauft werden konnte. So erschien beispielsweise noch 1935 unter dem Titel »Stadt und Bürgerschaft. Die Neuzeit« der letzte Band eines auf vier Bände angelegten Werkes über das »System der Soziologie«. Als dann aber 1938 auf Befehl der Gestapo 20 000 Bände seiner Werke allein bei diesem Verlag eingestampft wurden, hatte Oppenheimer sich längst mit dem Gedanken abgefunden, sein geliebtes Deutsch-
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land verlassen zu müssen. Gegen Ende 1938 wurde ihm und seiner Tochter die Ausreise bewilligt. Durch Vermittlung japanischer Anhänger war es Oppenheimer gelungen, einen Lehrauftrag an der Keio- Universität in Tokio zu erlangen. Auf seinen geistigen Einfluß geht sehr wesentlich die nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan durchgeführte Bodenreform zurück. Schließlich mußte er auch Japan verlassen und siedelte sich nach einer Zwischenstation in Schanghai als Inhaber eines amerikanischen Non-Quota- Visums, das akademische Lehrer privilegierte, in den USA an. Er ließ sich in Los Angeles nieder, wo seine jüngere Schwester bereits lebte. Hier verstarb Franz Oppenheimer in den frühen Morgenstunden des 30. September 1943.
     Das Werk von Franz Oppenheimer ist fast in Vergessenheit geraten, obwohl er zu Lebzeiten zu den engagiertesten und prominentesten Sozialreformern und Gesellschaftstheoretikern gehörte, die im Berlin der Jahrhundertwende ihr Tätigkeitsfeld hatten. Das bleibende Verdienst Franz Oppenheimers liegt weniger in der wissenschaftlichen Begründung einer konkreten, von ihm entwickelten Sozialismus- Theorie als vielmehr in der grundsätzlichen Erkenntnis der Bedeutung der Bodenbesitzverhältnisse als ein die gesamtgesellschaftliche Entwicklung fundamental beeinflussender Faktor. Im Rahmen einer Neubesinnung auf die Geschichte alternativer Ökonomieformen
nimmt seine Genossenschaftstheorie einen besonderen Stellenwert ein. Besonders vor dem Hintergrund der sich nach der Wende in der ostdeutschen Landwirtschaft neu stellenden Frage nach »Herrschaft oder Genossenschaft« wird die gegenwärtige Relevanz und Aktualität seines Lebenswerkes deutlich, kann doch der hochsubventionierte, völlig übermechanisierte, unproduktive kleinbäuerliche Familienbetrieb als überholt und für die Landwirtschaft insgesamt als nicht mehr zukunftsträchtig gelten. Franz Oppenheimers Denken war geprägt von den Idealen des klassischen Liberalismus, aber zugleich auch inspiriert von den Forderungen seines sozialen Gewissens. Diesen Forderungen stand die Realität einer herrschaftlichen Gesellschaft entgegen, die ein Instrument der Selbstverwirklichung weniger war und in der sich die Aneignung ökonomischer Werte aufgrund von Monopolstellungen oder Privilegien anstatt durch Hervorbringung eigener Leistungen vollzog. Er hingegen lebte der Vision einer humanen, genossenschaftlich organisierten Gesellschaft, die er sich als Mittel zur Selbstverwirklichung aller ihrer Mitglieder dachte. Diesem Ziel opferte er seine ganze Lebenskraft. Es ist schon erstaunlich, daß in Berlin kein einziger Straßenname an diese bedeutende Persönlichkeit des deutschen Geisteslebens erinnert.

Bildquelle: Archiv Autor

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