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Schweiz gehörenden Stadt geboren, wo er früh seinem Vater in der Werkstatt helfen mußte und danach als Hilfsschreiber auf der Stadtkanzlei und im Büro eines Eisenwerkes diente. Mit 17 Jahren verließ er seine Heimatstadt und begann ein unstetes Wanderleben, immer auf der Suche nach Wissen und Arbeit. Und er hatte das Glück, beide Seiten häufig miteinander verbinden zu können. Anfänglich hatte er eine Stellung als Schreiber bei Professor Johannes Rudolf Iselin in Basel, dann wirkte er als Hauslehrer beim Reichsgrafen Peter von Salis in Chur. Sein besonderes Interesse galt schon frühzeitig der Mathematik, der Astronomie und der Physik. Als Mitglied der physikalisch- mathematischen Gesellschaft zu Basel publizierte er 1755 auch seine erste wissenschaftliche Arbeit.
     Nach etwa zweijährigem Aufenthalt in verschiedenen europäischen Städten wie Göttingen, Utrecht, Paris, Marseille, Nizza und Mailand sowie im afrikanischen Tunis kehrte er 1758 wieder nach Chur zurück. In den darauffolgenden Jahren suchte er in seiner Heimatstadt Mühlhausen, in Zürich und wiederum in Chur sein Glück, bevor er Ende 1763 nach Leipzig und von dort 1764 im Februar nach Berlin kam. Hier traf er auf namhafte Schweizer Wissenschaftler wie Daniel Bernoulli (1700–1782), Leonhard Euler (1707–1783) und Johann Georg Sulzer (1720–1779), die an der preußischen Akademie wirkten und den vielseitigen Gelehrten, in dem sie auch einen Landsmann sahen, gern
Eberhard Fromm
»Ein Bild kräftiger Unzufriedenheit«

Johann Heinrich Lambert

Nicht einmal 50 Jahre alt wurde der gebürtige Elsässer Johann Heinrich Lambert, doch seine vielfältigen Interessen ließen ihn ein erfülltes Leben führen. Wenn er auch nur die letzten 13 Jahre in Berlin verbrachte, so waren gerade diese reich an Ergebnissen auf so anspruchsvollen und unterschiedlichen Gebieten wie der Mathematik und Physik, der Astronomie und der Philosophie. Wenn wir an den 220. Todestag des Wissenschaftlers erinnern, so nicht nur deshalb, weil in Berlin zwei Straßen – in Charlottenburg und Treptow – seinen Namen tragen, sondern weil er ein Stück Berliner Wissenschafts- und Akademiegeschichte repräsentiert.

Ein Mann von entschiedener Scharfsinnigkeit

Zu den wenigen Autodidakten des 18. Jahrhunderts, die dann in der Wissenschaft tatsächliche Leistungen erreicht haben, zählt der Schneidersohn Johann Heinrich Lambert aus Mülhausen im Elsaß. Er wurde am 26. August 1728 in der damals noch zur

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in Berlin halten wollten. Denn eigentlich plante Lambert ja, ins russische Petersburg zu reisen, um dort eine ihm genehme Anstellung zu finden.
     Mit seiner Einführung in die Berliner Akademie der Wissenschaften am 24. Januar 1765 gab er jedoch alle weiteren Reisepläne auf. Als Mitglied der physikalischen Klasse der Akademie und später als Oberbaurat erhielt er ausreichende Bezüge, um seßhaft zu werden und sich ganz seinen vielfältigen wissenschaftlichen Interessen zu widmen. Am 25. September 1777 starb Johann Heinrich Lambert in Berlin.
     Immanuel Kant (1724–1804), mit dem Lambert in Briefwechsel stand, nannte ihn in einem Brief vom 2. September 1770 einen Mann von »entschiedener Scharfsinnigkeit und Allgemeinheit der Einsichten«. Sein Schweizer Kollege Bernoulli ließ es sich nicht nehmen, den umfangreichen Briefwechsel (vier Bände) Lamberts mit der gelehrten Welt seiner Zeit herauszugeben.

Das Denken als Rechnen erfassen

Als Lambert sich in Berlin niederließ, hatte er sich bereits mit seinen »Kosmologischen Briefen« (1761) und einem zweibändigen »Neuen Organon« (1764) einen Namen gemacht. In der ihn wissenschaftlich anregenden Berliner Umgebung verfaßte er weitere 52 Abhandlungen, Artikel und Beiträge.

Seine bedeutendsten Arbeiten waren die »Beiträge zum Gebrauche der Mathematik und deren Anwendung«, die in drei Bänden zwischen 1765 und 1772 erschienen, die »Anlage zur Architektonik oder Theorie des Einfachen und Ersten in der philosophischen und mathematischen Erkenntniß« aus dem Jahre 1771 sowie Werke wie die »Photometrie« (1769) und die »Pyrometrie« (1777). Stets hatten ihn Probleme der Wärme, des Lichts und der Farben gereizt, die er – oft mit einfachsten Mitteln – untersuchte. Methodisch suchte er bei Philosophen wie Christian Wolff (1679–1754) und John Locke (1632–1704) Hilfe und Anleitung, war aber stets um ein eigenes philosophisch- methodisches Herangehen bemüht. In seinen Überlegungen zur Logik befaßte er sich intensiv mit dem Kalkül und ging davon aus, das Denken als ein Rechnen zu erfassen und zu analysieren. Verbindungen stellte er auch zur Sprache her und entwarf eine eigene Semiotik.
     Zeitgenossen bescheinigten ihm eine prägnante Selbständigkeit im wissenschaftlichen Herangehen, vor allem auch das Bemühen, sich nicht dem vorherrschenden Einfluß der Wolffschen Philosophie zu unterwerfen. Der Philosophiehistoriker Karl Rosenkranz (1805–1879) bewertet ihn in seiner »Geschichte der Kant'schen Philosophie« von 1840 als ein »Bild kräftiger Unzufriedenheit mit dem Bestehenden, dessen Mängel er meistens richtig einsieht« und
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nennt als das Wesentliche bei Lambert dessen »richtigen Instinkt, die Begriffe an und für sich untersuchen zu wollen, sie nicht bloß als Prädikate des schon immer vorausgesetzten Begriffs der Dingheit zu nehmen«.
     Im Briefwechsel zwischen Lambert und Kant wird deutlich, daß sich beide sehr schätzten und ihre jeweiligen Arbeiten ernsthaft und kritisch prüften. Zeitweise gab es sogar Pläne für gemeinsame Veröffentlichungen. Kant schrieb am 31. Dezember 1765 an Lambert, daß es ihm kein geringes Vergnügen bereitet habe, »die glückliche Übereinstimmung unserer Methoden bemerkt zu sehen« und unterstützte Lamberts kritische Haltung gegenüber dem philosophischen Zeitgeist. Geradezu prophetisch schrieb er nach Berlin: »Ehe die wahre Weltweisheit aufleben soll, ist es nötig, dass die alte sich selbst zerstöre, und, wie die Fäulnis die vollkommenste Auflösung ist, die jederzeit vorausgeht, wenn eine neue Erzeugung anfangen soll, so macht mir die Krisis der Gelehrsamkeit zu einer solchen Zeit, da es an guten Köpfen gleichwohl nicht fehlt, die beste Hoffnung, dass die so längst gewünschte grosse Revolution der Wissenschaft nicht mehr weit entfernt sei.«
Denkanstöße

Es ist unstreitig, dass, wenn immer eine Wissenschaft methodisch muss erfunden und ins reine gebracht werden, es die Metaphysik ist. Das Allgemeine, so darin herrschen solle, führt gewissermassen auf die Allwissenheit und insofern über die möglichen Schranken der menschlichen Erkenntnis hinaus. Diese Betrachtung scheint anzuraten, dass es besser sei, stückweise darin zu arbeiten, und bei jedem Stück nur das zu wissen verlangen, was wir finden können, wenn wir Lücken, Sprünge und Zirkel vermeiden. Mir kommt vor, es sei immer ein unerkannter Hauptfehler der Philosophen gewesen, dass sie die Sache erzwingen wollten und anstatt etwas unerörtert zu lassen, sich selbst mit Hypothesen abspeisten, in der Tat aber dadurch die Entdeckung des Wahren verspätigten.
Aus: Johann Heinrich Lambert an Immanuel Kant vom 3. Februar 1766, In: Briefwechsel von Immanuel Kant in drei Bänden, Erster Band, München 1912, S. 55

Wenn die »Architektonik« ein Roman wäre, so glaube ich, sie würde bereits viele Verleger gefunden haben, so sehr ist es wahr, dass Buchhändler und Leser einander verderben und vom gründlichen Nachdenken abhalten. Hierherum philosophiert man schlechthin nur über die sogenannten schönen Wissenschaften. Dichter, Maler und Tonkünstler

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finden die ihren Künsten eigene Wörter zu niedrig und entlehnen daher einer die Kunstwörter des andern. Der Dichter spricht von nichts, als von Kolorit, Farbenmischung, Pinselzügen, Stellung, Zeichnung, Manier, Anstrich usw. Der Tonkünstler von Kolorit, Ausdruck, Einkleidung, feurigen und witzigen Gedanken der Töne, von pedantischen Fugen usw. Er hat ebenso wie der Maler einen Stylum, den er sublim, mittelmässig, bürgerlich, heroisch, kriechend usw. zu machen weiss. In solchen Metaphern, die keiner weder recht versteht, noch erklärt, noch das tertium comparationis kennt, besteht nun das feine und erhabene dieser Künste und eben dadurch macht man sich ein gelehrtes und sublimes Ansehen, dass man sie braucht. Da sich noch niemand bemüht hat, das, was in solchen Ausdrücken gedenkbar ist, auszulesen und mit eigenen Namen zu benennen, so kann man sie desto dreister gebrauchen.
Aus: Johann Heinrich Lambert an Immanuel Kant vom 13. November 1765, In: Ebenda, S. 47

Die andere Anmerkung, die ich zu machen Anlass hatte, betrifft die Vergleichung der philosophischen Erkenntnis mit der mathematischen. Ich sah nämlich, dass, wo es den Mathematikern gelungen ist, ein neues Feld zu eröffnen, das die Philosophen bis dahin ganz angebaut zu haben glaubten, erstere nicht nur alles wieder umkehren mussten,

sondern es so aufs einfache und gleichsam aufs einfältige brachten, dass das Philosophische darüber ganz unnütz und gleichsam verächtlich wurde. Die einige Bedingung, dass nur Homogenea können addiert werden, schleust bei dem Mathematiker alle philosophischen Sätze aus, deren Prädikat sich nicht gleichförmig über das ganze Subjekt verbreitet, und solche Sätze gibt es in der Weltweisheit noch gar zu viele ... Ich bin überhaupt auf den Satz geleitet worden, dass, solange ein Philosoph in den Objekten, die ein Ausmessen zulassen, das Auseinanderlesen nicht so weit treibt, dass der Mathematiker dabei sogleich Einheiten, Massstäbe und Dimensionen finden kann, dieses ein sicheres Anzeichen ist, dass der Philosoph noch Verwirrtes zurücklasse ...
Aus: Ebenda, S. 59 f.

Die Zeit ist unstreitig eine Conditio sine qua non, und so gehört sie mit zu der Vorstellung sinnlicher und jeder Dinge, die an Zeit und Ort gebunden sind. Sie ist auch besonders den Menschen zu dieser Vorstellung nötig. Sie ist ein Intuitus purus, keine Substanz, kein blosses Verhältnis. Sie differiert von der Dauer wie der Ort von dem Raume. Sie ist eine besondere Bestimmung der Dauer. Sie ist auch kein Accidens, das mit der Substanz wegfällt usw. Diese Sätze mögen alle angehen. Sie führen auf keine Definition, und die beste Definition wird wohl immer die sein, dass Zeit Zeit ist,

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dafern man sie nicht, und zwar auf eine sehr missliche Art, durch ihre Verhältnisse zu den Dingen, die in der Zeit sind, definieren, und damit einen logischen Circul mit unterlaufen lassen will. Die Zeit hat einen bestimmteren Begriff als die Dauer, und daher gibt sie auch mehr verneinde Sätze, z. B. was in der Zeit ist, dauert. Aber nicht umgekehrt, sofern man zum Inderzeitsein einen Anfang und ein Ende fordert. Die Ewigkeit ist nicht in der Zeit, weil ihre Dauer absolut ist. Eine Substanz, die eine absolute Dauer hat, ist ebenfalls nicht in der Zeit. Alles, was existiert, dauert, aber nicht alles ist in der Zeit usw. Bei einem so klaren Begriff, wie die Zeit ist, fehlt es an Sätzen nicht. Es scheint nur daran zu liegen, dass man Zeit und Dauer nicht definieren, sondern schlechthin nur denken muss. Alle Veränderungen sind an die Zeit gebunden und lassen sich ohne Zeit kaum denken. Sind die Veränderungen real, so ist die Zeit real, was sie auch immer sein mag. Ist die Zeit nicht real, so ist auch keine Veränderung real. Es deucht mich aber doch, dass auch selbst ein Idealist wenigstens in seinen Vorstellungen Veränderungen, wie Anfangen und Aufhören derselben zugeben muss, das wirklich vorgeht und existiert. Und damit kann die Zeit nicht als etwas Nichtreales angesehen werden ... Das Reale der Zeit und des Raumes scheint so was Einfaches und in Absicht auf alles übrige Heterogenes zu haben, dass man es nur denken, aber nicht definieren kann.
Aus: Johann Heinrich Lambert an Immanuel Kant vom 13. Oktober 1770,
In: Ebenda, S. 100 ff.
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