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Streber, ich wußte, ich muß das Abitur mit Auszeichnung machen, und das habe ich 1948 in Berlin- Friedrichshagen geschafft. Dann bin ich wirklich an der Humboldt- Universität immatrikuliert worden und hatte das Berufsziel Oberstufenlehrer für Deutsch und Geschichte, Deutsch als Hauptfach, Geschichte als Nebenfach. Aber auf dem Dekanat ist das falsche Hauptfach unterstrichen worden: Geschichte. Und so bin ich Historiker geworden.

     Es verschlug Sie zum Museum für Deutsche Geschichte, heute Deutsches Historisches Museum. War das gewollt oder zufällig?
     Kurt Wernicke: Von meiner Seite her war das überhaupt nicht gewollt, ich wollte ja Lehrer werden. Es lag ein Beschluß der DDR- Regierung vor, ein erstes zentrales deutsches Geschichtsmuseum zu gründen. Die Gründung erfolgte im Januar 1952. Ich war damals, wie viele andere Geschichtsstudenten in meinem Semester, noch nicht einmal mit dem Studium fertig, wir hatten noch keinen Abschluß gemacht. Aber es gab dann sehr intensive Bemühungen – und wer die DDR erlebt hat, weiß was das heißt: intensive Bemühungen –, die Studenten der Geschichte aus dem obersten Studienjahr für das Museum für Deutsche Geschichte zu gewinnen. Jedenfalls habe ich, auch neugierig darauf, zugesagt, ohne die geringste Ahnung von einem Museum zu haben.

Wer die Geschichte kennt, kann manches relativieren

Der Historiker Kurt Wernicke:
Berlin ist mehr als der administrativ festgelegte Raum

     Ob im Rundfunk, bei Spree Radio Berlin, oder auf den Straßen der deutschen Hauptstadt – Sie sind unüberhörbar präsent. Ihr Berliner Jargon vermischt sich auf das angenehmste mit dem Füllhorn des Wissens, das Sie über neugierige Hörer und Touristen ausschütten. Auch mit der Feder haben Sie sich als Sachkundiger in der Berlin- Geschichte ausgewiesen. Berliner sind Sie von Geburt. Wann beschlossen Sie, Berlin- Historiker zu werden?
     Kurt Wernicke: Erst einmal möchte ich doch entschieden dagegen protestieren, daß von meinem Berliner Jargon die Rede ist. Aus meiner Sicht spreche ich Hochdeutsch. Zu meinem Werdegang: Ich war frühzeitig entschlossen, Lehrer zu werden. So habe ich mich dann zum Studium beworben, was aber in den unmittelbaren Nachkriegsjahren bedeutete, daß man sein Abitur mit Auszeichnung machen mußte, sonst wurde man nicht zum Studium zugelassen. Viele möchten gerne erzählen, sie waren faul und es ist ihrer Intelligenz zugeflogen. Ich war ein

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     Sie waren während des Studiums schon dort angestellt worden und haben das Museum bis zur Wende nicht mehr verlassen.
     Kurt Wernicke: So ist es. Wir haben am 18. Januar 1952 angefangen, dem Gründungstag des Museums für Deutsche Geschichte. Wir haben dann im Laufe des Herbstes bis zum Sommer 1953 unsere Staatsexamina extern abgelegt.

     Was war dort Ihr Arbeitsfeld? Welches Ihre Themen der Forschung und der Ausstellung?
     Kurt Wernicke: Ich bin dort mit Ausnahme der Abteilung Ur- und Frühgeschichte durch sämtliche Abteilungen gelaufen.
     Bis auf die Zeit von 1918 bis 1945, die ich nie bearbeitet habe, habe ich alle Zeitabschnitte bearbeitet. Ich habe an Ausstellungen mitgearbeitet, die sich mit der Luther-Zeit beschäftigten: Reformation und Gegenreformation, habe eine Ausstellung über den Dreißigjährigen Krieg vorbereitet, die dann nicht kam, und habe dann an der ersten Ausstellung »Waffen und Uniformen in der deutschen Geschichte« mitgewirkt. 1968 wechselte ich in die Abteilung Zeitgeschichte. Sie hieß: Geschichte der DDR. Diese Abteilung leitete ich bis 1986. Einmal hatte ich einen Karriereknick, der mich dann zum Berlin- Historiker machte: 1965/66 bin ich im Zusammenhang mit dem 11. Plenum durch meine große Berliner Klappe gegen die geballte Faust eines damaligen Direktors gelaufen. Andere Leute machen daraus jetzt Widerstandsaktionen, aber ich möchte ein-

fach sagen: Ich wäre bei jedem Chef wegen meines vorlauten Wesens und wegen meiner Rechthaberei – ich fühlte mich im Recht und wußte auch, daß ich Recht habe – angeeckt. Ich wurde abgestellt auf einen Strafposten. Das war der Posten, den wir heute auf gut deutsch »Public Relations« nennen. Diesen Bereich sollte ich für das Museum aufbauen. Da ich das mit sehr viel Freude gemacht habe, alles sehr gut eingeteilt hatte, hatte ich auch noch Zeit, die ich mit anderen Dingen ausfüllen mußte. Da habe ich angefangen, an frühere Kenntnisse meiner Mitarbeit über die Revolution 1848 anzuknüpfen, und habe mal hinterfragt, wie das eigentlich damals mit der beginnenden Arbeiterklasse in Berlin war. Denn das Standardwerk von Eduard Bernstein hatte mich in dieser Beziehung immer unbefriedigt gelassen. Ich habe mich also mit den zeitgenössischen Publikationen beschäftigt und gemerkt, daß Stephan Born, der stets als Kronzeuge herangezogen wird, 50 Jahre später in seinen Erinnerungen geschwindelt hat. Es fand sich auch jemand, der das für publizierungswürdig hielt. Das wurde 1968 in der Zeitschrift »Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung« veröffentlicht. Danach war ich unversehens zu einem Spezi auf diesem Gebiet geworden.

     Die Geschichte Berlins hatten Sie immer im Blick. Welchen Einfluß hatte darauf Ihre Herkunft?

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     Kurt Wernicke: Ich gehöre zu den relativ wenigen Berlinern, die sich in der ganzen Stadt auskennen. Das war ja früher schon so: Der Berliner kannte den Kiez, in dem er wohnte, und den, wo er gearbeitet hat. Ich kannte mich schon als Kind in ganz Berlin gut aus. Das hängt mit der Herkunft meines Vaters zusammen, der mit seiner gesamten Familie 1920 aus Westpreußen nach Berlin gewandert ist und hier überall Verwandte hatte. Allein 40 Cousins und Cousinen meines Vaters wohnten hier. Da bin ich viel durch die Stadt gekommen. Mein Vater war Maurer. In den 30er Jahren war es durchaus üblich, daß die Frauen ihren Männern das Essen auf die Baustelle gebracht haben, und ich bin an der Hand meiner Mutter durch Berlin gewandert.

     In die Zeit der PR-Arbeit am Museum für Deutsche Geschichte fallen Ihre Forschungsarbeiten zur Dissertation A und B. Was waren die Themen?
     Kurt Wernicke: Die Dissertation A habe ich schon in der zweiten Hälfte der 50er Jahre geschrieben. Sie lag dann allerdings fünf Jahre zur Begutachtung bei einem Professor der Humboldt- Universität, der sich immer wieder davor gedrückt hat, sein Gutachten zu schreiben. Bis es mir endlich gelang, Professor Kuczynski dazu zu bewegen. Da dauerte es nur zwei Wochen. Ich habe zu niederen Formen des bäuerlichen Klassenkampfes in Ostelbien geschrieben. Die Dissertation B ergab sich daraus, daß ich als

PR-Mann angefangen hatte, mich mit der Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung zu beschäftigen.

     Der Historiker am Museum sammelt und forscht mit dem Ziel, Ausstellungen durchzuführen. Dies zwingt zur Anschaulichkeit, aber auch zur Auswahl. Dies und die wechselnden Themen scheinen einer kontinuierlichen Forschungsarbeit an einem »großen Thema« nicht unbedingt förderlich zu sein. Haben Sie darunter gelitten oder fühlten Sie sich dabei wohl?
     Kurt Wernicke: Ich habe mich eigentlich wohl gefühlt, weil ich eine Art preußische Einstellung zur Arbeit hatte. Ich habe immer gern gearbeitet und immer versucht, möglichst effektiv zu arbeiten. Und auch Aufgaben zu verteilen – so entstanden auch Freiräume für mich. Seit Ende der 70er Jahre habe ich mich neben der eigentlichen Arbeit zunehmend auf zwei Freiräume konzentriert: Das war erstens die Ausarbeitung museumstheoretischer Erkenntnisse. Da konnte ich mir auch international manches Gehör verschaffen. Das Zweite war die Berlin- Geschichte. Das wucherte. Rund um die Arbeiterbewegung herum habe ich die Dinge abgeklopft, die sich vor 1848 und danach abgespielt haben. Es war eigentlich so, daß man immer wieder gezwungen war, zu hinterfragen: Warum wird das immer wieder abgeschrieben? Wieso werden solche Dinge behauptet? Geht doch mal an die Quellen! Und da hatte ich das große Glück,

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daß mich Professor Kuczynski hingewiesen hat auf dieses einzigartige Archiv: das Evangelische Zentralarchiv in der Jebensstraße am Bahnhof Zoo, wo man aus den Kirchenbüchern außerordentlich wichtige soziale und soziologische Hintergründe für fast die ganze Zeit des 19. Jahrhunderts, also bis 1874, bis zur Einführung des Zivilstandsregisters, ersehen kann. Seit 1981 hatte ich dann die Erlaubnis, dort zu arbeiten. In all diesen Jahren habe ich tageweise in der Jebensstraße ganz wichtige archivarische Studien betrieben. Die Ergebnisse hätten eigentlich 1989 erscheinen sollen, aber die ganzen Veränderungen dann im Herbst 1989 brachten nicht die Motivation, sich jetzt noch einer größeren Arbeit zu widmen. Davon hat natürlich dann der Luisenstädtische Bildungsverein profitiert, weil hier die Ergebnisse dieser Arbeit veröffentlicht werden konnten, speziell in dem Sammelband »Neue Streifzüge in die Berliner Kulturgeschichte«.

     Auch Ihre Arbeit im Museum diente der offiziösen Geschichtsschreibung der DDR. Nicht immer wird sich die damit verbundene Vorgabe mit Ihren Erkenntnissen und Einsichten gedeckt haben. Gab es da Konflikte?
     Kurt Wernicke: Für mich gab es keine Konflikte. Ich habe mich ja nicht auf diesen Gebieten beschäftigen müssen, wo man z. B. ganz eindeutig die Geschichte der KPD verfälscht hat. Das hätte mich möglicherweise, wie andere auch, in gewisse Konflikte gebracht. Was die Zeit nach 1945 angeht, so

war ich ja selbst Zeitzeuge. Meine Ambition war, als ich 1968 diesen Abschnitt übernahm, von der Wandzeitung wegzukommen und Zeitgeschichte museal zu zeigen. Das erwartet der Besucher ja auch, wenn er in ein Museum geht. Es sollte eine Geschichte der Lebensweise gezeigt werden, eingebettet in große politische Linien. Wir haben diesen ständigen Museumsabschnitt alle fünf Jahre umgearbeitet. Unter den osteuropäischen Museen haben wir damit Furore gemacht. Es war das erste Mal, daß man den Abschnitt Sozialismus als echte museale Schau zeigte. Ich habe dafür außerordentlich viel Anerkennung erlebt, auch von westdeutschen Kulturhistorikern und Kultursoziologen, die gern mit ihren Studenten in das Museum gekommen sind, nicht – wie das noch in den 60er Jahren gewesen war –, um das Weiße im Auge des kommunistischen Feindes zu sehen, sondern um sich eine gewisse Betrachtungsweise näher zu besehen, wie man Gegenwart darstellen kann. Ich habe 1988 mit großer Freude gelesen, daß in einer offiziellen Untersuchung der UNESCO ein kanadischer Museumstheoretiker das Museum für Deutsche Geschichte als eines der 40 trendsetzenden Museen in der Welt eingeschätzt hat.

     Sie haben kürzlich das 68. Lebensjahr in Angriff genommen. Geboren in der Weimarer Republik, in der Zeit der NS-Diktatur aufgewachsen, haben Sie die Nachkriegszeit erlebt und 40 Jahre DDR sowie deren Ende und die

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Wende durchlebt. Sie sind Zeitzeuge des Vereinigungsprozesses. Das ist Geschichte pur, mehr kann sich ein Historiker kaum wünschen. Verbunden waren damit Einschnitte in die eigene Biographie, so die Abwicklung im Museum. Wie beurteilen Sie das aus heutiger Sicht?
     Kurt Wernicke: Fertig geworden bin ich damit immer, weil ich mich auf Leistung konzentriert habe, was übrigens – ich muß das mal am Rande sagen – eine Motivation darin hatte, daß ich körperlich behindert bin. Meine rechte Hand ist seit meinem dritten Lebensjahr gelähmt. Ich war also immer gezwungen, eine gewisse körperliche Unterlegenheit durch geistiges Auftreten, der Berliner sagt dazu große Schnauze, zu ersetzen. Ich habe mir gewiß manchmal Depressionen nicht anmerken lassen.
     Die Wende 1945 war für mich kein Einbruch, weil ich das große Glück habe, aus einer Familie zu stammen mit einem sehr starken sozialdemokratischen Hintergrund. Durch die Arbeit im Museum für Deutsche Geschichte habe ich eine weitestgehende Identifikation mit den eigenen Geschichtserfahrungen erlebt, die sich auch äußerten. Ich habe vielleicht gegenüber manch anderem sowohl toleranter als auch intoleranter gehandelt. Intolerant gegenüber dummem Geschwätz. Tolerant durch diesen sozialdemokratischen Hintergrund. Ich wußte, daß Leute nicht alle einer Meinung sein müssen. Und wenn sie
ihre andere Meinung artikulieren, dann ist das ihr gutes Recht.
     Die Abwicklung des Museums für Deutsche Geschichte hat mich regelrecht angeekelt, weil man uns vorwarf, die Geschichte einseitig betrachtet zu haben. Ich habe in der Welt viele Geschichtsmuseen gesehen. Es gibt kein Geschichtsmuseum, daß nicht eine gewisse Einseitigkeit hat. Der Erste Weltkrieg beginnt in jedem amerikanischen Geschichtsmuseum erst 1917, und der Zweite Weltkrieg beginnt in jedem amerikanischen Geschichtsmuseum erst 1941. Kein Mensch versteht, wieso die amerikanischen Truppen im August 1942 in Casablanca und in Algerien landeten, weil ihm die Vorgeschichte nicht dargestellt wird. Das sind eindeutige politisch- ideologische Background- Intentionen. Wer anderes behauptet und meint, daß die jetzigen Museen in Bonn oder in Berlin anders vorgehen – ich spreche speziell von Geschichtsmuseen – der spricht bewußt oder unbewußt die Unwahrheit. Ich wäre auch gern bereit gewesen, mit zu diskutieren, wie man gewisse Einseitigkeiten – ich nenne immer wieder das Problem mit der KPD- Geschichte in den 20er Jahren – hätte beseitigen sollen. Aber passiert ist überhaupt nichts. Das Deutsche Historische Museum ist da am 3. Oktober eingerückt, und innerhalb von vier Wochen war alles abgeräumt. Und nun wartet man vergeblich darauf, daß wieder ein Geschichtsmuseum im Zeughaus entstehen wird. Statt dessen
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sehen wir, daß Jahr für Jahr neue große Baumaßnahmen bejubelt werden. Und zur Freude des Steuerzahlers wird ja nun der Sino- Amerikaner Pei dort einen Glaspalast bauen. Ich finde das alles sehr schön, aber die Frage ist, wo bleibt die Verwirklichung der Aufgabe, wieder ein Museum einzurichten, das sich zentral um die Achse deutsche Geschichte bemüht.

     Welche Einsichten konnten Sie als Historiker, der Zeitzeuge mehrerer gesellschaftlicher Umbrüche war, in Hinblick auf die jeweilige »Vergangenheitsbewältigung« gewinnen?
     Kurt Wernicke: Schon meine Beschäftigung mit der Revolution 1848 hat mir Einblick gegeben, wie sich Menschen nach der Niederlage einer Hoffnung bewegen. Da gibt es offensichtlich menschliche Grundzüge. Das wird höchstwahrscheinlich schon beim Übergang von der Römischen Republik zum Cäsarismus der Fall gewesen sein. Man hat irgendwelche Ideale, und die brechen durch äußere Einwirkungen zusammen. Wenn man genau hinsieht, durch innere Entwicklungstendenzen, aber es sieht dann so aus, als seien das äußere Einwirkungen. Und dann hat sich jeder einzelne zu befragen: Was war auf dem zurückgelegten Wege? Da kann man verschiedene Schlußfolgerungen ziehen. Erstens: Man zieht sich in einen Schmollwinkel zurück. Zweitens: Man läuft zur anderen Seite über. Das gibt es nach 1848 herrlich zu beobachten. Leute, die in der Revolution die größten

Schreihälse waren, die werden nach der Revolution Königliche Inspektoren. Interessant ist auch, daß alle Dossiers der 48er Demokraten, die dann Ende der 60er Jahre zu Bismarck übergelaufen sind, in den Unterlagen des Berliner Polizeipräsidiums fehlen. (Die sind uns ja erhalten im Brandenburgischen Landeshauptarchiv.) Mitte der 80er Jahre hat nämlich Bismarck befohlen, ihre Dossiers zu vernichten. Nur diejenigen, die nicht zu Bismarck übergelaufen sind und ihren alten Idealen, ob berechtigt oder unberechtigt, treu geblieben sind, deren Akten haben wir heute. Ich muß sagen, daß ich deshalb über so viele Verhaltensweisen, die man 1989/90 und danach erlebt hat, nicht im geringsten überrascht war.

     Deutschland und Europa sind für Sie ebenso Gegenstand intensiver Beschäftigung wie eine umfassende Zeitspanne. Sie reicht bis ins hohe Mittelalter zurück.
     Kurt Wernicke: Das hat damit zu tun, daß mir ein oberflächliches Wissen nie genug war. Ich habe also immer hinterfragt und bin dadurch tiefer eingedrungen. Man kann die deutsche Geschichte nicht ohne europäische Geschichte sehen. Dann muß man sich auch auf Beziehungen einlassen, z. B.: Der erste Hohenzoller hat mit Hilfe der Berliner und anderer märkischer Städter, aber vor allem mit Hilfe der Berliner, die Macht der märkischen Ritter, die zum Teil Raubritter waren, gebrochen. Er hat sich vom Deutschen Orden in Ostpreußen ein

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   59   Berliner Gespräche Historiker Kurt Wernicke  Vorige SeiteNächste Seite
Geschütz, die »faule Grete« beschafft. Wie kommt es, daß der Deutsche Orden in Ostpreußen ein Geschütz hatte, was man hier in Brandenburg nicht kannte? Das hing damit zusammen, daß die mit den Polen, Russen und Tataren Berührung hatten, die ihrerseits den Gebrauch von Pulver und zusammengeschweißten Stäben, sprich Geschützrohren, von den Chinesen kennengelernt hatten. Diese Zusammenhänge muß man einbringen. Dann ist man schon beim Zusammenhang zwischen Berliner Geschichte, brandenburgischer Geschichte, deutscher Geschichte und europäischer Geschichte.

     Was bleibt aus Ihrer Sicht von den Ergebnissen der Arbeit der DDR- Historiker?
     Kurt Wernicke: Es sind in diesen 40 Jahren außerordentlich wichtige Quellenveröffentlichungen getätigt worden. Dann sind Geschichtswerke entstanden, die als Nachschlagewerke von Interesse sind, natürlich unter einseitigem Blickwinkel eingefärbt, aber das gliedert sich ein in Dutzende, ja Hunderte von Geschichtswerken, insbesondere solche Überblickswerke, die »eingefärbt« sind. Wer sich die »Historia Mundi« aus dem Herder Verlag ansieht, die in der ersten Hälfte der 50er Jahre erschienen ist, der findet dort natürlich auch eine Färbung, eine ideologische Färbung, eine konfessionelle Färbung. Wer sich die nach dem Zweiten Weltkrieg erschienene Propyläen- Weltgeschichte ansieht, die sozusagen auf den Atlantismus ausgerichtet ist, der muß sich

da nicht allzu viel Vorwürfe machen, daß die Werke hier marxistisch- leninistisch eingefärbt waren. Die Sicht auf die Geschichte von den materiellen Bedingungen her ist aber eine legitime Sicht auf unsere Vergangenheit. Man muß bei Geschichtspublikationen immer beachten, daß sie auf drei Säulen ruhen. Erstens auf dem, was als Wissen übertragen worden ist in die heutige Generation. Auf dem bauen wir auf. Zweitens ist es die Sicht des Verfassers auf die Entwicklung der Geschichte. Die ist natürlich bei einem Katholiken anders, wenn er die Reformation behandelt, als bei einem Protestanten. Und das Dritte ist die fortschreitende Erkenntnis, indem wir immer tiefer in die Quellen eindringen und die Quellengrundlage immer mehr verbreitern. Das letztere hat natürlich in der DDR selbst bei denen stattgefunden, die sich politisch einseitig mit der Geschichte der KPD beschäftigt und sie dann schöngeschrieben haben. Andere Parteien schreiben, wie ich zu meinem Entsetzen festgestellt habe, ihre Geschichte auch schön und lassen unangenehme Fragen gar nicht zu oder übergehen sie großzügig. Also ich glaube schon, daß da allerhand bleiben wird.

     Berlin gibt immer weniger Geld für die Erforschung der Stadtgeschichte aus. Außeruniversitäre wie universitäre Forschungseinrichtungen wurden im letzten Jahr geschlossen bzw. gehen ihrer Abwicklung entgegen. Beunruhigt Sie das?

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     Kurt Wernicke: Ja, aber wir sollten auch da einen Blick in die Geschichte tun. Sehr viele Publikationen zu Berliner historischen Einzelthemen entspringen schon im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert der Privatinitiative. Natürlich haben wir in Berlin eine Unmasse Institutionen, die daran interessiert sein sollten, ihre Verwurzelung mit Berlin, ihren historischen Hintergrund in Berlin und der Umgegend auszuarbeiten, um damit auch »PR« zu betreiben. Ich kann mir vorstellen, daß der Ausfall der öffentlichen Hand durch das Bewußtsein bei all denen, die in der Stadt im Gegensatz zur öffentlichen Hand noch Geld haben, davon gibt es ja genug, kompensiert werden kann. Ich will aber nicht in den Chor derer einstimmen, die da nach Subventionen rufen. Das war in West-Berlin so wie in Ost-Berlin. Beide Teile Berlins haben in der Zeit des Kalten Krieges auf Kosten ihres jeweiligen Hinterlandes gelebt. Da sind natürlich feste Gewohnheiten entstanden, und man war sicher, daß Geld da sein wird. Jetzt ist es nicht mehr da. Da muß man sich auf andere Quellen orientieren. Ich hoffe, daß es in Berlin so viel Lokalpatriotismus geben wird, daß da auch wieder Quellen fließen, natürlich nicht solche mit Pensionsberechtigung.

     Worauf hat der Berlin- Historiker Wernicke noch Lust und wofür noch Kraft?
     Kurt Wernicke: Was mir Spaß macht, ist immer noch das Vermitteln von Kenntnissen zur Berlin- Geschichte. Es ist nötig, daß

wir Berlin nicht immer nur verstehen als die Geschichte jenes Raumes, der administrativ Berlin heißt. Wir sind eine Stadt, aber wir sind auch ein Bundesland. Wir haben diese Geschichtsregion Berlin inklusive des sogenannten Speckgürtels zu erforschen. Ich finde es wichtig, daß wir diese Kenntnisse von der Region Berlin verbreiten. Deshalb arbeite ich gern bei der Ausbildung von Stadtführern mit. Wir reden vom Zusammenwachsen von Ost und West. Nord und Süd müssen genauso zusammenwachsen. Das betrifft beispielsweise auch, wie Berlin in seiner Geschichte mit den Ausländern fertig geworden ist. Wobei die Ausländer nicht immer aus der Türkei oder aus Afrika kamen, manchmal sind die Ausländer aus Franken gekommen, als fränkische Beamte nach Berlin kamen: »Wessis«, die damals auch eine »Buschzulage« bekommen haben, die ganz andere Lebensweisen hatten, die ganz anders sprachen als die damals plattdeutsch sprechenden Berliner. Wer das alles weiß und verbreitet, trägt dazu bei, das Leben hier zu normalisieren und vielen angeblichen Problemen die Schärfe zu nehmen.

Das Gespräch führte Hans-Jürgen Mende

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