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eine andere märkische Stadt noch nicht besitzen, und das für alle Zeiten grundlegend bleiben wird«.1) Es läßt sich mühelos erkennen, daß sich am Gehalt dieser Aussage nach fast 70 Jahren noch nicht viel geändert hat, obwohl Otto Tschirch über lange Jahrzehnte hinweg aus dem öffentlichen Bewußtsein der Stadt fast verschwunden war, sicher auch im Zusammenhang mit der Tatsache, daß er erst nach der NS- Machtübernahme für sein geschichtswissenschaftliches Werk am 24. Mai 1933 zum Ehrenbürger von Brandenburg (Havel) ernannt worden war. So hat sich mit seiner Person ein merkwürdiger Widerspruch entwickelt: Einerseits geriet er immer mehr in Vergessenheit – auch heute noch findet er in Standardwerken zur brandenburgischen Geschichte keine Erwähnung –, und andererseits wurde er zu Lebzeiten sowohl von der »Zunft« der Landes- und Preußen- Historiker als auch von den Museologen der Provinz Brandenburg als ein »weit über die Vaterstadt hinaus als preußischer und märkischer Geschichtsforscher bekannter Verfasser ...«2) unzähliger Schriften und Abhandlungen zur Geschichte von Stadt und Provinz Brandenburg hoch geschätzt. Diese Wertschätzung hing vor allem auch damit zusammen, daß seine Aufsätze nicht schlechthin in der Enge der Stadt- und Regionalgeschichte verharrten, sondern daß er stets die Beziehungen zu umfassenden geschichtlichen Zusammen-
Wolfgang Kusior sen.
Otto Tschirch – Brandenburg und die Provinz

Nach der sogenannten »Wende« in Ostdeutschland wurden bekannterweise unzählige Straßennamenumbenennungen vorgenommen. So erhielt eine Straße in einem Neubauviertel der Stadt Brandenburg den Namen »Tschirch- Damm«, und nur ganz wenige Einwohner wußten etwas mit dem Namen Tschirch anzufangen. Diese wenigen – vorwiegend Freunde der Brandenburger Heimatgeschichte – wissen, daß es sich lohnt, einen »Tschirch« aufzutreiben, so man ihn zu besitzen sich nicht glücklich schätzen kann. Sowohl bei diesen einheimischen Heimatgeschichtlern wie auch in der Regel bei den Fachleuten der Brandenburgischen Landesgeschichte ist das mit dem Namen Tschirch bezeichnete Werk ein Begriff, nämlich: die »Geschichte der Chur- und Hauptstadt Brandenburg an der Havel – Festschrift zur Jahrtausendfeier der Stadt 1928/29«. Über diese Stadtgeschichte hatte damals Johannes Schultze geschrieben, daß der Brandenburger Stadtarchivar Prof. Dr. Otto Tschirch damit ein Werk geschaffen habe, »wie wir es in dieser Vollendung für

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   48   Probleme/Projekte/Prozesse »Altmeister der Heimatforschung«  Vorige SeiteNächste Seite
hängen zu knüpfen wußte; »... sie leuchten auch hinein in die Vorgänge von allgemeinem landesgeschichtlichen Interesse«.3) Bevor ich mich zum landesgeschichtlichen Schaffen von Otto Tschirch und zu seiner von den Zeitgenossen als »Muster einer Stadtgeschichte«4) bewerteten »Geschichte der Chur- und Hauptstadt Brandenburg an der Havel ...« äußere, sei mir eine biographische Übersicht gestattet:
     Otto Tschirch wurde am 4. Juni 1858 in Guben geboren und studierte ab 1880 an der Berliner Friedrich- Wilhelms- Universität unter anderem Geschichte bei Johann Gustav Droysen, Theodor Mommsen und Heinrich von Treitschke. Ab 1882 war er Lehrer am von Saldernschen Gymnasium zu Brandenburg (Havel) und promovierte 1884 in Halle mit einer in zwei Auflagen gedruckten Dissertation5) zur Geschichte Mailands unter der Regentschaft Friedrichs I. im Zusammenhang mit dem Zusammenschluß der norditalienischen Städte unter Mailands Führung zum Lombardischen Bund im 12. Jahrhundert – eine Arbeit, die von Droysen mit dem Prädikat »acurate et docta« bewertet wurde.6) Ab 1884 wirkte er im Vorstand des Historischen Vereins zu Brandenburg und von 1909 bis 1937 als Vorsitzender des Vereins. Von 1899 bis 1929 war er als Stadtarchivar in Brandenburg tätig, von diesen 30 Jahren jedoch nur die letzten acht Jahre in hauptamtlicher Stellung. Im Jahre 1901 erhielt Otto Tschirch von der Greifswal-
der Universität den Rubenow- Preis für die Vorlage eines Manuskripts zum Werk »Geschichte der öffentlichen Meinung in Preußen vom Basler Frieden bis zum Zusammenbruch des Staates (1795–1806)«; diese umfangreiche Feinanalyse der Erosion des Preußischen Staates am Ende des 18. Jahrhunderts mit der Bewertung von etwa 800 politischen Schriftstellern kam erst in seinem 75. Lebensjahr als zweibändiges Werk 1933/34 zur Veröffentlichung (Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar) und wurde von ihm selbst als sein eigentliches Hauptwerk betrachtet. Dafür erhielt er 1934 von der Preußischen Akademie der Wissenschaften die silberne Leibniz- Medaille verliehen. Doch zurück zu seinen wichtigsten Lebensdaten: Als Stadtarchivar und Vorsitzender des Historischen Vereins hatte Tschirch sich nachdrücklich um das damals noch im Brandenburgischen Steintorturm befindliche Heimatmuseum des Vereins bemüht. Als im Jahre 1912 die Vereinigung der brandenburgischen Museen (übrigens: der erste deutsche Landesverein der Heimatmuseen) gegründet wurde, übernahm er die Funktion des zweiten Vorsitzenden und von 1922 bis 1932 jene des ersten Vorsitzenden dieses Verbandes der Museologen der Mark. Die Stadt Brandenburg verdankt Otto Tschirch ein seit 1923 großzügig eingerichtetes Heimatmuseum in dem früheren Freihaus des Obersten von Massow mit einer
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   49   Probleme/Projekte/Prozesse »Altmeister der Heimatforschung«  Vorige SeiteNächste Seite
umfangreichen, wissenschaftlich geordneten Sammlung. Das Museum setzte in den 20er Jahren Maßstäbe für die Heimatmuseen in der Mark Brandenburg.
     Das ist auch die Zeit seines umfangreichsten publizistischen Schaffens. Seine wichtigsten stadt- und regionalgeschichtlichen Aufsätze erschienen in den 20er Jahren in vier Folgen unter dem Titel »Im Schutze des Rolands«, 1938 zusammengefaßt als einbändige zweite Auflage – vor allem für die heimatkundliche Volksbildung bestimmt.
     Im Jahre 1928 erschien sein bereits erwähntes zweibändiges Werk zur Geschichte der Stadt Brandenburg. Der Vorschlag des damaligen Oberbürgermeisters Dr. Fresdorf zu seiner Ernennung zum Ehrenbürger der Stadt fand nicht die Zustimmung der SPD- Mehrheit in der Stadtverordneten- Versammlung. Das holten die Nationalsozialisten 1933 nach. Ende 1936 wurde eine zweite Auflage der Tschirchschen Stadtgeschichte herausgegeben – jetzt einbändig und sehr sparsam ausgestattet. Nicht lange danach wurde dieses Werk durch das Reichspresseamt des Reichspropaganda- Ministeriums verboten und durch die NSDAP- Kreisleitung zur Vernichtung eingezogen. Den 80. Geburtstag 1938 verlebte der Ehrenbürger Otto Tschirch zwar hoch geehrt, aber doch desillusioniert und resigniert. Er verstarb am 15. März 1941. Nach seinem Ableben erschien noch eine dritte, von ihm schon nicht mehr überarbeitete Auflage der Brandenburger Stadtge-
schichte; doch nunmehr ohne das Schlußkapitel, in dem er das 20. Jahrhundert behandelt hatte. Seine eigene Lebenszeit zu »bewältigen« wollte ihm nicht gelingen, nicht unter diesen Machtverhältnissen und auch nicht unter den Bedingungen der Weimarer Republik.7)
     Eine Straße in Brandenburg trägt nun seit 1992 seinen Namen. Die Spuren seines Wirkens in der Stadt werden nicht nur durch die »Stadtgeschichte« und das Museum markiert, sondern auch durch seinen Anteil an der Restaurierung des Altstädter Rathauses aus dem 15. Jahrhundert im Jahre 1912 in Vorbereitung der sogenannten »Hohenzollernfeier«, weiterhin durch die Neuordnung des Stadtarchivs, des Büchereiwesens, des Stadtwappens und anderes mehr. Das nur nebenbei erwähnend, möchte ich mich seinem überregionalen bzw. landesgeschichtlichen Wirken zuwenden.
     Schon als junger Gymnasiallehrer trat er 1889 dem Verein für die Geschichte der Mark Brandenburg bei, an dessen Tätigkeit er durch etliche Vorträge aktiv Anteil genommen hatte. Es ist nicht zu übersehen, daß die provinzielle Enge und die beschränkten Arbeitsmöglichkeiten in seiner Wahl- Heimatstadt ihn dazu bewegten, den Austausch mit Historikern in Berlin und aus der Provinz zu suchen. So suchte er den Kontakt zu etlichen anderen Geschichtsvereinen, wurde 1898 vom Verein für die
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Geschichte Berlins mit einer Medaille geehrt und trat auch vor der Historischen Gesellschaft zu Berlin als Referent auf (1921). Dem Bemühen um Kooperation entsprach auch die Tatsache, daß auf sein Einwirken hin ab 1924 die zweimal jährlich stattfindenden Fachtagungen des Museumsverbandes gemeinsam mit dem Verein für die Geschichte der Mark Brandenburg durchgeführt wurden, um – wie er im Mitteilungsblatt des Museumsverbandes schrieb – einen »engeren Zusammenschluß aller geschichtlich und heimatkundlich interessierten Kreise der Provinz ...«8) zu ermöglichen. Im Jahre 1925 wurde Otto Tschirch infolge seines landesweiten Engagements Ehrenmitglied der Gesellschaft für Heimatkunde und Heimatschutz in der Mark Brandenburg (Brandenburgia) und Mitglied der Historischen Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin (Mitglied bis 1939).
     Sein überaus reiches literarisches Schaffen überblickend, kann man erkennen, daß von über 300 Schriften, Abhandlungen und Beiträgen etwa ein Drittel mit landesgeschichtlichen Themen befaßt, aber auch die meisten der Regionalarbeiten durch die Einordnung in den gesamtgeschichtlichen Rahmen gekennzeichnet sind. Bereits 1888 enthalten die »Jahresberichte der Geschichtswissenschaft« von ihm Besprechungen der märkischen Forschung von 1884 bis 1888.9) Weitere bemerkenswerte Arbeiten befassen sich
u. a. mit der Herkunft des Namens »Brandenburg«, mit dem »falschen Markgrafen« Waldemar, mit Engelbert Wusterwitz, mit der Mitgliedschaft märkischer Städte in der Hanse, mit den Bistümern Brandenburg und Havelberg, mit dem Großen Kurfürsten, mit Friedrich dem Großen und dem Siebenjährigen Krieg, mit Bismarck, mit Dichtern und Komponisten wie Friedrich de la Motte Fouqué, Willibald Alexis und Johann Friedrich Reichardt, um nur einige Beispiele zu nennen. Die literarische Hinterlassenschaft von Otto Tschirch läßt sich in vier Gebiete einteilen: 1. Schriften über die Geschichte der öffentlichen Meinung in Preußen zwischen 1789 und 1813, 2. Schriften zur brandenburgisch- preußischen Geschichte und zur Ortsgeschichte der Stadt Brandenburg, 3. einige Schriften zur Musikgeschichte in Preußen und 4. pädagogische Schriften wie Quellensammlungen für den Zeitraum von 1648 bis 1815 (verlegt bei Teubner).
     Nachdem ich eine Übersicht über Leben und Schaffen von Otto Tschirch gegeben habe, möchte ich abschließend auf die Ausgangsfrage zurückkommen, warum der bedeutendste Historiker, den die Stadt Brandenburg in ihren Mauern sah, ebendort so vergessen werden konnte. Die bereits erwähnte »Geschichte der öffentlichen Meinung ...« – von ihm selbst als »wissenschaftliches Lieblingskind« betrachtet – läßt erkennen, in welcher Vorstellungswelt er lebte und wirkte: in der Zeit des 19. Jahrhunderts,
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mit den Idealen eines aufgeklärten Preußentums mit sowohl nationalbewußter als auch liberaler Prägung. Die Erkundung der Zersetzungsdynamik des für ihn fortgeschrittensten Staatswesens im 18. Jahrhundert empfand er als eine Art »Herzenssache«, und das persönliche Erleben eines solchen Vorganges um 1918 hatte auf ihn wie ein Schock gewirkt. Dafür gibt es Beispiele. Die Problematik der Erosion eines als besonders fortgeschritten empfundenen Staatswesens mit ihren Folgen scheint mir für das 20. Jahrhundert in neuer Weise interessant und brisant zu sein. Doch hier muß ich auf das von Otto Tschirch formulierte »Gebot der Zurückhaltung, wenn es sich um eine neue Zeit handelt«10) verweisen. Er hatte dieses Gebot zu Beginn des Schlußkapitels in seinem »Schmerzenskind«, der Brandenburger Stadtgeschichte von 1928, ausgesprochen, des Kapitels, welches später in der faschistischen Zeit gestrichen worden war. Er kam mit den politischen Wende- und Machtspielen in seinen späteren Lebensjahrzehnten nicht mehr zurecht.
     Ein besonders sympathischer Zug dieses »Altmeisters der märkischen Heimatforschung« – wie er zuweilen achtungsvoll von Zeitgenossen genannt wurde – war sein über die Strenge wissenschaftlichen Tuns hinausragendes Gefühl für das Zwischenmenschliche in der Heimatforschung. Als er sich 1932 vom Vorsitz des Musumsverbandes verabschiedete, bekannte er, daß die mit der
Funktion verbundene »Wanderung durch die größeren und kleineren märkischen Städte, wo überall uneigennützig und gemeinnützig denkende Heimatfreunde oft unter Opfern schaffen, um zu retten und zu bergen, was von heimatkundlichem Stoff erreichbar ist und der Volksbildung dienen kann ...«11), ihm unvergeßliche Erinnerungen gegeben habe. Herr Professor Peter- Michael Hahn (Potsdam) hatte in seinem Vortrag vor dem Brandenburger Historischen Verein im November 1994 eine »Verzahnung« von landesgeschichtlicher und regionalgeschichtlicher Forschung zwar für notwendig gehalten, jedoch die Zusammenarbeit mit den Leuten »vor Ort« strikt abgelehnt. Professor Otto Tschirch hatte die »Verzahnung« praktiziert und die Gemeinsamkeit gesucht und gepflegt. Daraus ließe sich lernen; auch aus dem von ihm gern verwendeten Leitspruch des Freiherrn vom Stein: »Sanctus amor patriae dat animum.« – »Die heilige Liebe zur Heimat gibt Mut und Kraft zu schöpferischer Tat.«

Quellen und Anmerkungen:
1     Rezension von Johannes Schultze, In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 42 (1929), S. 188 ff.
2     Rezension über »Im Schutze des Rolands«, In: Brandenburgische Museumsblätter. Mitteilungen der Vereinigung Brandenburgischer Museen, Ausgabe Dezember 1925

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3     Rezension von Johannes Schultze, In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 51 (1939), S. 225 f.
4     Rezension von Johannes Schultze, In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 49 (1937), S. 447
5     Otto Tschirch: Beiträge zur Geschichte Mailands von der Zerstörung der Stadt 1162 bis zum Ausgange Friedrich I., Halle /Brandenburg 1884
6     Universitätsarchiv Halle, Rep. 21 II/140, Bd. 1, Gutachten Prof. Droysen
7     Wolfgang Kusior: Otto Tschirch – Leben und Werk, In: Historischer Verein Brandenburg (Havel) e. V., 3.–4. Jahresbericht 1993–1994, S. 13 ff.
8     Brandenburgische Museumsblätter, a. a. O., Ausgabe Dezember 1995
9     Jahresberichte der Geschichtswissenschaft, Bd. XI (1988), Abt. 2, S. 345 ff.
10     Otto Tschirch: Geschichte der Chur- und Hauptstadt Brandenburg an der Havel, Brandenburg/H. 1928, Bd. 2, S. 358
11     Brandenburgische Museumsblätter, a. a. O., Ausgabe Dezember 1932, S. 145

Mit diesem und dem vorangegangenen Artikel von Detlef Kotsch setzen wir die Veröffentlichung von Beiträgen eines wissenschaftlichen Kolloquiums an der Humboldt- Universität zum Thema »Stadt und Provinz, Berlin und Brandenburg in Wechselbeziehung« fort.

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© Edition Luisenstadt, 1997
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