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Peter Jödicke
Begründer der modernen Inschriftenkunde

Ehrenbürger August Boeckh (1785–1867)

Am 10. Oktober 1810 öffnete die Berliner Universität ihre Pforten. Die Gelehrten, die Wilhelm von Humboldt (1767–1835), der Schöpfer der Berliner Universität, für die vier Gründungsfakultäten berufen konnte, besaßen als Wissenschaftler bereits einen Ruf. Unter ihnen der klassische Sprachforscher August Boeckh, der 1811 auf den philologischen Lehrstuhl der Philosophischen Fakultät berufen und zum Professor »eloquentiae et poeseos« ernannt wurde. Der gerade erst 25jährige Boeckh befand sich in Gesellschaft namhafter Wissenschaftler wie des Philosophen und ersten Rektors der Universität Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), des Theologen Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher (1768–1834), des Juristen Friedrich Karl von Savigny (1779–1861), des Mediziners Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836), des Agrarwissenschaftlers Albrecht Daniel Thaer (1752–1828), der Chemiker Sigismund Fried-

rich Hermbstaedt (1760–1833) und Martin Heinrich Klaproth (1743–1817) sowie des Physikers Paul Eman (1764–1851). Anläßlich seines 50jährigen Dienstjubiläums am 15. März 1857 erhielt August Boeckh in Würdigung seines wissenschaftlichen Wirkens die Ehrenbürgerschaft der Stadt Berlin, die er über andere ihm zuteil gewordene Auszeichnungen stellte. Er ging als 34. Ehrenbürger in die Annalen der Stadt Berlin ein.
     August Boeckh wurde am 24. November 1785 als Sohn des Hofsekretärs und Notars Georg Matthäus Boeckh (1735–1790) in Karlsruhe geboren. Auf Anraten seiner Mutter besuchte er von 1791 bis 1803 das namhafte »Gymnasium illustre« in Karlsruhe, erhielt dort eine spezielle Ausbildung bei dem Mathematiker und Physiker Johannes Lorenz Böckmann (1741–1802) und wurde als Candidatus theologicus verabschiedet. Unter dem Einfluß von Schleiermacher und Friedrich August Wolf (1759–1824) brach er 1805 in Halle sein Theologiestudium ab und widmete sich fortan dem Studium des griechischen Altertums, wobei er besonders philosophische Vorlesungen über Platon besuchte. 1806 wurde August Boeckh Lehrer im Gedikeschen Seminar für gelehrte Schulen in Berlin. Nach seiner Promotion an der Hallenser Universität zog es ihn 1807 an die Heidelberger Universität, an der er sich unverzüglich habilitierte und ein Extraordinariat einnahm, das 1809 in ein
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Ordinariat für Klassische Philologie erhoben wurde. In herzlichen Kontakten zu Clemens Brentano (1778–1842) und Achim von Arnim (1781–1831) stellte er in den Heidelbergischen Jahrbüchern Schleiermachers Platonübersetzungen ausführlich vor. Schon zwei Jahre später erreichte ihn der Humboldtsche Ruf nach Berlin.
     Boeckh erwarb sich besondere Verdienste bei der Organisation des Lehr- und Forschungsbetriebes der noch jungen Universität. 1812 wurde das von ihm entwickelte und geführte philologische Seminar zum Universitätsstandard erhoben. Boeckh gehörte neben Schleiermacher, Savigny und dem Anatomen Carl Asmund Rudolphi (1771–1832) einer Kommission zur Begutachtung der Universitätsstatuten an, die 1817 an der Alma mater Berolinensis eingeführt wurden. Zwischen 1814 und 1850 bekleidete August Boeckh für fünf Wahlperioden das Amt des Dekans der Philosophischen Fakultät. Ebensooft wurde ihm das Rektorat der Universität übertragen, die seit 1828 den Namen Friedrich- Wilhelms- Universität trug. Beachtlich seine Kontinuität, denn er hielt 120 Semester ununterbrochen das philologische Hauptcolleg an der Universität. Verständlich, daß ihn die Studenten an seinen Geburtstagen mit Fackelzügen ehrten.
     Der Gräzist Boeckh ging mit seiner Methode über die bisher übliche reine Textphilologie hinaus, in dem er die verschiedensten
Aspekte des geistigen und materiellen Lebens der Griechen, ihre Wirtschaft und Wissenschaft erforschte. Das faßte er im Rahmen der historischen Altertumswissenschaft zusammen und avancierte so zum Haupt der realphilologischen Schule, der die von Gottfried Hermann (1772–1848) angeführte sprachlich- textkritische Schule gegenüberstand. Im Jahre 1815 initiierte Boeckh im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften den »Corpus Inscriptionum Graecarum« (CIG), der zwischen 1825 und 1859 in einem umfangreichen Volumen mit vier Bänden erschien. Er begründete damit die moderne historisch- philologische Quellensammlung. Die klassische Philologie eroberte sich durch die Sammlung griechischer Inschriften ein neues Arbeitsgebiet – die Inschriftenkunde (Epigraphie). Die systematische und zielgerichtete Untersuchung von überlieferten Auf- und Inschriften besonders der Antike, die sich auf Ton, Stein, Holz, Metall, Knochen usw. befanden und in Form von Tafeln, Wegsteinen, Gefäßen, Waffen, Schmuck, Handwerks und Hausgerät, Hauswänden und Grabstätten erhalten blieb, erwies sich in Ursprünglichkeit (Lapidarstil) als eine unersetzliche Quellenkunde für die Geschichtswissenschaft. Jetzt erschien die hellenische Welt den Modernen greifbarer, vorstellbarer, realistischer in ihrer Alltäglichkeit. Mit den Inschriften- Sammlungen begann die Wissenschaft, nun auch den Dialekten der Antike
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Beachtung zu schenken, begriff sie das klassische Griechisch als etwas Gewordenes. Für die weitere Beschäftigung mit der Antike im Europa des 19. Jahrhunderts erwies sich die Herausgabe der Inschriften als eine außerordentliche Pioniertat. Der berühmte Theodor Mommsen (1817–1903) griff, gemeinsam mit Rudolf Virchow (1821–1902), Paul Langerhans sen. (1820–1909) und Max von Forkenbeck (1821–1892), 1861 Begründer der Liberalen Deutschen Fortschrittspartei, diese Idee für seinen ab 1863 erschienenen »Corpus Inscriptionum Latinarium« (CIL) auf. Der Boeckhsche »Corpus« schien bald unzulänglich, so daß die Akademie ab 1873 mit einer auf 12 Bände ausgelegten »Inscriptiones Graecae« (IG) eine Überarbeitung anstrebte.
     1817 hatte August Boeckh »Die Staatshaushaltung der Athener« veröffentlicht, in der er die griechische Geschichte als tatsächliches Geschehen vorstellte und tiefe Einblicke in die attische Wirtschaft gab. Noch anschaulicher wurde das Bild des antiken Lebens, als Boeckh 1838 seine »Metrologischen Untersuchungen über Gewichte, Münzfüße und Maße des Altertums« vorlegte und damit den orientalischen Stammbaum des hellenischen Maß und Münzwesens belegte und den Zusammenhang abendländischer und morgenländischer Kultur nachwies.
     In den 30er Jahren war August Boeckh der erste Mann der Universität. In seiner
Person verkörperte sich die ganze Geschichte der Universität. In der Tat trug er zur Dominanz von Philosophie und Philologie an der personell gut besetzten Berliner Universität maßgeblich bei. Bereichert wurde die ohnehin bereits namhafte Philologie noch, als Wilhelm von Humboldt nach seinem Protest gegen die Karlsbader Beschlüsse von 1819 den preußischen Staatsdienst quittierte und von nun an vergleichende Sprachwissenschaft betrieb.
     Neben seiner Lehrtätigkeit an der Universität entfaltete Boeckh eine umfassende wissenschaftsorganisatorische Arbeit als Mitglied der historisch- philologischen Klasse der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, deren ordentliches Mitglied er am 14. Mai 1814 wurde, während er 1835 die Aufgaben des Sekretars der Klasse Philosophie übernahm. Er leistete einen entscheidenden Beitrag für die Reform der Organisation und die wissenschaftlichen Aktivitäten der Akademie. Boeckhs Wirken an der Akademie würdigte Adolf von Harnack (1851–1930) in seiner »Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin«: Er sei »in allen Methoden der Forschung bewandert, gleich aufgeschlosen für die speculative, historische, grammatische und mathematische Betrachtungsweise, geschickt und thätig in allen Zweigen der Verwaltung des Gemeinwesens, ... nach Schleiermacher's Tode der lebendige Mittelpunkt der Akade-
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mie geworden«. Boeckhs Laudatio auf Alexander von Humboldt (1769–1859) vom 4. Juli 1850 anläßlich dessen 50jähriger Zugehörigkeit zur Akademie zeugte von der langjährigen Freundschaft der beiden außergewöhnlichen Wissenschaftlerpersönlichkeiten in Berlin. Ab 1829 beteiligte sich Boeckh maßgeblich an der Herausgabe der Berliner Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik.
     In seiner Ansprache nach seiner letzten Wahl zum Rektor der Universität für das akademische Jahr 1859/60 formulierte Boeckh seinen Grundsatz, daß sich die akademischen Lehrer zu den Studierenden wie zu Pflegebefohlenen verhalten und in allem behilflich sein sollten, was vernünftigen Zwecken diene, und in jugendlicher Heiterkeit und zwanglosen Formen gemeinsam zu leben. Der Altertumsforscher Boeckh lebte jedoch nicht nur in der antiken Welt. Er äußerte sich zu den ihn bewegenden Zeitfragen und machte aus seiner liberalen Überzeugung kein Hehl. Sie wurde unter anderem in seinen zum Großteil lateinisch abgefaßten Festreden zu den Geburtstagen des Königs sichtbar. Am Geburtstag von König Wilhelm I. (1797–1888) im Jahre 1863 hielt August Boeckh seine letzte Ansprache als beliebter Festredner der Universität.
     August Boeckh war zweimal verheiratet. Am 4. Oktober 1809 ehelichte er Dorothea Wagemann, die Tochter des Göttinger Generalsuperintendenten Gottfried Wagemann.
Nach dem frühzeitigen Tod seiner Frau heiratete Boeckh 1830 Anna Taube. Er wohnte mit seiner Familie in der Kronenstraße 34. Am 3. August 1867 verstarb August Boeckh im 82. Lebensjahr an den Folgen einer Lungenlähmung. Seine Beisetzung auf dem Dorotheenstädtischen Kirchhof (heute Bezirk Mitte, Chausseestraße 126) fand am 6. August 1867 statt. Seine Grabstelle an der Birkenallee des Kirchhofs ist erhalten. Schon wenige Jahre nach seinem Tod wurde 1874 eine Straße im heutigen Bezirk Kreuzberg zwischen Kottbusser Damm und Grimmstraße nach dem berühmten Altertumswissenschaftler und Sprachforscher benannt. Gegenwärtig entsteht in unmittelbarer Nähe des Hauptgebäudes der Humboldt- Universität ein Neubau, in dem vor allem die sprachforschenden Institute ihr Domizil erhalten sollen. Es wird den Namen von August Boeckh tragen.
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© Edition Luisenstadt, 1997
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