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Hans-Joachim Beeskow
Adolf Stoecker – Berlins erster Stadtmissionsdirektor

Adolf Stoecker, der am 7. Februar 1909 in Gries (bei Bozen) starb und auf dem Friedhof der Berliner Dreifaltigkeitsgemeinde in der Bergmannstraße (Bezirk Kreuzberg) seine letzte Ruhestätte fand, gehört mit zu den bedeutendsten Gestalten des deutschen Protestantismus in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zugleich war er einer der umstrittensten Kirchenmänner, der von seinen Anhängern ebenso stark verehrt wie von seinen Gegnern bekämpft wurde. Ein Zeitgenosse Stoeckers formulierte das so: »Der Hofprediger Stoecker gehörte zu den Menschen, denen gegenüber Niemand eine mittlere Stellung einnahm. Haß oder Liebe – ein Drittes gab es nicht ... Man konnte ihn in den Himmel erheben oder in die Hölle verdammen, aber gleichgültig ließ er keinen.«

     Von Adolf Stoecker, der durch seine Frau recht wohlhabend geworden war, wird gesagt, daß er den Grundsatz vertrat, unter seinem Stande essen, nach seinem Stande sich kleiden, über seinem Stande wohnen. Berühmt wurde er u. a. durch seine »Eiskellerrede«, die er am 3. Januar 1878 im Arbei- terlokal »Eiskeller« in der Berliner Chausseestraße hielt und in der er die Notwendigkeit einer christlich- sozialen Arbeiterpartei begründete (BM 1/1996).
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Stoecker wurde am 1. Oktober 1874 durch Kaiser Wilhelm I. (1861–1888) als Hof- und Domprediger nach Berlin berufen. In Halberstadt am 11. Dezember 1835 geboren, erfuhr Stoecker seine theologische Ausbildung an den Universitäten Halle und Berlin. Bald nach seinem Amtsantritt als Berliner Hof- und Domprediger – die Amtseinführung erfolgte am 18. Oktober 1874 – widmete sich Adolf Stoecker sozialer Arbeit. Sie motivierte sein Lebenswerk.
     Berlin entwickelte sich seinerzeit zur modernen Industriestadt. Gigantisch wuchs sie empor, getrieben von Profitgier und Genußsucht, erbaut mit dem Schweiß, den Tränen und dem grenzenlosen Elend des »vierten Standes«. Diese dunkle Kehrseite des Fortschritts rief Adolf Stoecker auf den Plan: »Ich sah in der sozialen Frage einen Abgrund, der vor dem deutschen Leben klafft. Ich bin hineingesprungen, zuerst ohne die Tiefe zu ermessen, weil ich nicht anders konnte.« So initiierte Stoecker beispielsweise die »Schrippenkirche« in der Ackerstraße, die vornehmlich Arbeitslosen dienlich war. Nach dem Gottesdienst wurden hier an die Besucher ein Topf Kaffee und zwei Schrippen ausgeteilt.
     Auf der Gründungsversammlung der Berliner Stadtmission am 9. März 1877 wurde Adolf Stoecker zum Direktor berufen. Er definierte die Stadtmissionsarbeit als »berufsmäßige Laienhilfe in der Seelsorge und Evangelisation innerhalb der Massenge-
meinden in der Reichshauptstadt.« Adolf Stoecker strukturierte die Stadtmission in Besuchs-, Schriften-, Sanges- und Vereinsmission. Seine sogenannten »Pfennigpredigten« erreichten zeitweise eine Auflage von 130 000 Exemplaren. Die Kurrenden – sieben Chöre mit jeweils 15 Schülern – sangen mehrmals in der Woche und am Sonntagvormittag auf Berliner Höfen. Ihren Gesang bezeichneten die Berliner gelegentlich als »Stoeckers wilde, verwegene Jagd.«
     Nach seinem Abschied aus dem Hofpredigeramt im Jahre 1890 konzentrierte sich Stoecker auf die Stadtmissionsarbeit. Aus der Stadtmission entwickelte sich eine weitgefächerte, verdienstvolle Arbeit der Diakonie, die sich der Kranken, Behinderten und sozial benachteiligten Gruppen annahm und annimmt. Bei ihrem 25jährigen Jubiläum (1902) verfügte die Berliner Stadtmission bereits über mehrere Kirchen, Kapellen und Häuser, einen eigenen Verlag mit Druckerei, christliche Hospize und Erholungsheime, Vereine, 45 Stadtmissionare u. v. a. m.
     Die heutige »Stephanus- Stiftung« in Berlin- Weißensee, früher nach dem Hofprediger »Stoecker- Stift« benannt, erinnert an diese Anfänge.

Bildquelle: Archiv Autor

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