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Durch Anschauung in die Geschichte eindringen

Der Historiker Felix Escher zur Arbeit eines Vereins mit über 100jähriger Tradition

     1986 übernahmen Sie die Schriftleitung des »Jahrbuches für die Geschichte Mittel und Ostdeutschlands«, vor fünf Jahren wurden Sie zum 1. Vorsitzenden der »Landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg e. V.« gewählt, ein Ehrenamt, das Sie bis heute bekleiden. Nicht nur die geographische Ortsbestimmung des Jahrbuches und der »Landesgeschichtlichen Vereinigung«, sondern auch ein großer Teil Ihrer Veröffentlichungen deuten darauf hin, daß Sie als Historiker Berlin nicht als Nabel der Welt, sondern stets eingebunden in sein Umland betrachten. Dies ist für Berlin- Historiker nicht gerade typisch. Ist das ein Zufall oder ein Bekenntnis?
     Felix Escher: Ich möchte darauf ganz kurz mit einem Bekenntnis antworten: Es gibt keinen Nabel der Welt.

     Sie wurden 1945 in Berlin geboren und sind Katholik. Letzteres erwähne ich deshalb, weil es Zeiten gab, als das so tolerante Berlin nicht gerade freundlich mit der Minderheit der Katholiken umging. Haben diesbezügliche Erfahrungen im Elternhaus Sie geprägt?

     Felix Escher: Nein. Das ist eine Erfahrung, die aus meiner Beschäftigung mit der Geschichte erwuchs. Nach 1945 gab es so etwas nicht mehr, aber die kollektive Erfahrung der katholischen Kirche in der Diaspora war lange Zeit durch den Kulturkampf geprägt.

     Wann und warum entschieden Sie sich für den Beruf eines Historikers?
     Felix Escher: Das war immer mein Wunsch. Geschichte hat mich von klein auf fasziniert. Als Brot-Beruf habe ich zunächst einmal die Geschichtswissenschaft nicht angesehen, bin dann aber immer wieder zu geschichtlichen Studien zurückgekommen und habe Geschichte an der Freien Universität Berlin studiert. Für mich hat Geschichte auch etwas mit Anschauung zu tun. Anschauung ist ein Weg, in die Geschichte einzudringen, einer von vielen zugegebenermaßen, aber doch ein wichtiger Weg. Und auch meine Tätigkeit im Vereinswesen ist ja auch eine pädagogische.

     Zu Ihrer wissenschaftlichen Heimat wurde die außeruniversitäre Forschungseinrichtung der Historischen Kommission. Wie lange waren Sie dort tätig, welche Erfahrungen konnten Sie sammeln, und welches sind die wichtigsten Ergebnisse?
     Felix Escher: Die Historische Kommission war immer sehr stark mit der Universität verbunden und hat, wie ich auch im Nachhinein noch glaube, in vorbildlicher Weise die Verbindung zwischen ihrer Forschung

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und der in der Universität betriebenen Forschung und Lehre hergestellt; durch Publikationen, auch durch die Zeitschrift »Das Jahrbuch für Mittel- und Ostdeutschland«.

     Ist dieses Jahrbuch mit dem Fall der Mauer überflüssig geworden?
     Felix Escher: Das ist eine Frage, die Sie dem Senat von Berlin stellen sollten, der solches meinte. Ich bin der Auffassung, daß gerade heute eine überregionale wissenschaftliche Zeitschrift mit dem Sitz im Osten Deutschlands eine sehr, sehr wichtige Aufgabe hat. Sie war ein Teil der Finanzierung der Forschungsstelle der Historischen Kommission durch den Senat von Berlin. So lange ich dort tätig war, wurde die Stelle des Redakteurs im Rahmen der Historischen Kommission finanziert und auch ein Teil der Druckkosten, die nicht vom Verlag übernommen worden sind.

     Berlin und Brandenburg konnten sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner einigen, die Historische Kommission am Leben zu erhalten. Im vergangenen Jahr wurden die Forschungsstellen aufgelöst. Auch das Jahrbuch ist davon betroffen. Sie sind doppelt davon betroffen. Zum einen verloren Sie Ihre Anstellung, und zum anderen mußten und müssen Sie hautnah erleben, daß das Interesse der öffentlichen Hand an der Geschichte Berlins und Brandenburgs abnimmt. Was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen, und welche Chancen einer Gegensteuerung sehen Sie?

     Felix Escher: Die Ursachen sind sicherlich nicht monokausal zu erklären. Eine gewisse Geschichtsmüdigkeit gab es in Ost und in West. Insbesondere in Zeiten, in denen sehr viel geschieht, nimmt die Bereitschaft, sich mit der Geschichte zu beschäftigen, ab.
     Das ist ein historisches Phänomen, das man durch die Zeiten verfolgen kann. Die Historiker haben außerdem die unangenehme Eigenschaft, das Einmalige vielleicht nicht ganz so einmalig dastehen zu lassen, sondern historische Bezugspunkte zu finden, die die Einmaligkeit relativieren, was der Leser von Geschichte nicht unbedingt honoriert.

     Unter den namhaften Berlin- Historikern bilden Sie nicht nur eine Ausnahme hinsichtlich der Annäherung an die Stadt über ihr Umland, sondern auch durch eine engagierte und natürlich zeitraubende Vereinstätigkeit. Was trieb Sie dazu, die Stube des Gelehrten wenigstens zum Teil zu verlassen? Und welche Impulse erfuhren und erfahren Sie dabei für Ihre wissenschaftliche Arbeit?
     Felix Escher: Für Fragestellungen, die unakademisch sind, ist die Öffnung immer sehr gut. Die von den Fragern als naiv angesehenen Fragen sind meist die besten und weiterführenden.

     Wie vollzog sich die Arbeit der »Landesgeschichtlichen Vereinigung« während der Teilung der Stadt? Welche Möglichkeiten gab es, und wie wurden Sie vor Ort, d. h. in Ost-Berlin und im Umland, genutzt?

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     Felix Escher: Die Trennung nach 1961 konnte zunächst einmal nur durch Briefe überwunden werden. Das änderte sich mit den Ostverträgen, mit den Möglichkeiten für Westberliner, zu Tagesausflügen in den Ostteil der Stadt und in das Umland zu fahren. Und das taten wir. Wir konnten keine offiziellen Kontakte haben, aber inoffizielle Kontakte gab es auf vielen Ebenen, auch und vor allen Dingen über den Nicolai- Kreis im Kulturbund der DDR.
     Und gerade in den letzten Jahren war es für einige Mitglieder der »Landesgeschichtlichen Vereinigung« immer wieder möglich, die Veranstaltungen des Nicolai- Kreises, die damals im Klub der Kulturschaffenden »Johannes R. Becher« stattfanden, zu besuchen, d. h. der Faden riß nicht ab.
     Da offizielle Kontakte verwehrt waren, konnten wir nur, wie andere Besucher oder Benutzer auch, mitunter dann bei archäologischen Untersuchungen zusehen und die Ergebnisse sehen. Vielfach wurden uns neue Ergebnisse durch die daran interessierten Verfasser zugeschickt. Wir haben auch einige Zeitschriften, etwa die Publikationen des Uckermärkischen Kirchengeschichtsvereins, regelmäßig erhalten, so regelmäßig, daß jetzt nach der Wende die Kreisbibliothek mit unserer Hilfe die Bestände aus den 70er und 80er Jahren ergänzen kann.

     Wie haben Sie und Ihr Verein die Wende- und Nachwendezeit erlebt? Wie vollzog sich auf diesem Gebiet der Vereinigungsprozeß?

     Felix Escher: Der Verein konnte zusammengeführt werden. Wir sitzen jetzt im Marstallgebäude im Herzen der Stadt. Unsere Bibliothek konnte über den Krieg gerettet werden. Wir hatten bereits vor dem Zweiten Weltkrieg Kontakte zum Brandenburgischen Provinzialverband, im Hause des Provinzialverbandes fanden auch die Vorträge statt, und über den Provinzialverband und die dem Verband angeschlossene Feuersozietät kam unsere Bibliothek in das Gebäude der Feuersozietät. Das war vor allem feuersicher gebaut, dort überstand die Bibliothek den Krieg.

     Ihr Verein kann auf eine über 100jährige Geschichte zurückblicken. Gegründet zu einer Zeit, in der die Beschäftigung mit der Regionalgeschichte zum Selbstverständnis des immer selbstbewußter werdenden Bürgertums gehörte und nahezu Massencharakter annahm, müssen die gegenwärtig 639 Vereinsmitglieder mit ungleich bescheideneren Bedingungen fertig werden. Was tut die »Landesgeschichtliche Vereinigung« heute, um das Interesse an der Geschichte der Region aufrechtzuerhalten beziehungsweise zu wecken?
     Felix Escher: Unsere Veranstaltungen finden in 14tägigem Turnus statt. Nahezu alle Veranstaltungen werden rege besucht. Im Durchschnitt kommen etwa 40–60 Teilnehmer aus sehr unterschiedlichen Kreisen zu den einzelnen Veranstaltungen – an Wanderungen nimmt ein anderer Kreis teil als an Vorträgen, die eher kunsthistorisch oder

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historisch orientiert sind. Wir sprechen auf diese Weise ganz verschiedene Gruppen an. Auch die Leser unserer Publikationen, des Jahrbuches und der dreimal im Jahr erscheinenden Mitteilungen, sind sehr unterschiedliche Gruppen innerhalb der Vereinigung. Wir bieten also ein breites Spektrum an.

     In einem Verein, in dem Ost und West vereint sind, gibt es ja auch Streitpunkte. Wie gehen Sie damit um?
     Felix Escher: Wir haben Nachsitzungen nach Vorträgen, in denen Streitfragen geklärt werden können. Die Zuspitzung wissenschaftlicher Streitfragen unterschied die Geschichtswissenschaft in Ost und West. Ich bin ein Gegner allzu scharfer Zuspitzung. Man kann aus jedem, der eine feste Meinung besitzt, einen Ketzer machen, wenn man ihn lange genug dialektisch bearbeitet. Sicher muß man unterschiedliche Sichtweisen akzeptieren. Ich bin dafür, daß Unterschiede nicht verwischt, aber auch nicht verkrustet werden sollten.

     Berlin zählt über drei Millionen Einwohner. Trotz allem Hin und Her wird es bald Regierungssitz werden und entwickelt sich heute schon als bedeutende Drehscheibe zwischen Ost- und Westeuropa. Kaum eine andere europäische Metropole hat eine solche wechselvolle Geschichte aufzuweisen, die noch längst nicht vollständig erforscht ist, trotzdem scheinen weder Politik noch Wirtschaft ein Interesse daran zu haben, die Beschäfti-

gung mit der Geschichte zu befördern. Im Gegenteil, vorhandene Einrichtungen, wie die Forschungsstellen der Historischen Kommission bzw. Stellen an den Universitäten, fallen der Geldknappheit zum Opfer. Andere Einrichtungen erfahren kaum Förderung. Was muß geschehen?
     Felix Escher: Es stimmt, daß auch in der Forschung noch einiges zu tun ist. So ist beispielsweise Berlin älter als die schriftliche Nennung. Die Archäologen haben mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden angenäherte Daten ermittelt, die die Geschichtswissenschaft nun in größere Zusammenhänge stellen muß. Und was können wir tun? Ich bin dafür, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Sie haben mit dem Luisenstädtischen Bildungsverein eine entsprechende Plattform, die »Landesgeschichtliche Vereinigung« ist eine andere. Eine Massenbewegung für unsere ideellen Ziele wie etwa für materielle Ziele wird es kaum geben. Wir können nur das anbieten, was wir zu sagen haben. Der Charakterisierung der Berliner Geschichte als einer ganz außergewöhnlichen kann man nur zustimmen. Gerade wir und unsere Elterngeneration haben das Auf und Ab der Geschichte, das ja auch leidvoll sein kann, erleben müssen.

     Welches sind Ihre nächsten Pläne als Vorsitzender der Vereinigung und als Historiker?
     Felix Escher: Die Ziele der »Landesgeschichtlichen Vereinigung« sind seit mehr

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als 100 Jahren gegeben. Wir fühlen uns der Tradition unserer Vorgänger, Geschichte in der Stadt und im Land Brandenburg erlebbar zu machen, nach wie vor verpflichtet. Das ist allerdings nicht ganz leicht. Die neuen Medien verlangen Sensationen, die wir nicht liefern können. Sie verlangen Spektakel, wo wir eine schwierige Entwicklung darstellen wollen mit Brüchen und Kontinuitäten. Diese Medien verlangen knappe Darstellungen, die durch ihre Verkürzung auf jeden Fall falsch sein müssen.
     Wir ziehen uns deswegen aber nicht in einen Elfenbeinturm zurück. Wir wollen Geschichte in der Landschaft erkennbar machen. Das geht nur in ruhiger Anschauung, etwa in Form einer Wanderung und nicht mit einem Fünf- Minuten- Spot im Fernsehen. Die Schule weckt sicherlich das Interesse an Geschichte nicht in hoher Kultur. Da könnten wir manche Möglichkeit bieten. Die Anschauung ist ein wichtiger Zugang zur Geschichte, den pflegen wir, den direkten Weg der Anschauung ohne Medium. Wir können aber keinen Schulunterricht ersetzen. Die Schule hat auch den Grund zu legen für einen Literaturfundus, der einmal dasein muß. Ob er nun später genutzt wird, oder nicht. Die Schule hat das einzusehen, genauso ist das mit einem historischen Grundgerüst, das für die Frage »woher« und »wohin« unverzichtbar ist.
     Sie beschäftigen sich schon lange mit der Berliner und Brandenburger Geschichte. Hat das für Sie noch den Reiz der Anfangsjahre?
     Felix Escher: Sicherlich. Im Gegensatz zur historisch- dialektischen Geschichtswissenschaft, die im gewissen Sinne nur noch affirmativ tätig sein mußte, hatten wir gewisse Freiheiten. Es gab im Westen keine Thesen zur 750-Jahr- Feier Berlins, die dem Historiker die Ergebnisse seiner künftigen Tätigkeit bereits vorschrieben. Die Thesen haben die Ergebnisse, die aus der Forschung kommen sollten, vorweggenommen. Eine Erkenntnis ist nicht mehr möglich.

     Können unterschiedliche Sichten der Historiker aus Ost und West heute nicht Erkenntnisfortschritt bringen?
     Felix Escher: Probleme der slawischen und deutschen Besiedlung im Mittelalter wurden nach der Wende einmal in einem kleineren Kreis in Leipzig kontrovers diskutiert. Und ich dachte mir, wie schön wäre es gewesen, wenn wir diese Diskussion mit etwa dem gleichen Kenntnisstand in Ost und West 20 Jahre zuvor und mitten in Berlin hätten führen können.
Das Gespräch führte Hans-Jürgen Mende

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