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Joachim Hoffmann
In deinem Friedrichsfelde ruht ...

Berliner Vereinigung ehemaliger Teilnehmer am antifaschistischen Widerstand, Verfolgter des Naziregimes und Hinterbliebener (BVVdN) e. V. (Hrsg.), Berlin 1996

Zentralfriedhof Friedrichsfelde: vom einstigen Armenfriedhof zur Sozialistengedenkstätte, von der »Verbrecherecke« zum Widerstandstreff, vom Ort der Wiedergutmachung nazistischer Menschenverachtung zur letzten Ruhestätte von Wissenschaftlern, Künstlern, Geistesgrößen der europäischen Kultur, all das findet hier in Form von Fotos, speziellen Gesetzesauszügen, Lageskizzen, Personenregister sowie zahlreichen textbezogenen biographischen Angaben seine Berücksichtigung. Der Lichtenberger Historiker Dr. Joachim Hoffmann erfaßt in der Broschüre auf 100 Seiten Daten, Ereignisse und Personen, die auf der 32 Hektar großen, würdevollen Begräbnis- und Gedenkstätte ebenso willkürlich wie »geplant« ihre letzte Ruhe gefunden haben. Die Einteilung in vier zeitliche Entwicklungsetappen des Friedhofes (1881–1918; 1918–1933; 1933–1945; 1945–heute) ermöglicht dem Leser, die verwirrende Vielfalt geschichtlicher und gegenwärtiger Bezüge aufzuhellen. So werden z. B. durch die Berichte über den 12. August 1900 (S. 12 ff.) und den 25. Januar 1919 (S. 17–22) die Gründe erkennbar, warum alljährlich im Januar die Linken zu den Gräbern von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ziehen, um diese großen Persönlichkeiten zu ehren. Drei wichtige, eingeschobene »Exkurse« beschäftigen sich mit den Themen »Jüdische Vergangenheit auf deutschem Friedhof« (S. 31–33), »Steinerne Zeugen deutscher Kultur« (S. 43-50), »Der Pergolenweg – Spiegel des schweren, wider-

spruchsvollen Weges der deutschen Arbeiterbewegung in diesem Jahrhundert«. In dieser für die Forschung sowie für den Alltag nützlichen Dokumentation erscheint der 115 Jahre alte Friedrichsfelder Friedhof als ein würdiger Ort des Totengedenkens, auf dem die Spuren der Opfer der Hungerkatastrophe aus den Jahren 1916–1918 ebenso zu finden sind wie die Bombenopfer des Zweiten Weltkrieges und die Opfer des tragischen Schiffsunglücks auf der Spree im Jahre 1951. Unter den hier beerdigten 300 000 Menschen befinden sich auch die Ruhestätten für Otto Nagel und Käthe Kollwitz, sie sind die ersten und bisher einzigen Ehrengräber des Landes Berlin in Friedrichsfelde.
Joachim Pampel
Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.)
Erlebnis Geschichte. Deutschland vom Zweiten Weltkrieg bis heute

Gustav Lübbe Verlag, Bonn 1996

Das vorliegende Buch ist kein gewöhnliches Werk zur deutschen Geschichte. Es ist ein »Brennglas«, in dem sich Geist und Inhalt einer der renommiertesten und modernsten Ausstellungen zur Zeitgeschichte bündeln: des am 14. Juni 1994 eröffneten Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, das auf über 4 000 Quadratmetern ca. 7 000 Objekte ausstellt. Der Leser wird eingangs in einem ausführlichen Beitrag von Prof. Dr. Hermann Schäfer, Direktor des Hauses der Geschichte, mit der Entstehung und Konzeption der

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Bildungsstätte und damit des Buches vertraut gemacht. Die Konzeption entspricht der Ankündigung von Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung vom Oktober 1982, wonach das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland der »Geschichte unseres Staates und der geteilten Nation« gewidmet sein werde. Und bei der Eröffnung des Hauses 12 Jahre später fügte der Kanzler hinzu: »Wir müssen die Generation unserer Kinder und Enkel mit den Wurzeln unserer freiheitlichen Demokratie vertraut machen. Zugleich muß die Erinnerung an Unrecht und Terror in der SED-Diktatur wachgehalten werden.« (Zitiert nach S. 11)
     Dies ist auch der Leitfaden des opulent ausgestatteten Buches. Es will nicht neueste Ergebnisse der Geschichtsforschung oder unbekannte Dokumente vorstellen, sondern vor allem Heranwachsenden den Weg der deutschen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg als Erlebnis nahebringen. Das Buch lebt von seiner hohen Anschaulichkeit. Über 300 Fotos, darunter viele farbige und großformatige Hochglanz- Fotos sowie viele Beschreibungen des Lebensalltags vermitteln eine bildhafte und lebendige Vorstellung von der jüngeren Vergangenheit. Wer Originales aus vier Jahrzehnten deutscher Geschichte abgebildet sehen will, kommt unbedingt auf seine Kosten: etwa Original- Suchdienstkarten des Deutschen Roten Kreuzes (S. 40), eine »Trümmersteinputz- Maschine« (S. 41), Banknoten von 1948 (S. 54), einen »Rosinenbomber« von innen (S. 57), eine Geheimkamera, die am 17. Juni 1953 Fotos »schoß« (S. 92), John F. Kennedys eigenhändige Redenotizen für seine Ansprache am 26. Juni 1963 vor dem Schöneberger Rathaus mit den Kritzeln »Ich bin ein Bearleener« (S. 156), Willy Brandts handschriftliche Rücktrittserklärung von 1974 (S. 202), die Schreibmaschine des RAF- Attentäters Andreas Baader mit Bekennerschreiben (S. 214), die Stasi-Akte Vera Wollenberger (S. 229) sowie diverse Plakate und Konsumgüter aus vielen Jahren.
     Allein diese Aufzählung macht eines der Haupt-
probleme des Buches deutlich: die Unterbelichtung von DDR- Geschichte, namentlich des Alltags und der Leistungen ihrer Bewohner. Der »Durchschnitts«- Bürger der ehemaligen DDR findet sich im Buch nur unzureichend wieder. War die Ausstellung vor der Wende konzeptionell gemäß der Kanzler- Vorgabe auf die Darstellung der »Geschichte unseres [d. h. bundesdeutschen] Staates und der geteilten Nation« gerichtet, so wurde sie danach durch jenes Geschehen in der Ex-DDR verstärkt, das geeignet erschien, »die Erinnerung an Unrecht und Terror in der SED- Diktatur« wachzuhalten. Damit entstand zwangsläufig eine Schieflage, bei der das facettenreiche Alltagsleben in der DDR plakativen Verkürzungen zum Opfer fiel. Sätze wie »Die SBZ entwickelt sich zu einem Terrorstaat ...« (S. 69) setzen das ostdeutsche Gesellschaftssystem bedenkenlos dem sowjetischen gleich; die SED wird auf eine »kommunistische Kaderpartei« (S. 80) und die NVA auf eine »ideologische Armee« reduziert (S. 103); der »Literatur Ost« der Nachkriegszeit mit ihrer Weltgeltung wird zu wenig Raum gewidmet (S. 110/111); das »Leben im Sozialismus« erscheint als von SED und Staat »von der Wiege bis zum Grab« programmiert (S. 137–141); an der Kinderbetreuung ist den Autoren allein das Sandmännchen lobenswert (S. 138); das Frauenbild wird auf die Frau als Arbeitskraftreserve eingeengt (ebenda). Die Bezeichnung »Sozialstaat« bleibt so allein der Bundesrepublik vorbehalten. (S. 65) Zudem unterlaufen sachliche Fehler, wenn beispielsweise die NVA und nicht das MfS als »Schwert der Partei« ausgewiesen wird (S. 103) oder von der Verstaatlichung des Neubauernbesitzes anstatt Kollektivierung die Rede ist. (S. 68) Die Autoren unterlassen es, die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit des DDR- Sozialismus als Erklärung zu bemühen, warum sich Millionen Menschen mit dem so verstandenen »Sozialismus« identifizierten.
     Auch bei der Darstellung bundesdeutschen
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Geschehens vergangener 40 Jahre findet sich reichlich Diskussionsstoff. Obwohl in diesen Teilen mehr Bemühen um objektive Geschichtsbetrachtung erkennbar ist und beispielsweise auch viele »Schattenseiten« in allen Lebensbereichen angesprochen werden, etwa die umstrittenen Bundeswehr- Traditionen (S. 99), die Armut in der Gesellschaft (S. 146), der Bildungsnotstand (S. 185), der fragwürdige Extremistenbeschluß (S. 196) oder die Stahl-Krise (S. 209), sind doch im Buch meist Standpunkte formuliert, die dem Lager der seit 1982 regierenden Koalition zuzuordnen sind. Über viele dieser Positionen gibt es bekanntlich kontroverse Auffassungen. Sichten auf Themen wie die Spaltung Deutschlands und Berlins nebst Entstehung beider deutscher Staaten (S. 53–69) oder die DDR bringen besonders deutlich den Standpunkt der Regierungsparteien zum Ausdruck.
     Nun ist Berlin keineswegs der Nabel der Welt, aber doch der Brennpunkt deutsch- deutscher Nachkriegsgeschichte. Berlin ist als traditionelle Hauptstadt Deutschlands Sinnbild deutscher Geschichte schlechthin und überdies einzige Stadt, die Deutsches aus Ost und West in sich vereint. Keine andere Stadt bringt mit ihrer durchlebten deutsch- deutschen Geschichte fast alle Probleme der deutschen Spaltung und des gemeinsamen Neubeginns nach der Einheit zum Ausdruck als Berlin: 40 Jahre lang galt Berlin als das Symbol deutscher Einheit und war Klammer zwischen Ost und West selbst in den düstersten Tagen des Kalten Krieges. Und nach dem Ende der Spaltung Europas und seines Weges der Neuorientierung und Suche nach neuen Formen der Zusammenarbeit wird Berlin eher an Bedeutung gewinnen. Leider wird das vorliegende Buch dieser Rolle Berlins nicht gerecht. Zwar werden die markantesten Ereignisse der Berliner Nachkriegsgeschichte erwähnt, flankieren jedoch mehr als Randereignisse das »Epizentrum« deutscher Politik in Bonn. So erscheint der 8. Mai 1945 in der Hauptstadt als bloßes Sekundärereignis (S. 22), und
daß Berlin im Zweiten Weltkrieg bei 363 Luftangriffen so stark zerstört worden war wie seit Karthago keine Großstadt, ist unter »Stein-Zeit in Deutschland« überhaupt keiner Erwähnung wert. (S. 42) Probleme der Vier- Sektoren- Stadt werden nur tangiert, Heranwachsenden jedoch nicht näher erklärt, so zum Beispiel die problematische Einstellung der Tätigkeit des Alliierten Kontrollrats (S. 53) oder die fragwürdige Ausdehnung der Währungsreform auf West-Berlin (S. 54), um dann allerdings die Sowjet- Antwort in Gestalt der Berlin- Blockade weitaus mehr zu beachten. (S. 55–57) Erst mit den Viermächte- Verhandlungen über Berlin erscheint die Spreestadt wieder auf der Bildfläche (S. 199), um schließlich mit der Maueröffnung am 9. November 1989 (S. 236) und den weiteren Schritten zur Vereinigung Deutschlands und Berlins etwas mehr in den Blickpunkt zu gelangen (S. 243 f.). Die Verlagerung des Parlaments- und Regierungssitzes von Bonn nach Berlin gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 ist merkwürdigerweise gar kein Thema, obwohl das Buch die deutsche Zeitgeschichte bis 1994 erfaßt. Statt dessen widmet sich der Band am Schluß auf mehreren Seiten ausgiebig dem »Salonwagen der Bundeskanzler«, der »Gestaltung von Hausgärten« und dem Baugrund des »Hauses der Geschichte« in Bonn. »Ihr Völker der Welt ... schaut auf diese Stadt!« – sollte diese beschwörende Mahnung von Ernst Reuter (1889–1953), Regierender Bürgermeister von West-Berlin 1950 bis 1953, die er am 9. September 1948 vor einer viertel Million Berliner auf dem Platz der Republik in Berlin ausrief, nun nur noch ein Thema der Geschichte sein?
Herbert Schwenk
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© Edition Luisenstadt, 1997
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