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gen waren ausgebombt oder von Fremden belegt. Der Ruf nach Hilfe erscholl.
     Anläßlich einer feierlichen Kundgebung zu Ehren der Opfer des Faschismus am 3. Juni 1945 im Großen Sendesaal des Funkhauses in der Masurenallee gab der Stadtrat für Sozialfürsorge, Ottomar Geschke, selbst langjährig inhaftiert und auf dem Todesmarsch der Häftlinge des KZ Sachsenhausen Anfang Mai 1945 befreit, die Bildung eines Hauptausschusses »Opfer des Faschismus« bei der von ihm geleiteten Magistratsabteilung bekannt. Dem Hauptausschuß, der am 14. Juni 1945 seine Arbeit aufnahm, gehörten an: Ottomar Geschke (KPD), Dr. Andreas Hermes, Theodor Steltzer und Hildegard Staehle (sämtlich CDU), Gustav Dahrendorf (SPD), Dr. Robert Havemann (der KPD nahestehend), Dr. Hermann Landwehr, Propst Heinrich Grüber, Otto Brass (FDGB, KPD), Helene Jung und Julius Meyer (KPD, für die Jüdische Gemeinde). Leiter des Hauptausschusses (HA) war Karl Raddatz (KPD). Bei allen Sozialämtern der 20 Berliner Verwaltungsbezirke bestanden nachgeordnete Bezirksausschüsse.
     Die Haupttätigkeit lag bei der sozialen Betreung der anerkannten Opfer des Faschismus (OdF), d. h. der Soforthilfe für heimkehrende oder durchziehende ehemalige politische Häftlinge, der Versorgung der OdF mit Wohnraum, Hausrat und Kleidung sowie der gesundheitlichen Betreuung der durch langjährige Inhaftierung körperlich
Gerhard Keiderling
Vom Hauptausschuß OdF zur VVN

In keiner anderen deutschen Stadt hatte es einen solch starken, über die Jahre nach 1933 hinweg ungebrochenen und in seiner politischen Breite und sozialen Vielfalt beachtlichen Widerstand gegen die Hitler-Diktatur gegeben wie in Berlin. Dennoch war dieser Kreis aufrechter, mutiger Männer und Frauen eine Minderheit gewesen im Vergleich zu der Mehrheit der Berliner, die Hitler und seiner NSDAP zujubelten. Widerständler gab es in allen Schichten des Volkes, ihre Motive waren verschieden. Die stärkste Gegnerschaft kam aus der Arbeiterklasse: Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftler, Arbeitersportler und Arbeiterjugend. Aber auch in bürgerlichen und militärischen Kreisen, in den Kirchen und Religionsgemeinschaften, unter Künstlern und bei den verfolgten Juden widersetzte man sich dem NS-Regime vehement. Dem braunen Terror fielen Gruppen und Einzelpersonen zum Opfer, die zahlenmäßig nur geschätzt werden können.
     Als sich den Überlebenden im Frühjahr 1945 die Tore zur Freiheit öffneten, kehrten viele von ihnen nach Berlin zurück. Oft standen sie vor einem Nichts; ihre Wohnun-

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Geschwächten und Geschädigten. Schon in seiner ersten Sitzung vom 20. Mai 1945 hatte der Magistrat verfügt, die Wohnungen der Nazis den Opfern des Faschismus zur Verfügung zu stellen. Außerdem beschloß er eine einmalige Soforthilfe für die einstmaligen politischen Gefangenen in Höhe von 450 RM Geld- und Sachspenden – bis September 1945 liefen rund 360 000 RM auf einem Sonderkonto ein – ermöglichten es, Antragstellern mit Bekleidung, Wäsche, Decken, Hausrat und zusätzlichen Lebensmitteln zu helfen. Ärztliche Untersuchungen, Einweisungen in Krankenhäuser und Erholungsheime – wie Jagdschloß Sacrow bei Potsdam, Hohenneuendorf und Hermsdorf – gehörten gleichfalls zum Aufgabenbereich. Auch wurden Urnen hingerichteter Antifaschisten überführt.
     Als eine Unterabteilung des Hauptausschusses forschte ein Suchdienst nach dem Verbleib von vermißten Häftlingen aus Konzentrationslagern und Zuchthäusern. Die NS- Bürokratie hatte bis Februar 1945 Angehörige über den Tod von Inhaftierten informiert. Doch in der Endphase des Krieges, als viele KZ und Straflager evakuiert und die Insassen auf Todesmärsche geschickt wurden, kamen Tausende um und wurden ohne Registrierung in Gräben und Wäldern verscharrt. Im September 1945 wurden noch 6 488 Häftlinge gesucht, u. a. 782 Häftlinge aus Auschwitz, zurückgekehrt nur 77; 276 aus Buchenwald,
zurückgekehrt 65; 853 aus Theresienstadt, zurückgekehrt 37; 547 aus Sachsenhausen, zurückgekehrt 252, und 163 aus Litzmannstadt (Lodz), zurückgekehrt nur einer. Der Berliner Rundfunk strahlte im Sommer 1945 über 3 000 Suchmeldungen und 75 Grußmeldungen aus. Durch die Wiederaufnahme des Postbetriebes trafen täglich aus ganz Deutschland Anfragen ein.
     Eine ganz wichtige Abteilung des Hauptausschusses war der Prüfungsausschuß, über den es im Tätigkeitsbericht vom Oktober 1945 hieß: »Bei der Prüfung, wer ist Opfer des Faschismus, hat der Prüfungsausschuß die grundlegende Arbeit zu leisten, denn es wurde gleich in den ersten Tagen der Arbeit des Hauptausschusses festgestellt, daß eine ganze Reihe von Gaunern und Betrügern versuchten, in den Besitz der Vergünstigungen zu kommen. Es kamen Fälle vor, daß sogar ehemalige SS-Leute den Versuch unternahmen, sich einzuschmuggeln. Schließlich gehört zur vornehmsten Aufgabe des Prüfungsausschusses, die Reihen der Opfer des Faschismus reinzuhalten und alle jene auszuschalten, die in den Lagern und Zuchthäusern sich als Helfer der Nazis erwiesen haben. Um eine genaue Prüfung vorzunehmen, wurde ein ausführlicher Fragebogen herausgegeben. Der Ausfüller desselben muß drei Bürgen bringen und ebenfalls seinen Lebenslauf einreichen.«
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Bis Ende September 1945 gingen rund 12 000 Fragebogen ein, doch nur 2 352 Antragsteller wurden als OdF anerkannt und 7 510 als solche vorerst registriert. Im Rahmen der Abteilung für die Opfer der Nürnberger Gesetzgebung (OdN) waren im September 1946 rund 6 000 rassisch Verfolgte registriert. Für sie alle wurden Ausweise ausgestellt, rote für OdF und graue für OdN. Stadtrat Ottomar Geschke gab im September 1946 bekannt, daß sich inzwischen die Zahl der anerkannten OdF auf rund 18 500 erhöht hätte. Ausgeschlossen von der Gruppe der Opfer waren von vornherein Kriminelle und Asoziale, Zeugen Jehovas, Zigeuner und Homosexuelle. Die tonangebenden Kommunisten im Hauptausschuß bekundeten damit die für die deutsche kleinbürgerliche Vorstellungswelt typischen Ressentiments gegenüber gesellschaftlichen Rand- und Außenseitergruppen.
     Der Hauptausschuß betrieb auch eine Öffentlichkeitsarbeit, um die Bevölkerung über den antifaschistischen Widerstand und die Verbrechen des NS-Systems aufzuklären. So gab er die Broschüren »Die Toten – den Lebenden« (September 1945, Auflage 50 000) und »Im heimlichen Deutschland« (September 1946, Auflage 35 000) heraus. Im Spätsommer 1945 sprachen OdF-Kameraden in 400 Berliner Schulen zu den Jugendlichen. Höhepunkte waren die vom Hauptausschuß organisierten Gedenkkundgebungen am 9. September 1945 im Stadion
Neukölln und am 22. September 1946 im Lustgarten, jeweils begleitet von evangelischen und katholischen Gottesdiensten in mehreren Kirchen.
     Es blieb nicht aus, daß der Hauptausschuß »Opfer des Faschismus« in den Strudel politischer Querelen geriet. Von Anfang an waren der Hauptausschuß wie auch die Bezirksausschüsse eine Domäne der KPD, die diese Einrichtungen in den Dienst ihrer Politik und Propaganda stellte. Das zeigte sich vor allem im Prüfungsverfahren, wo die Kommunisten streng zwischen Widerstandskämpfern und Opfern, vor allem also Juden als »bloße Sternträger«, unterschieden und somit vielen Verfolgten aus bürgerlichen und religiösen Kreisen die Anerkennung als OdF versagten. Im Frühjahr 1946 bezog der Hauptausschuß eine klare Parteinahme für die von der KPD betriebene Vereinigung mit der SPD. Dies mißbilligte die Alliierte Kommandantur auf Veranlassung der Westalliierten; sie verfügte im März 1946 die Entlassung von Karl Raddatz als Geschäftsführer und genehmigte mit Befehl vom 18. April 1946 eine weitere Tätigkeit des Hauptausschusses nur in »Wohlfahrtsangelegenheiten« und »auf dem Gebiete rein antifaschistischer Propaganda«. Dem HA wurde verboten, »sich am internen Leben irgendwelcher politischer Parteien zu beteiligen«.
     Die SED veranlaßte im Sommer 1946 eine Umbildung des Hauptausschusses, wo-
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durch weitere Vertreter nichtkommunistischer Widerstandskreise aufgenommen wurden. Die OdF- Kundgebung am 22. September 1946 im Lustgarten wurde nicht – wie im Jahr zuvor – vorwiegend von Kommunisten bestritten. Zu den Versammelten sprachen unter anderen Aenne Saefkow für KPD/SED, Dr. Robert Havemann für die Europäische Union, Marion Gräfin York von Wartenburg für die Männer vom 20. Juli 1944, Ruthild Hahne für die »Rote Kapelle« und Werner Haberthür für den christlichen Widerstand. Dennoch kam der Hauptausschuß aus dem Kreuzfeuer der Kritik nicht heraus; es wurde ihm vorgehalten, das Prinzip der Überparteilichkeit und der »antifaschistischen Einheit« zugunsten einer Partei zu verletzen.
     Ihre blamable Niederlage bei den Berliner Oktoberwahlen 1946, die den Verlust ihrer Dominanz in der Stadtverwaltung nach sich zog, veranlaßte die SED zu einer neuen Organisation. Auf einer Delegiertenkonferenz der OdF von Groß-Berlin am 23. November 1946 erfolgte die Wahl eines Vorbereitenden Ausschusses zur Gründung einer »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes« (VVN), der unter Leitung von Dr. Hermann Landwehr stand. Während im Februar 1947 die VVN für die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) gegründet wurde, gab in Berlin die Alliierte Kommandantur erst am 20. November 1947 ihre Zustimmung für eine »Berliner Vereinigung der Verfolgten
des Nazi-Regimes«, und zwar gleichzeitig mit der Zulassung eines unabhängigen »Berliner Verbandes der Opfer der Nürnberger Gesetze«.
     So konnte sich die Berliner VVN erst am 16./17. Januar 1948 konstituieren. Zum ersten Vorsitzenden wurde Walter Bartel (SED), zu seinen Vertretern Heinz Galinski (parteilos) und Jeanette Wolff (SPD) gewählt. Im ausbrechenden Kalten Krieg zwischen Ost und West wandelte sich die VVN – in Berlin wie in der SBZ/DDR – völlig zu einem Instrument der SED, so daß Galinski und Wolff noch 1948 austraten. Schließlich wurde am 21. Februar 1953 die Organisation aufgelöst und durch ein »Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR« ersetzt.
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