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Günter Wirth
Die Kantgesellschaft – ein Forum geistiger Auseinandersetzung

1930 wurde im vierten Band der (inzwischen legendären dritten Auflage) des seinerzeit und noch heute viel benutzten Nachschlagewerks »Religion in Geschichte und Gegenwart« (RGG) unter dem Stichwort »Philosophische Gesellschaften der Gegenwart« mitgeteilt: »Im Jahr 1904 wurde beim 100. Gedächtnistag des Todes Kants in Halle a. S. die Kantgesellschaft als Mittelpunkt aller philosophischen Bestrebungen gegründet, die das Verständnis Kants und die systematische Verwertung seiner Philosophie fördern sollten. Begründer war Hans Vaihinger, der bereits 1897 (richtig muß es heißen: 1896) die Kant-Studien ... ins Leben gerufen hatte, unterstützt von B. Bauch, später von Frischeisen- Köhler, P. Menzer und A. Liebert. Der Gesellschaft kam zugute, daß die Philosophie im 20. Jhd. wieder in engere Fühlung mit dem Geistesleben trat. Infolge der eifrigen Vortragstätigkeit von Liebert wurden nach dem Kriege eine Reihe von Ortsgruppen der Gesellschaft gebildet. So überflügelte die Gesellschaft bald andere wie die seit 1843 blühende Philosophische

Gesellschaft in Berlin, die von Schülern Hegels begründet war ... Ihre Jahresversammlung wurde meist mit einem philosophischen Kongreß vereinigt.«
     In diesen lexikalisch knapp skizzierenden Bemerkungen von J. Wendland, einem bekannten protestantischen Sozialethiker, ist nicht nur die zeitgenössische Relevanz dieser philosophischen Gesellschaft gegenüber anderen (etwa auch der 1917 in Weimar begründeten Deutschen Philosophischen Gesellschaft, der Fichte- Gesellschaft oder der Schopenhauer- Gesellschaft) herausgestellt. Es wird vor allem das für das Wirken der Kantgesellschaft, zumal nach 1918/19, charakteristische Moment einleuchtend herausgearbeitet, wonach von dieser Gesellschaft ein eminenter Beitrag zur geistigen Auseinandersetzung der Zeit geleistet worden ist, und es sind in dem Lexikonartikel die beim Namen genannt, die in erster Linie hierfür verantwortlich waren, insonderheit der Berliner Philosophieprofessor Dr. Arthur Liebert. Um 1930 hatte die Gesellschaft dank vor allem des Engagements dieses Gelehrten (im Anhang findet sich eine Liste der bisher zu ermittelnden Vorträge Lieberts im Rahmen der Kantgesellschaft) fast 60 Ortsgruppen in Deutschland, in den USA, in den Niederlanden, in der CSR, in Österreich und in der Schweiz mit weit über 4 000, fast 5 000 Mitgliedern, was sie nicht nur zur größten deutschen, sondern auch zur größten internationalen
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philosophischen Gesellschaft werden ließ. (Überdies gab es in vielen Ländern bis hin nach Japan, aber selbst in der damaligen UdSSR Einzelmitglieder.)

Die führenden Köpfe im Diskurs

Wenn als signifikant für die Kantgesellschaft ihr Beitrag zur geistigen Auseinandersetzung der Zeit angesehen wird, so hieß das und hatte damit zu tun, daß sie nicht dogmatisch und pur ihre Aufgabe darin sah, der Deutung und Verbreitung der Philosophie Kants zu dienen, und sicherlich war sie alles andere als eine Gesellschaft zur Propagierung des Neukantianismus. Ihre Ausstrahlungskraft erhielt diese Gesellschaft vielmehr dadurch, daß es ihr – natürlich im Zeichen Kants und nicht ohne die Mitwirkung der wichtigsten Vertreter des Neukantianismus – gelang, die führenden Köpfe der die damalige geistige Situation prägenden philosophischen Strömungen zu gemeinsamer geistiger Arbeit, zu dem also, was man heute »Diskurs« zu nennen pflegt, zu gewinnen. In seinem nicht sehr umfangreichen, aber inhaltlich gewichtigen Buch »Die religiöse Lage der Gegenwart« (Berlin 1926) hat Paul Tillich (mit dieser Schrift die berühmte über »Die geistige Situation der Zeit« von Karl Jaspers von 1931 gleichsam intonierend), diese genaue zeitgenössische Beobachtung festgehalten: »Ein Blick auf die stark wachsende Kantgesellschaft zeigt nicht

nur die überraschend schnelle Zunahme des philosophischen Interesses, sondern auch das Verschwinden des ursprünglichen Kantianismus in den Hochburgen seiner früheren Herrschaft.« (S. 42) An gleicher Stelle bemerkte der damals in Dresden lehrende Theologe und Religionsphilosoph zum Ansatz des philosophischen Denkens von Liebert, im Grunde aber auch zu dessen Engagement für die Kantgesellschaft:
»Die Krisis der kritisch- bürgerlichen Philosophie wurde als Kulturkrisis überhaupt betrachtet.«
     Um dies hier hinzuzufügen, muß es doch wohl als sehr bezeichnend für das das traditionelle Reflektieren überschreitende Vorgehen der Kantgesellschaft angesehen werden, daß in ihren Ortsgruppen auch Themen wie: »Die ethischen Konflikte bei der Arbeitslosigkeit« (am 26. Oktober 1932 in Karlsruhe von Pfarrer Kappes, einem badischen religiösen Sozialisten) gehalten werden konnten, und in den »Kant-Studien« des Jahrgangs 1925 schrieb der sozialen Strömungen im Katholizismus nahestehende Privatgelehrte Leopold Ziegler einen Aufsatz über »Wert und Arbeit«, der – auch in kritischer Auseinandersetzung mit Marx und Lenin (ja, sogar mit »dessen Mitarbeiter J. Stalin« – 1925!) – in dieser Feststellung gipfelte: »Unser Menschliches ging an die Wirtschaft verloren. Die Wirtschaft aber gedieh zu jener vollendeten Unmenschlichkeit, welche unsere Gattung heute zu vernichten
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droht.« (Kant-Studien, 30. Band, S. 436) Auch die Bemühungen der Kantgesellschaft, den Philosophieunterricht an den höheren Schulen in Deutschland zu verbessern und in den nachwachsenden Generationen philosophisches Interesse zu inspirieren, dürften nicht übersehen werden: Hierbei spielte der damalige Potsdamer Oberschulrat Lic. Dr. Wilhelm Hartke eine entscheidende Rolle, Hartke, der nach 1945 mit Wilhelm Heise und Heinrich Deiters zu den theoretischen Köpfen der Schulreform in der SBZ gehörte.
     Generell gilt wohl, daß es der Kantgesellschaft gelang, nicht allein in Zentren des geistigen Lebens (also in Universitätsstädten), sondern auch in der sogenannten »Provinz« (nicht zuletzt in »Ostelbien«) Fuß zu fassen und die Kreise anzusprechen, die man gewöhnlich mit dem nach 1933, aber auch (auf andere Weise) nach 1945 obsolet gewordenen Begriff des Bildungsbürgertums erfaßt. Genau diese sozial differenzierten Schichten (im Gefolge des Ersten Weltkriegs proletarisierte wie mittelständische) waren es aber, die offen dafür waren, unterschiedlichen Strömungen, einem Pluralismus philosophischer Anschauungen innerhalb der Kantgesellschaft zu begegnen.

Wichtiges Wirken jüdischer Gelehrter

So fand man denn unter den Rednern in den Veranstaltungen der Ortsgruppen oder bei anderen, von der Kantgesellschaft ver-

antworteten Gelegenheiten, insbesondere auf den regelmäßig im Frühjahr in der Nähe des Kant- Geburtstags in Halle an der Saale stattfindenden repräsentativen Jahresversammlungen, so unterschiedliche, ja gegensätzliche Positionen vertretende Persönlichkeiten wie Max Scheler und Nicolai Hartmann, Martin Heidegger und Hans Driesch, Richard Kroner und Max Horkheimer; der zuletzt genannte, spätere Hauptvertreter der »Frankfurter Schule« wurde als junger Privatdozent Nachfolger des früh verstorbenen, im katholischen Milieu zu ortenden Max Scheler als Vorsitzender der Frankfurter Ortsgruppe, in der Zeit seines dortigen Wirkens auch der schon erwähnte Paul Tillich agierte. Mit Paul Tillich finden wir u. a. Karl Barth, dessen Bruder Heinrich Barth (einen Baseler Philosophieprofessor), den religiösen Sozialisten Georg Wünsch, den eher konservativen Religionsphilosophen Georg Wobbermin, den gleichgesinnten Berliner Kirchenhistoriker Erich Seeberg, den Sozialpolitiker und damals berühmten Evangelisationsprediger Paul Le Seur und nicht zuletzt Albert Schweitzer unter den protestantischen Protagonisten der Kantgesellschaft. Der Jesuit Erich Przywara, der philosophisch interessierte Bonner Theologieprofessor Johannes Hessen, der Frankfurter Universitätsprofessor und Zentrumsabgeordnete im Reichstag Friedrich Dessauer und der als ständiger Gast an der Berliner Universität lehrende
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Romano Guardini, später als wohl bedeutendster deutscher katholischer Theologe in diesem Jahrhundert angesehen, seien als katholische Persönlichkeiten genannt, für die die Kantgesellschaft ein Forum der geistigen Auseinandersetzung war. Besonders wichtig ist zeitgenössisch wie aus heutiger Sicht die Tatsache, daß früh, vor allem aber nach 1918, jüdische Gelehrte, Intellektuelle und Rabbiner in diese Gesellschaft fanden, viele von ihnen bewußt unter der Fahne des von ihnen verehrten Kant. So entdecken wir in den Mitgliederlisten bzw. unter den Rednern Albert Einstein wie Martin Buber, Leo Baeck, den wohl bedeutendsten deutschen Rabbiner der ersten Jahrhunderthälfte, der das KZ Theresienstadt überlebte (vgl. Dorothea Körner, in: BM 4/95), wie Victor Klemperer, der etwa 1930 in Erfurt über Bergson sprach. Um dies noch besonders herauszustellen und damit deutlich zu machen, wie es der Kantgesellschaft gelang, unterschiedliche Generationen zu inspirieren: Um 1930 traten in der Kantstadt Königsberg in die dortige Ortsgruppe ein: Hannah Arendt (vgl. Norbert Kapferer, in: BM 12/95) – ich brauche sie nicht vorzustellen – und Ernst Grumach; Grumach, der ein bedeutender Philologe und Goetheforscher werden sollte und nach seiner »Entpflichtung« an der Berliner Universität Dozent an der Berliner Lehrstätte für die Wissenschaft des Judentums wurde (der letzte zusammen mit Leo Baeck). Allein die Tatsache einer sogenannten »privilegierten Ehe« ermöglichte sein Überleben; nach 1945 wirkte er bis Ende der 50er Jahre an der Humboldt- Universität und an der Akademie der Wissenschaften.
     In der Kantgesellschaft hatten freilich auch Linke ihren Platz. Jürgen Kuczynski gehörte schon als Student zu ihr und hat ihr in seinem ersten Memoirenband eine eingehende positive Würdigung zuteil werden lassen. Josef Winternitz, ein marxistischer Ökonom, schrieb Rezensionen für die »Kant-Studien«, und Alfred Meusel gehörte in Aachen zu den führenden Mitgliedern der dortigen Ortsgruppe.
     Umgekehrt findet man in den in den »Kant-Studien« regelmäßig mitgeteilten Mitgliederlisten kaum jemanden, der NS-Positionen vertreten hätte (mir ist allein der Pädagoge Ernst Krieck in Erinnerung geblieben), wenn sich auch manche Mitglieder und leitende Persönlichkeiten nach 1933 opportunistisch verhielten. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß die Kantgesellschaft nach 1933 einerseits ziemlich rasch in eine krisenhafte Situation derart geriet, daß sie Hunderte, ja Tausende von Mitgliedern verlor (1936 hatte sie karteimäßig noch 1284 erfaßt), vor allem aber eine Reihe ihrer führenden Persönlichkeiten, mit Arthur Liebert an der Spitze. Andererseits bildeten die noch bis 1936/38 bestehenden Ortsgruppen trotz ihrer Anpassung durchaus Refugien für nonkonformistische
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bildungsbürgerliche Schichten zumal aus dem konfessionellen Umfeld; ich habe dies etwa für die Potsdamer Ortsgruppe nachweisen können, in der so wichtige Schriftsteller der inneren Emigration wie Hermann Kasack und Peter Huchel letzte Möglichkeiten halböffentlicher Auftritte hatten.
     Um das weitere Schicksal der Kantgesellschaft nach 1933 verstehen zu können, müßten an dieser Stelle wenigstens einige Anmerkungen zu Lieberts Biographie gemacht werden, war er es doch gewesen, der das Werk des Initiators der »Kant-Studien« (1896/97) und der Kantgesellschaft (1904), des Hallenser Universitätslehrers Hans Vaihinger (bekannt als der Philosoph des »Als ob«), auf eigene Weise fortgesetzt und dabei auch in den Spuren seines Lehrers Wilhelm Dilthey gestanden hatte. Im Archiv der ehemals Preußischen Akademie der Wissenschaften habe ich Briefe Diltheys an den damals jungen Liebert gefunden, aus denen hervorgeht, daß letzterer mit Hilfsarbeiten an der mit Diltheys Namen verbundenen Kant-Ausgabe im Rahmen der Akademie beteiligt war. Liebert, 1878 geboren, stammte aus einer mittelständischen jüdischen Familie Levy (den Namen Liebert nahm er später an), und erst auf Umwegen kam er zu seinen dann allerdings umfassenden Studien, und wiederum auf Umwegen zu einer Dozentur an der Berliner Handelshochschule, um 1925 überdies nichtbeamte-
ter außerordentlicher Professor an der Friedrich- Wilhelms- Universität zu werden. Vom 5. September 1933 ist seine Zwangsemeritierung datiert, unterzeichnet von Wilhelm Stuckart, dem späteren Kommentator der »Nürnberger Gesetze«. Liebert emigrierte alsbald nach Belgrad, wo er Pädagogik lehrte, ging 1939 nach England (Birmingham) und kehrte Mitte August 1946 nach Berlin zurück. Mit dem Datum des 3. September 1946 (fast auf den Tag 13 Jahre nach der »Emeritierung«) wird er an die Berliner Universität zurückgerufen; wenige Tage später erhält er die Berufung zum Dekan der Pädagogischen Fakultät. Dekan der Philosophischen Fakultät ist der Historiker Alfred Meusel, den Liebert womöglich aus der Kantgesellschaft kannte, bestimmt aber aus der Zeit der englischen Emigration, wo beide im Freien Deutschen Kulturbund wirkten. Am 5. November 1946, wenige Tage vor seinem 68. Geburtstag, starb Liebert.

Krise durch den Weggang Lieberts

1933 war die Kantgesellschaft, wir hatten es angedeutet, in eine Krise geraten, dies objektiv als Folge des auf sie ausgeübten Drucks zur »Gleichschaltung« und insbesondere zur Ausgrenzung des »jüdischen Einflusses«, subjektiv durch den Weggang Lieberts. Sie wurde mühsam aufzuhalten versucht durch den Hallenser Ordinarius Paul Menzer, der seine Bemühungen indes

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auch alsbald aufgeben mußte. Bis zu ihrer Auflösung 1936 bis 1938 wurde sie zum Spielball verschiedener nationalsozialistischer kulturpolitischer Institutionen, die um 1941/42 – um es hier wenigstens am Rande erwähnt zu haben – noch einmal eine Regeneration der Kantgesellschaft bzw. der »Kant-Studien« im Zeichen der NS-Europa- Ideologie zu bewirken versuchten, freilich vergeblich.
     Der rasante Niedergang der Kantgesellschaft Mitte der 30er Jahre in Deutschland hatte nun allerdings eine Ursache, die George Leaman und Gerd Simon in ihrer Studie »Die Kant-Studien im Dritten Reich« (Kant-Studien, Berlin/New York bzw. Mainz, Heft 4/1994, 85. Jahrgang, S. 443 ff.) aktenmäßig belegen können, ohne allerdings der Sache selbst im Detail nachzugehen: 1936 nämlich begründete Liebert in Belgrad eine Gesellschaft »Philosophia« mit einer gleichnamigen Zeitschrift, deren Charakter und Erscheinung die Züge der alten Kantgesellschaft trug. Trotz der Schwierigkeiten, die für einen deutschen jüdischen Gelehrten im (fremdsprachigen!) Exil (Druckerei etc.!) existierten, gelang es Liebert, über die Grenzen der seinerzeitigen politisch- geistigen Fronten hinweg humanistische Gelehrte in allen Teilen der Welt, unter ihnen viele deutsche Emigranten, zu sammeln. Sogar reichsdeutsche Bürger, damals noch in Deutschland lebende Juden wie etwa Edmund Husserl, aber nicht nur sie, ließen ihre
Namen als die von Mitgliedern der Gesellschaft »Philosophia« in deren Zeitschrift drucken, so der Erfurter Studienrat Dr. Hans Wiedemann, in den 50er Jahren CDU- Oberbürgermeister von Weimar, Oberstudiendirektor Prof. Dr. Kühner, Eisenach, 1946 liberaldemokratisches Mitglied des Thüringer Landtags, oder Studienrat Döring, ein katholischer Lehrer in Potsdam. Die Gesellschaft und deren Zeitschrift existierten bis 1939, und das von ihnen bereitgestellte Material signalisierte in überaus eindrucksvoller Weise eine eindeutig antinazistische Orientierung im Umfeld eines Pluralismus humanistischer geistiger und religiöser Strömungen.
     Solcher Haltung blieb Liebert auch in England treu, ohne daß er dort die Möglichkeit gehabt hätte, die Tätigkeit der Kantgesellschaft oder der »Philosophia« fortzusetzen. In seinen Veröffentlichungen um 1944/45 kündigte er aber die baldige Wiederaufnahme der Tätigkeit der Kantgesellschaft nach dem Sieg der Alliierten an. Mit solchen Überlegungen im Gepäck kam er dann auch nach Berlin, wo er auf alte Freunde der Kantgesellschaft traf – auf Meusel, Hartke und Deiters hatte ich schon hingewiesen; es traten der Philosophieprofessor Paul Hofmann, Mitbegründer des Kulturbundes und erster »Quartierwirt« des Remigranten Liebert, der Soziologieprofessor Alfred Vierkandt (auch er in den Mitgliederlisten der »Philosophia«!) und die
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Witwe des früheren Rektors der Handelshochschule, des Soziologen Franz Eulenburg, hinzu.
     Wie weit Liebert in den kaum zwölf Wochen, die ihm noch in Berlin vergönnt waren, mit der Verwirklichung seines Planes, die Tätigkeit der Kantgesellschaft wieder oder neu aufzunehmen, gekommen ist, läßt sich (jedenfalls bis jetzt) nicht aus den Akten rekonstruieren – er hatte ja auch kaum Zeit: Er mußte die Pädagogische Fakultät aufbauen, das Dekanat wahrnehmen, und er bereitete Vorlesungen (sein Testament!) über das Problem der Wahrheit vor.
     Mitte 1947 jedoch wird in Berlin bekannt, daß innerhalb des Kulturbundes eine Philosophische Gesellschaft begründet worden ist, die in Klammern den Zusatz Kantgesellschaft erhalten hatte und damit an die beiden von Liebert inspirierten Gesellschaften, eben die Kantgesellschaft und die »Philosophia«, erinnerte und zugleich anknüpfte. Im November 1947 trat sie mit einer spektakulären Veranstaltung in Erscheinung, auf der der damals noch in Jena (ein Jahr später an der FU) lehrende Philosoph Hans Leisegang, von den Nazis entlassener Hochschullehrer mit vielen Verbindungen zur alten Kantgesellschaft, über Marx und Kierkegaard sprach, von Professor Vierkandt eingeführt. Das Aufgreifen eines solchen Themas – es war dies nicht nur der formalen Anknüpfung an die Kantgesellschaft ver-
pflichtet, sondern der substantiellen, im Sinne von Lieberts Eingreifen in die geistige Auseinandersetzung der jeweiligen Zeit.
     Anfang Februar 1948 verbreitete ADN (hier zitiert nach: Märkische Union, Potsdam, vom 10. Februar 1948) eine Meldung, in der es u. a. heißt: »Die >Philosophische Gesellschaft zu Berlin<, deren Vorstand Prof. Dr. Alfred Vierkandt als erster Vorsitzender, Prof. Dr. Deiters als zweiter Vorsitzender angehören, wird die Werbung von Mitgliedern auch auf das Ausland, namentlich unter den Freunden Arthur Lieberts, des verstorbenen Vorsitzenden der früheren Kant- Gesellschaft, ausdehnen.«
     Zum Vorstand gehörten ferner u. a. Prof. Dr. Alfred Werner, ein protestantisch orientierter Kulturphilosoph, Gertrud Eulenburg, Dr. Ilse Tönnies, aus der Familie von Ferdinand Tönnies, sowie Dr. Paul Feldkeller, Potsdam- Wilhelmshorst, der sich als Publizist um die Behandlung philosophischer Themen verdient gemacht hatte.
     Noch 1948 wurde ein Statut vorbereitet, es wurden weitere Veranstaltungen, etwa mit Prof. Dr. Liselotte Richter, der Berliner Leibniz- Forscherin, durchgeführt, und 1949 begannen die in der ADN-Meldung schon angekündigten »Philosophischen Studien« bei de Gruyter zu erscheinen.
     Das war dann aber schon ein anderes Kapitel, ein gleichsam »Westberliner«, jedenfalls eines, das nichts mehr mit dem Kulturbund und der SBZ zu tun hatte. Aber auch
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noch nicht mit der Wiederbegründung der Kantgesellschaft in der alten Bundesrepublik, die mit der Wiederaufnahme der Edition der »Kant-Studien« 1954 begann; deren Analyse ist freilich nicht Gegenstand dieser vor allem Arthur Liebert gewidmeten Untersuchung.

Vorträge Arthur Lieberts in Ortsgruppen der Kantgesellschaft 1918–1933

     1. 2. 1918, Berlin
Rede auf Adolf Lasson
     26. 3. 1918, Nürnberg
Unsere Zeit und die Philosophie – 1. Grundzüge der gegenwärtigen Kultur
     27. 3. 1918, Nürnberg
2. Grundzüge der philosophischen Weltanschauung unserer Zeit
     11. 10. 1918, Berlin
Strindbergs Geschichtsphilosophie und ihre Beziehung zu seiner Kunst
     19. 10. 1918, Danzig
Unsere Zeit und die Philosophie – 1. Grundzüge der gegenwärtigen Kultur
     20. 10. 1918, Danzig
2. Grundzüge der philosophischen Weltanschauung unserer Zeit
     18. 10. 1919, Stuttgart (Gründung)
Die Philosophie im Geistesleben der Gegenwart
     5. 3. 1920, Berlin
Fortbildung und Zukunftsaufgaben des Neukantianismus

     11. 10. 1920, Basel
Das Problem der Wahrheit
     16. 10. 1920, Karlsruhe
August Strindberg und seine Weltanschauung
     Febr. 1921, Dresden
Die gegenwärtige Lage der Philosophie
     1. 10. 1921, Meersburg (Gründung)
Die Philosophie im Geistesleben der Gegenwart
     3. 10. 1921, Meersburg
Der Begriff der Philosophie
     16. 10. 1921, Karlsruhe
Die Krisis im Geistesleben der Gegenwart
     1921, Konstanz (Gründung)
Die geistige Krisis der Gegenwart
     1921, Hannover (Gründung)
Die geistige Krisis der Gegenwart
     1921, Heidelberg (Gründung)
(nicht ermittelt)
     13. 6. 1922, Erlangen
Die geistige Krisis der Gegenwart
     16. 10. 1922, Karlsruhe
Nietzsche und das Problem der Gegenwart
     1922, Hannover
Nietzsche und das Problem der Gegenwart
     10. 2. 1923, Magdeburg
Die Philosophie im Geistesleben der Gegenwart
     6. 10. 1923, Plauen i. V. (Gründung)
Die geistige Krisis der Gegenwart
     1923, Erfurt (Gründung)
Thomas von Aquino und Kant (wahrscheinlich)
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     8. 3. 1924, Dortmund
Die geistige Krisis der Gegenwart
     22. 4. 1924, Hagen i. W. (Gründung)
Kant und die geistige Krisis der Gegenwart
     31. 5. 1924, Rostock
Kant und die geschichtliche Weltsicht
     17. 10. 1924, Plauen i. V.
Kants Bedeutung für die Gegenwart
     22. 10. 1924, Detmold (Gründung)
Kant und die geistige Krisis der Gegenwart
     25. 10. 1924, Minden i. W.
Strindberg, seine Weltanschauung und Kunst
     1924, Hannover
Dogma und Kritik
     16. 10. 1925, Hagen i. W.
August Strindberg, sein Leben und seine Kunst
     17. 10. 1925, Minden i. W.
Die geistige Krisis der Gegenwart
     14. 11. 1925, Rostock
Dogma und Kritik
     16. 10. 1926, Minden i. W.
Vom ewigen Kampf um das Ewige
     20. 11. 1926, Breslau (Gründung)
Die geistige Krisis der Gegenwart
     11. 2. 1927, Halberstadt
Die geistige Krisis der Gegenwart
     29. 10. 1927, Prag (Gründung)
Die geistige Krisis der Gegenwart
     Febr. 1928, Magdeburg
Die religiöse Krisis der Gegenwart
     5. 3. 1928, Minden i. W.
Mythus und Kultur
     10. 3. 1928, Hagen i. W.
Kultur und Mythus
     13. 6. 1928, Berlin
Thomas von Aquino und Kant
     26. 10. 1928, Bochum (Gründung)
Die Erneuerung der Philosophie der Gegenwart
     1928/29, Hannover
Die geistige Krisis der Gegenwart und das Problem der Bildung
     4. 3. 1929, Magdeburg
Das sittliche Urerlebnis
     12. 3. 1929, Karlsruhe
Mythus und Kultur
     14. 3. 1929, Pforzheim (Gründung)
Die religiöse Krisis der Gegenwart
     16. 3. 1929, Stuttgart
Die neue Dialektik
     März 1929, Erfurt
Mythus und Kultur
     Anfang März 1929, Eisenach
Die Wiedererneuerung in der Philosophie der Gegenwart
     Herbst 1929, Saarbrücken
(nicht ermittelt)
     28. 10. 1929, Bochum
August Strindberg, seine Weltanschauung und seine Kunst
     13. 12. 1929, Hannover
Neue Strömungen in der Philosophie der Gegenwart
     14. 12. 1929, Braunschweig, (Gründung)
Die Erneuerung der Philosophie der Gegenwart
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     15. 2. 1930, Aachen
Die Erneuerung der Dialektik in der Philosophie der Gegenwart
     11. 10. 1930, Kaiserslautern
Möglichkeit und Wert der Philosophie in der Gegenwart
     15. 11. 1930, Stettin (Gründung)
Die Stellung der Philosophie im Geistesleben der Gegenwart
     1930/31, Wuppertal
Sinn der Geschichte
     4. 3. 1931, Hannover
Hauptprobleme des gegenwärtigen Geisteslebens
     14. 11. 1931, Dessau, (Gründung)
Hauptprobleme des gegenwärtigen Geisteslebens
     20. 2. 1932, Köthen
Die geistige Krisis der Gegenwart. Die religiöse Krisis der Gegenwart
     3. 3. 1932, Magdeburg
Die Vollendung unserer klassischen Philosophie
     23. 4. 1932, Berlin (mit anderen)
(Debattenrede zu: Wolfgang Köhler, Wesen und Tatsachen)
     28. 11. 1932, Potsdam
Hegel als Vollender des klassischen Idealismus
     1932/33, Halle (Saale)
Die Wendung in der deutschen Philosophie der Gegenwart
Damit sind 64 Vorträge zwischen 1918 und Anfang 1933 nachgewiesen, ausgehend von der »Basis« der von Liebert geleiteten Ortsgruppe Berlin, deren Vorträge durchnumeriert und zumeist in Sonderheften der »Kant-Studien« publiziert wurden. Dabei handelt es sich um Vorträge in vielen deutschen Universitätsstädten und zwei ausländischen (Basel, Prag) sowie in Städten mit Technischen Hochschulen (etwa Hannover, Karlsruhe, Dresden), vor allem aber um mittlere Städte mit einem offensichtlich relativ starken Bildungsbürgertum (Eisenach, Halberstadt, Plauen sowie rheinisch- westfälisches Umfeld und Bodensee). Wie sich aus dieser Aufstellung ergibt, muß Lieberts letzter Vortrag in der Kantgesellschaft in Deutschland in Halle an der Saale, also am Gründungsort, gehalten worden sein – und mit seinem Thema konnte er allerdings jene »Wende« weder gemeint noch vorausgesehen haben, die sich nach 1933 ergab.
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© Edition Luisenstadt, 1997
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