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Ingrid Utech
Bauplatz Rummelsburger Bucht

Eine »Städtische Landschaft« in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Ältere Berliner erinnern sich noch an den Stralauer Fischzug, der Volksfestcharakter gewann und bis zu 50 000 Besucher zählte, die auf Booten und in diversen Lokalitäten ausgelassen feierten. Andere bewunderten die malerische Stralauer Kirche von der Treptower Seite her oder haben noch den Geschmack des Engelhardt- Bieres auf dem Gaumen. All das kann jetzt in einer sehenswerten Ausstellung unter dem Titel »Städtische Landschaft Rummelsburger Bucht« nachempfunden werden. Auf Initiative der »Entwicklungsträgergesellschaft Rummelsburger Bucht mbH« (ERB) wurde sie im August 1996 in der Turnhalle des alten Schulgebäudes, Alt Stralau 34, eröffnet. Sie gibt einen Überblick über Geschichte und Zukunft dieses Gebietes. Die Ausstellung, als Dauerausstellung während der Baumaßnahmen konzipiert, wird bis Ende August in der Schule gezeigt. Wo sie nach den dort beginnenden Rekonstruktionsmaßnahmen zu se-

hen sein wird, war bei Redaktionsschluß noch unklar.
     Zunächst wird ein Abriß der wichtigsten Industriestandorte des Gebietes aus Vergangenheit und Gegenwart gezeigt, sodann vermittelt das Modell die Vision des zukünftigen Aussehens der Halbinsel. Der Ausstellungsbesucher erfährt, daß Stralau und Rummelsburg, im 13. und 14. Jahrhundert erstmals erwähnt, 1920 in die Stadt Berlin eingemeindet wurden. Aber die Ansiedlung von Industrieunternehmen begann bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts und ist weitestgehend auf die günstige Verkehrslage zurückzuführen. Nicht nur die Wassernähe, sondern auch die Entwicklung der Eisenbahn haben daran maßgeblichen Anteil. 1867 war am heutigen Bahnhof Ostkreuz bereits ein Haltepunkt der niederschlesischen Eisenbahn, 1871 entstand dort die Ringbahnstation Stralau- Rummelsburg, die dann 1899 bis 1901 als Vollringstation Stralau- Rummelsburg ausgebaut und 1933 in Ostkreuz umbenannt wurde.
     Vorgestellt werden die bekanntesten Industrieunternehmen, die im Bereich der Rummelsburger Bucht angesiedelt waren. Spratt's Hundekuchenfabrik wurde 1862 gegründet und war bis 1972 unter diesem Namen tätig; danach bestand das Unternehmen als volkseigener Betrieb für Futtermittel, bis 1991 die Produktion gänzlich eingestellt wurde.
     1867 wurde die Gesellschaft für Anilinfa-
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brikation gegründet, die 1905 mit der BASF, Bayer und Agfa vereinigt wurde und 1916 in die erweiterte IG Farben übernommen wurde. Hier wurde 1938 von Paul Schlack das Perlon entwickelt. 1887 wurde die Engelhardt Brauerei gegründet, die mit dem Kauf der Victoria- Brauerei auf der Halbinsel Stralau 1917 einen großen wirtschaftlichen Aufschwung nahm. 1933 fiel auch dieser Betrieb der Arisierung anheim, und der jüdische Geschäftsführer Ignatz Nacher wurde entlassen. In Ost-Berlin stärkste Brauerei, erfolgte 1991 dennoch die Schließung.
     Die 1889 gegründeten Stralauer Glaswerke, die bereits 1909 mit der ersten Owens- Maschine Hohlglas produzierten, entwickelten sich auch nach dem Kriege erfolgreich weiter. 1990 wurde dann die Stralauer Glashütte GmbH gegründet, die ein Jahr später von den Nienburger Glaswerken übernommen wurde. Die Produktion am Gründungsort wurde schließlich Ende 1996 eingestellt, nachdem ein neues Glaswerk in Neuenhagen bei Berlin entstanden war. Für die weitere Nutzung der zum Teil unter Denkmalschutz stehenden Gebäude gibt es noch kein Konzept.
     Einer der wenigen Betriebe, die noch heute bestehen, ist die 1911 an der Cöpenicker Chaussee gegründete Hansa-Werft. Durch den Bau des Kraftwerkes Klingenberg wurde sie auf die Halbinsel Stralau verlegt und 1943 bei einem Bombenangriff völlig zerstört. 1947 wurde mit dem Wiederaufbau
begonnen und 1955 konnte die erste Kiellegung einer Motoryacht erfolgen. Mit einer Änderung des Profils konnte der Betrieb als Hansa-Werft und Yacht und Schiffsausrüstung Thomas bis heute erfolgreich weiter bestehen.
     Eines der größten und bis heute auch bedeutendsten Industrieunternehmen des Gebietes ist das Kraftwerk Klingenberg. Vor 70 Jahren in Betrieb genommen, versorgt es heute 150 000 Haushalte mit Strom.
     Aber nicht nur Industrie war im Bereich der Rummelsburger Bucht angesiedelt. Auf dem der Stadt gehörenden Territorium wurden auch wichtige kommunale Einrichtungen gebaut. So entstand hier 1854 u. a. das Friedrichs- Waisenhaus der Stadt Berlin, ein großzügiges Domizil für 500 Waisenkinder, die hier in idealer Lage bei großer Strenge erzogen wurden. Die letzten beiden Häuser des 1949 aufgelösten Waisenheimes stehen jetzt unter Denkmalschutz.
     1877 bis 1879 wurde nach Plänen des Stadtbaurates Hermann Blankenstein das Arbeitshaus, die spätere Haftanstalt Rummelsburg, gebaut. Während das Verwaltungsgebäude in der Mitte der Straßenfront farbige Terrakotta- Ornamente aufweist und mit dem Berliner Wappen gekrönt wurde, sind die eigentlichen Verwahrungshäuser für die Gefangenen im rückwärtigen Teil des Grundstücks schmucklos und einfach. Im Rahmen der eingeführten Arbeitspflicht für die Gefangenen wurden ab 1971 Werk-
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stätten diverser Betriebe auf dem Gelände eingerichtet. Im Januar 1990 saß der Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, hier in Untersuchungshaft, während im Oktober 1990 die Schließung des Gefängnisses erfolgte.
     Nun, nach dem Überblick über die Vergangenheit, kann sich der Betrachter mit besserem Verständnis ganz den Entwürfen und Planungen der Architekten für den Entwicklungsbereich Rummelsburger Bucht widmen. Das ausgestellte Modell vermittelt einen sehr guten Eindruck über das Gesamtkonzept, das durch den Architekten Theo Brenner und den Landschaftsplaner Karl Thomanek geschaffen wurde. So wurden denkmalgeschützte Altbauten, vorhandene und geplante Grünflächen ebenso wie die Industrieflächen mit den Neuplanungen von Wohn- und Industriebauten in Einklang gebracht.
     Das Gebiet Rummelsburger Bucht wird in zwei große Bauabschnitte geteilt; auf der Lichtenberger Seite im Norden des Rummelsburger Sees das Quartier Rummelsburg und auf der Treptower Seite das Quartier Stralau. Beide Entwicklungsgebiete sind in ihrer Bebauung deutlich zum Wasser ausgerichtet, in Rummelsburg durch offene Hofgärten und in Stralau durch senkrechte Bebauung zur Uferkante.
     Bereits im August 1997 sollen in unmittelbarer Nähe eines historischen Speichergebäudes auf der Insel Stralau die ersten 450
Wohnungen übergeben werden, und damit wird ein zweiter wichtiger Aspekt des Bebauungskonzeptes deutlich, nämlich die Einbeziehung noch vorhandener historischer Gebäude in die Gesamtgestaltung.
     Dieses Vorhaben wird ganz sicher in besonderer Weise das Bild des neuen Stadtteiles mitbestimmen, denn der Sanierung dieser Bausubstanzen wird eine besondere Bedeutung zukommen.
     Auf der Lichtenberger Seite der Rummelsburger Bucht soll nun in den nächsten Jahren wieder ein attraktives Quartier für Arbeit und Wohnen entstehen. Etwa 2 000 Wohnungen werden hier gebaut, und auch Flächen für Dienstleistung und Gewerbe sind geplant. Bei allen Vorhaben steht auch hier die Einbeziehung historischer Bauten mit im Vordergrund. So werden die Knabenhäuser des denkmalgeschützten Friedrichs- Waisenhauses den Mittelpunkt eines großzügigen Platzes bilden und das ehemalige städtische Arbeitshaus, das später als Justizvollzugsanstalt genutzt wurde, soll ab 1999 umgebaut werden und den Berliner Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeiten ein neues Domizil sein.
     Eine günstige Voraussetzung für die städtebauliche Entwicklung ist die Tatsache, daß die ERB als Gesellschafter mit dem Land Berlin und der Berliner Landesbank eine optimale Planungssicherheit gewährleisten kann, da alle Bauherren verpflichtet werden, innerhalb kürzester Frist
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und nach abgestimmter Planung zu bauen, wobei den Investoren bei der Abstimmung mit Behörden und Bezirken große Unterstützung zukommt. In jedem Falle ist die Anpassung an die alte Berliner Bauhöhe von 21 Metern bis Regenrinne, das heißt heute maximal fünf Geschosse, einzuhalten. Diese Festlegung gilt sowohl für die Wohnbauten der Insel Stralau, als auch für die am Rummelsburger See geplanten Neubauten.
     Insgesamt sollen bis zum Jahr 2006 schrittweise etwa 5 000 Wohnungen gebaut werden, teils als Eigentumswohnungen, aber auch mit Hilfe öffentlicher Fördermittel. Die Vielseitigkeit der Baufinanzierung soll gewährleisten, daß hier Menschen der unterschiedlichsten Einkommensgruppen zusammenleben können. Dafür sind auch eine Vielzahl öffentlicher Einrichtungen, wie Kitas, Schulen, Sport- und Spielflächen, Seniorenheim und Behindertenwohnheim geplant. Aber auch der Bau eines fünf Kilometer langen Uferwanderweges und die Erweiterung der öffentlichen Parks sind vorgesehen.
     Die Ausstellung zeigt auf interessante Weise Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Gebietes Rummelsburger Bucht. Die Mitarbeiter der ERB sind auf »Spurensuche« nach bewahrenswerten Erinnerungen. So wurde ein Treffen ehemaliger und heutiger Bewohner organisiert, die viele detaillierte Informationen für die Gestalter der Ausstellung brachten.
     Wenn man zum jetzigen Zeitpunkt über die Insel Stralau läuft, kann man sich nur schwer vorstellen, daß dieses Areal einmal so attraktiv werden soll. Der Besuch der Ausstellung vermittelt lebhaft vorstellbare Visionen von der Zukunft, die bereits begonnen hat. Gegenwärtig gibt es nur noch 300 Bewohner in Stralau – 15 000 Berliner sollen es im nächsten Jahrtausend werden.
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© Edition Luisenstadt, 1997
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