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Klaus Goebel
»Ich kenne kein herrlicheres Amt als das Lehramt«

Zur Vorbereitung einer dreibändigen Ausgabe der Briefe Adolph Diesterwegs

In den zwischen 1956 und 1990 in der DDR erschienenen 17 Bänden der Werke Adolph Diesterwegs (29. Oktober 1790 – 7. Juli 1866) gab es noch keinen Platz für Briefe. Der von den damaligen Herausgebern entwickelte Editionsplan sah ihre Veröffentlichung zu einem späteren Zeitpunkt vor. Die Bearbeiterin Ruth Hohendorf widmete sich zunächst den Zeitschriftenaufsätzen. Nach der politischen Wende war die Weiterführung der Ausgabe einige Jahre gefährdet. Doch die Erneuerung des Herausgeberkreises und die Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft lassen den Abschluß des Gesamtwerks bis zum Jahre 2000 oder kurz danach erhoffen.
     Das Konzept sieht zwei weitere Bände mit Aufsätzen, drei kommentierte Neudrucke von Büchern dieses bedeutenden Pädagogen, drei Bände Briefe und Tagebuchaufzeichnungen sowie einen Registerband vor. Viel Unbekanntes und Neues versprechen

die Briefe, denn sie sind bisher nicht systematisch erfaßt worden. Nur gelegentlich war nach Diesterwegs Tod das eine oder andere Schreiben in Zeitschriften erschienen. Der erste Versuch, Diesterwegs Briefe in größerer Zahl zu sammeln und zu veröffentlichen, stammt von Adolf Rebhuhn, Leiter der Deutschen Lehrerbücherei in Berlin. Im Auftrag des Vorstandes des damaligen Deutschen Schulmuseums rief er, veranlaßt durch den bevorstehenden 100. Geburtstag Diesterwegs 1890, vier Jahre zuvor dazu auf, ihm Briefhandschriften Diesterwegs zukommen zu lassen.
     Rebhuhn erhielt 159 Originalschreiben, doch eine Publikation unterblieb zunächst. Zu groß schienen die Bedenken, allzu Persönliches, das den Briefschreiber wie die Briefempfänger betraf, ins Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Fast 20 Jahre später waren solche Überlegungen, die unter dem Begriff »Datenschutz« inzwischen eine gesetzliche Regelung erfahren haben, jedoch der Erwartung gewichen, daß Diesterwegs Briefe »die Sinnesart ihres Urhebers und seine Auffassung der Zeitverhältnisse getreuer« widerspiegelten, »als seine Bücher und Zeitschriftenartikel es zu tun vermögen«, so Adolf Rebhuhn, der 1907 122 Schreiben im Verlag Quelle & Meyer, Leipzig, herausbrachte. 37 weitere Briefe blieben unberücksichtigt, weil der Herausgeber darin entweder Wiederholungen oder Unwichtiges sah. Auch Kürzungen
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erfolgten unter diesen Gesichtspunkten.
     Ein Blick auf die 30 namentlich genannten Empfänger dieser ersten Briefsammlung zeigt, daß es sich in erster Linie um Freunde aus dem Lehrerstand handelte, allen voran Johann Friedrich Wilberg und Peter Heuser in Elberfeld sowie Friedrich Fröbel, den Vater des Kindergartens. Auch Karl Friedrich Wilhelm Wander, Ferdinand Schmidt, Eduard Sack und Karl Friedrich von Klöden waren zu ihrer Zeit bekannte, im Schulwesen tätige Persönlichkeiten. Familiären Charakter tragen lediglich drei an seine Frau Sabine und die Kinder Julie, Carl und Moritz gerichtete Schreiben.
     In den auf die Rebhuhnsche Ausgabe folgenden Jahrzehnten gab es erneut nur vereinzelte Briefpublikationen. Der langjährige Leiter der reformierten Elementarschule in (Wuppertal-) Cronenberg, Eduard Langenberg, Diesterwegs Seminarschüler in Moers, jahrzehntelang einer seiner treuesten Korrespondenzpartner und sein erster Biograph, plante die Veröffentlichung der an ihn zwischen 1835 und 1866 gerichteten Briefe. Die Drucklegung dieser teilweise inhaltsreichen Niederschriften unterblieb glücklicherweise jedoch, denn Langenberg hatte im erhalten gebliebenen Manuskript einiges gekürzt und auch geringfügige Änderungen angebracht. Die Briefe samt ihrer Bearbeitung überdauerten in der Deutschen Lehrerbücherei Berlin die Zeitläufte.
Bloths Briefsammlung von 1966

Mit Hugo Gotthard Bloths 268 Briefen im Anhang zu seiner bei Quelle & Meyer, jetzt Heidelberg, zum 100. Todestag 1966 erschienenen Biographie erfuhren die Bemühungen um das Briefwerk des in Siegen geborenen Pädagogen einen erheblichen Auftrieb. Bloth druckte die von Rebhuhn herausgebrachten Briefe ebenso ab wie die ungedruckt gebliebenen der von dem Seminarschüler Diesterwegs Eduard Langenberg gesammelten und fügte weitere bei, die er selbst ermittelt hatte, darunter Episteln an Jacob Grimm, Heinrich Hoffmann von Fallersleben und Bischof Wilhelm Gottfried Roß. Im darauffolgenden Jahr ergänzte Bloth diese Sammlung, in die er seine, Rebhuhns und Langenbergs Fußnoten voneinander unterschieden hatte, durch »Neuentdeckte Briefe Diesterwegs an seine Braut und Gattin« (Zeitschrift für Pädagogik, 1967). Hans Kruse hatte zuvor aus diesen Papieren im Stadtarchiv Siegen in der Zeitschrift »Siegerland« 1940 Kostproben gebracht.
     Als unter namhafter Beteiligung der Herausgeber der Diesterweg-Gesamtausgabe der 200. Geburtstag Diesterweg mit einer »Diesterweg-Ehrung« im Ostteil des kurz zuvor wiedervereinten Berlin Ende Oktober 1990 gefeiert wurde, nahm das Komitee zur Vorbereitung dieser Ehrung die Gelegenheit wahr, eine Sammlung weiterer, bisher unbe-

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kannter Briefe Diesterwegs anzuregen, um eines nicht zu fernen Tages die Werke durch einen Band Briefe zu komplettieren. Dr. h. c. Ruth Hohendorf und ihr Ehemann Prof. Dr. Gerd Hohendorf, Mitherausgeber der Gesamtausgabe, fügten im Auftrag des Vorbereitungskomitees diesem Aufruf eine Liste aller bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten wie ihnen bekannt gewordenen unveröffentlichten Briefe bei. Bei den unveröffentlichten Schreiben handelt es sich zum Teil um solche, von denen noch nicht der Wortlaut, sondern lediglich die Daten der Niederschrift, die Namen der Empfänger und die Aufbewahrungsorte bekannt sind. Die Liste umfaßte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung (1990) 492 Briefe, ging also um 224 Stück über Bloths bis dato umfangreichste Briefpublikation hinaus.

Überraschungen im Geheimen Staatsarchiv

Der 1993 erfolgte Tod des verdienstvollen Diesterwegforschers Gerd Hohendorf und die auf eine »Wiederbelebung« der stagnierenden Gesamtausgabe gerichteten Anstrengungen ließen bis 1995 weitere Schritte nicht zu, einem Briefband näherzutreten.
     Erst nachdem die Planung für die noch ausstehenden Bände der Gesamtausgabe Gestalt gewonnen hatte, konnte an eine Konkretisierung der Briefedition gedacht werden. Die vom Verfasser dieser

Zeilen schon einige Jahre vorher im Geheimen Staatsarchiv, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, in Berlin-Dahlem durchgesehenen Akten der Lehrerseminare Moers und Berlin hielten bei einer erneuten, gründlicheren Durcharbeitung Überraschungen bereit. Schon früher hatten Historiker gelegentlich auf diese Bestände zurückgegriffen. Doch sie standen der Forschung nur begrenzt zur Verfügung, da sie nach Auflösung der Lehrerseminare in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts im Pädagogischen Zentrum Berlin Aufnahme gefunden hatten, um mit den Akten der übrigen preußischen Lehrerseminare vor allem Auskünften zu dienen. Die Übernahme des großen Aktenbestandes durch das Geheime Staatsarchiv erfolgte erst Anfang der 70er Jahre.
     Sowohl die Unterlagen des evangelischen Lehrerseminars Moers wie diejenigen des Seminars für evangelische Stadtschullehrer Berlin (später in Spandau) spiegeln die amtliche Wirksamkeit von Adolph Diesterweg recht genau wieder. Er war »Gründungsdirektor« beider Institute: in Moers von 1820 bis 1832 und in Berlin von 1832 bis zu seiner Amtsenthebung 1847. Ob es sich um die Bestellung von Betten für die internatsmäßig untergebrachten Seminaristen in Moers, um Spinde für Bücher, Geigen und Flöten, um die Auszahlung von Stipendien, um Prüfungen und Zeugnisse, um untertänigst ausgefertigte Bittschreiben an den Oberpräsi-
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denten in Koblenz oder um Briefe des Vertrauens an den besonderen Gönner Wilhelm Gottfried Roß in Budberg am Niederrhein handelt – immer tragen die Handschriften äußerlich wie inhaltlich unverwechselbare Züge eines von seinen selbstgestellten Aufgaben begeisterten Pädagogen, der 1834 schrieb: »Ich kenne kein herrlicheres Amt als das Lehramt.«

Diesterwegs Handschrift

Diesterwegs Schrift zu entziffern war weder für den Schreiber im Seminarbüro, der es in eine tadellose Ausfertigung umzuwandeln hatte, ein reines Vergnügen, noch gelingt es dem wissenschaftlichen Bearbeiter heute, die in der alten deutschen Schreibschrift mit Einsprengseln in lateinischer Schrift für Eigennamen und Fremdwörter abgefaßten Schriftstücke problemlos zu übertragen. Im Gegenteil, Diesterwegs Texte stellen knifflige Fragen zur Transkription, und die Beteiligten wären froh, wenn bei Abschluß dieser Arbeit und Vorbereitung des Drucks alle Entzifferungsfragen beantwortet sind. Die Dienstakten enthalten neben den eigentlichen Schreiben auch andere amtliche Schriftstücke, so die Jahresberichte, die Diesterweg sowohl in Moers wie in Berlin auf dem Dienstweg, also über die unmittelbar vorgesetzte Behörde, dem Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenhei-

ten (Kultusminister) einzureichen hatte. Die verstärkt angestellten Nachforschungen haben die Zahl der Diesterweg-Briefe auf über 1 000 anschwellen lassen. Zu ihnen gehören neben den von Hugo Gotthard Bloth publizierten Brautbriefen erfreulicherweise auch zahlreiche Familienbriefe, die der Ehemann und Vater an Frau und Kinder richtet, darunter an seinen Sohn Moritz. Der gelernte Buchhändler erwarb einen heute noch unter seinem Namen bestehenden Verlag und verlegte hier auch die Schriften seines Vaters. Manuskripte und vermutlich auch Briefe Diesterwegs zählen auch dort zu den Kriegsverlusten. Dr. Lotte Köhler in München, eine Urenkelin Diesterwegs, sind die Autographen weiterer, bisher nicht bekannter Schreiben an Moritz zu danken. Familiäre Bedeutung besitzen auch andere Briefe aus diesem Münchener Bestand, die Diesterweg an seine Tochter Julie und ihren Ehemann Dr. Heinrich Köhler richtete. So freut sich der Großvater 1843 über einen Enkel, der seinen Namen bekommen hat und für den er Taufpate werden soll: »Möge er fröhlich in das Leben hineinwachsen.« Nicht weniger belangvoll ist ein weiterer größerer Nachlaßbestand (Pasquay), dessen Entdeckung der Aufmerksamkeit von Ruth Hohendorf zu danken ist. Er befindet sich heute im Archiv der Außenstelle Berlin des Deutschen Instituts für internationale pädagogische Forschung (DIPF), wo mit andern Diesterwegiana der
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alten deutschen Lehrerbücherei auch die Briefe an Langenberg verwahrt werden.

Tagebuchaufzeichnungen

Neben den Briefen und amtlichen Niederschriften, die nach dem Verlust der Werkmanuskripte heute die einzigen erhalten gebliebenen Original-Handschriften des Pädagogen darstellen, sind für die Briefausgabe seine Tagebuchaufzeichnungen vorgesehen. Es gibt nur noch Rudimente dieser vermutlich früher beträchtlichen schriftlichen Hinterlassenschaft. Eduard Langenberg, der 1867/68 »Adolph Diesterweg. Sein Leben und seine Schriften. Unter Mitwirkung der Familie« in drei Teilen bei Moritz Diesterweg herausbrachte, konnte Tagebucheintragungen wiedergeben, die heute verschwunden sind.

Ein Leben für die Schule

Der Briefschreiber, den der Leser mehr als 50 Lebensjahre lang in seinen Äußerungen begleiten kann, ist sicher keiner der Epistolographen des 19. Jahrhunderts vom Rang Theodor Fontanes und anderer, deren Briefe große Literatur darstellen. Der Wert von Diesterwegs Briefen liegt in der dokumentarischen Dichte und biographischen Geschlossenheit eines Lebens, das der Schule gewidmet ist und die Erziehungswelt in vielen Facetten spiegelt: politisch, kirch-

lich, gesellschaftlich, literarisch, wissenschaftlich und in ihrer Alltäglichkeit. Das Schulwesen befindet sich in einer Umbruchsituation, deren Zeuge und zugleich Mitgestalter Adolph Diesterweg ist. Es ist die Wendung zur Moderne, die auch in scheinbaren Nebensächlichkeiten dieser Briefe fasziniert. Doch beschränkt sich ihr Wert nicht auf ihren historischen Quellencharakter. Ihre sprachliche Gestalt, ihr häufig sparsamer, nicht selten aber auch reicher persönlicher Ausdruck lassen uns am Leben eines Menschen teilnehmen, an den zu erinnern eine notwendige Aufgabe ist.
     An die Leser ergeht die Bitte, auf bisher unbekannte Briefe wie auf Bilder aufmerksam zu machen und damit zur Vollständigkeit dieser Ausgabe beizutragen. Denn diese Ausgabe wird für lange Zeit, wahrscheinlich für immer, die einzige dieses Umfangs bleiben, ergänzt nur um Schreiben, die hoffentlich auch noch in kommenden Zeiten entdeckt werden.
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© Edition Luisenstadt, 1997
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