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Astrid Melzer
Briefe aus Berlin – Kierkegaard erlebt Schelling

Sören Aabye Kierkegaard (1813–1855), dänischer Theologe und Philosoph, scheint unter den Philosophen des 19. Jahrhunderts eine Sonderstellung einzunehmen. Unter die vielen Gegner Hegels eingereiht, dessen abstraktes allgemeines Systemdenken er zugunsten einer Philosophie des Einzelnen, der eigentlichen Existenz, ablehnte, reichte sein schriftstellerisches Schaffen wie sein Leben von tief religiösem Denken bis zum Zynismus. Sein Leben war das eines Einzelgängers, dessen Dasein sich im Bewußtsein einer gegenüber Gott einzulösenden Schuld abspielte, dessen Melancholie zu jeglicher Verleugnung von Lebensfreude hin zu Resignation und Askese führte. Er war kein Mensch, der sich anderen gern mitteilte, und doch hat Kierkegaard aus Berlin mehr Briefe als sonst in seinem Leben geschrieben. Sein erster und längster Aufenthalt in der preußischen Hauptstadt dauerte ca. fünf Monate und kann gewissermaßen als eine Flucht aus seinem Heimatwohnort Kopenhagen angesehen werden. Denn als Kierkegaard am 25. Oktober 1841 seine Reise nach

Berlin an Bord eines Dampfers Richtung Stettin antrat, war es gerade 14 Tage her, daß er seine einjährige Verlobung mit Regine Olsen, Tochter eines Dezernenten in der Finanzhauptkasse, des Etatrats Terkel Olsen, gelöst hatte. Eine Entlobung wurde in den Kreisen, denen Regines Familie angehörte, leicht zu einem öffentlichen Skandal, und obwohl Kierkegaard in den Briefen an seine Freunde immer wieder betonte, daß er nicht aus Angst vor einer Aussprache oder einem öffentlichen Ärgernis in Kopenhagen nach Berlin fuhr, läßt sich eher das Gegenteil vermuten.
     Nach dem Studium der Theologie an der Universität in Kopenhagen legte Kierkegaard am 3. Juli 1840 seine Staatsprüfung ab. Seine Doktorarbeit zum Thema »Der Begriff der Ironie mit ständiger Beziehung auf Sokrates« entstand ca. ein Jahr später. Die Abhandlung umfaßte 300 Seiten, die – in jener Zeit eine Seltenheit –auf dänisch verfaßt waren, obgleich die mündliche Verteidigung lateinisch geführt werden mußte.
     Bis zu dieser Zeit hatte sich Kierkegaard in unterschiedlichster Weise am gesellschaftlichen Lebens Kopenhagens beteiligt: Er publizierte Artikel zum Thema der Tagespresse, er war Mitbegründer eines Musikvereins und er griff in die literarische Diskussion um Hans Christian Andersen (1805–1875) ein, als er in kritischer Auseinandersetzung mit ihm sein erstes Buch unter
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dem Titel »Aus den Papieren eines noch Lebenden« veröffentlichte.
     In Berlin angekommen, suchte Kierkegaard das Hotel in der Mittelstraße 61, in der Nähe der Universität, auf. Da er jedoch Ärger mit seinem Hauswirt hatte, zog er zwei Monate später in die nahe gelegene Jägerstraße 57 um und bewohnte dort ein Appartement mit Blick auf den Gendarmenmarkt.
Anfangs fühlte er sich in Berlin recht wohl, die Stadt bot genug Abwechselung und neue Entdeckungen. So schrieb Kierkegaard Mitte November 1841 an Peter J. Spang1) über seinen Tagesablauf: »Wenn das erledigt ist, komme ich zu meinem Conditor, –das Beste, was ich in Berlin gefunden haben. Ein Conditor, der besseren Kaffee hat als man in Kopenhagen bekommt, mehrere Zeitungen, reichlich Bedienung. Solange er in Berlin ist, kann ich nie Heimweh leiden. Aber ich denke schon ans Scheiden. Er wird vermutlich bleiben, aber ich muß ihn einmal verlassen. So geht das Leben; wir treffen einander und lernen einander kennen, wir lernen einander schätzen (das versteht Sparganapani –das ist sein Name –sehr gut), und dann müssen wir scheiden und nichts bleibt unbeglichen.« Kierkegaard war schon in Kopenhagen als Kaffeehausgänger bekannt und pflegte anschließend das Flanieren, wobei er in Berlin folgendes bemängelte: »Die Strassen sind mir zu breit (...) Man kann nicht von der einen Seite zur andern sehen, behält keinen Überblick über die Vorübergehenden, (...) aber versteht sich, die Vorübergehenden sind außerordentlich interessant.«
Sören Kierkegaard,
Zeichnung aus dem Jahre 1840
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Oft wandelte Kierkegaard auch im Tiergarten umher, der nicht weit von seinem Quartier entfernt lag. Darüber berichtete er einem seiner Neffen, dem damals 11jährigen Carl Lund: »Im Thiergarten sind eine große Menge Eichhörnchen, die vor allem in den abgelegenen Teilen durch ihren Lärm und ihr Geschrei dafür sorgen, dass es sehr unterhaltsam ist, hier herzustreifen. Der Thiergarten ist genau wie der Garten in Frederiksberg von einem Canal durchschnitten, in welchem das Wasser allerdings sauber ist als zu Hause bei uns. In diesem Wasser lebt eine Riesenmenge von Goldfischen, Du kennst sie doch, und auf jeden Fall kannst Du sie im Schaufenster bei einem Krämer in der Norregade, schräg gegenüber meiner alten Wohnung sehen. Wenn nun die Sonne scheint, und das Wasser klar und ruhig ist, sieht das richtig schön aus.«
     Aber Kierkegaard war vor allem zum Studieren nach Berlin gekommen, und in diesem Winter schaffte er diesbezüglich sehr viel. Seinem einzigen Kopenhagener Freund Emil Boesen schilderte er das Pensum, welchem er sich unterworfen hatte: »Dieser Winter in Berlin wird allezeit seine große Bedeutung für mich haben. Ich habe ein gut Teil geschafft. Wenn Du bedenkst, daß ich drei bis vier Stunden Kolleg täglich gehört habe, eine Sprachstunde täglich habe, und daß ich doch so viel habe schreiben können (und dies, obwohl ich anfangs so viel Zeit darauf verwenden
mußte, Schellings Vorlesungen zu schreiben, von denen ich eine Reinschrift gemacht habe), ein gut Teil gelesen habe, so kann man nicht klagen.«
     In Berlin wollte Kierkegaard sein Wissen über die aktuellen Debatten innerhalb der Philosophie erweitern und suchte dahingehend Anregungen und die Auseinandersetzung. Für die Fahrt hierher hatte er sich entschieden, weil diese Stadt, wie er befand, »wohl der einzige Ort in Deutschland (ist), dessen Besuch in wissenschaftlicher Hinsicht sich lohnt«. In der Tat herrschte in Berlin zu dieser Zeit ein reges geistiges Leben. So war beispielsweise Schelling2) im Jahre 1841 von Friedrich Wilhelm IV. auf dem Lehrstuhl Hegels, der seit dessen Tode 1831 unbesetzt geblieben war, berufen worden, um die vom König selbst formulierte Aufgabe in Berlin wahrzunehmen, die »Drachensaat des Hegelschen Pantheismus« auszurotten. Die ersten Vorlesungen Schellings wurden sehr interessiert aufgenommen, und auch Kierkegaard war von der Atmosphäre beeindruckt: »Schelling hat begonnen, aber unter solchem Lärmen und Schreien, Pfeifen und an-die- Scheiben- Klopfen derer, die nicht hereinkamen, von einem so zusammengepferchten Auditorium, dass man fast versucht ist, es aufzugeben, ihn zu hören, wenn das so weitergehen soll (...) Schelling selbst sieht wie ein ganz unbedeutender Mann aus, er gleicht einem Steuereinnehmer, indessen gelobte er, der
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Wissenschaft und uns mit ihr zu jener Blüte zu verhelfen, die sie längst verdient habe, der höchsten, die sie erreichen würde. Für einen alten Mann kann das ganz erfreulich sein; für einen jungen Menschen ist es immer bedenklich, in so jungen Jahren Zeitgenosse dieser seltenen Blüte zu werden.
     Indessen habe ich doch mein Vertrauen in Schelling gesetzt und will unter Lebensgefahr noch einmal wagen, ihn zu hören. Vielleicht kommt es schon in den ersten Stunden zum Blühen, und dann könnte man freudig sein Leben einsetzen.«
     Weiteres erfährt man in Kierkegaards Brief vom 8. Januar 1842: »Schelling sieht so ingrimmig aus wie ein Essigfabrikant. Man braucht ihn bloß sagen zu hören: >ich werde morgen< (er spricht dies im Unterschied von den Berlinern, die das g sehr weich sprechen, sehr hart, wie ein k: morken) >fortfahren< um eine Vorstellung von seiner persönlichen Verbitterung zu empfangen. – Neulich kam er eine halbe Stunde zu spät. Jakob von Tyboe3) kann kein furchtbareres Gesicht aufgesetzt haben bei der Belagerung von Amsterdam als dasjenige, welches Schelling schnitt, indem er seinem Zorn Luft machte in einigen Angriffen auf die Berliner Einrichtungen, daß es keine öffentlichen Uhren gebe. Um den Zeitverlust wieder gutzumachen, wollte er ein wenig über die Zeit hinaus lesen, dergleichen duldet man in Berlin nicht, man scharrte und hustete, Schelling wurde rasend und brach
in die Worte aus: >ist es den Herren Hörern unangenehm, daß ich lese, so kann ich gerne aufhören: ich werden morken fortfahren.<«
     Kierkegaard versprach sich viel von den Vorlesungen Schellings. Allerdings sollten seine Hoffnungen dahingehend arg enttäuscht werden: »Schellings künftige Vorlesungen haben leider nichts weiter zu bedeuten.« Seinem Bruder Peter Christian verbildlichte er sein Unbehagen an dem deutschen Philosophen: »Schelling salbadert ganz unterträglich. Willst Du Dir davon eine Vorstellung machen, so möchte ich Dich bitten, zu Deinem eignen, wenn auch freiwillig übernommenen Strafleiden, Dich folgendem Experiment zu unterziehen. Denke Dir Pastor Rothes vagabundierendes Philosophieren, seine ganze Zufälligkeit im Reich der Wissenschaft, denk Dir dazu des seligen Pastors Hornsyld unermüdliches Bestreben, Gelehrsamkeit zu verraten, denk Dir beides vereinigt und noch einen Zusatz von Unverschämtheit, in der wohl noch kein Philosoph Schelling übertroffen hat; (...) gehe darauf hinaus zum Arbeitshaus der Erlöserkirche oder zu einem der Zwangsarbeitsräume von Ladegaard, so wirst Du eine Vorstellung haben von Schellings Philosophie und von der Gemütsverfassung, in der man sie hören muß. Jetzt ist er zur weiteren Verschärfung auf die Idee verfallen, länger als gewöhnlich zu lesen, weswegen ich auf die Idee verfallen bin, ihn nicht so lange hören zu wollen, als ich ihn sonst gehört hätte. Frage: wessen
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Idee ist die beste (...) Ich bin zu alt, um Vorlesungen zu hören, ebenso wie Schelling zu alt ist, um sie zu halten. Seine ganze Potenzenlehre bekundet die höchste Impotenz.« Schelling war in Berlin wirklich kein Erfolg beschieden. Deshalb trat er nach kurzer Zeit vom Berliner Lehramt zurück und verzichtete bis zu seinem Tod auf jede weitere öffentliche Wirksamkeit. Das wird wohl auch in Kierkegaards Sinne gewesen sein, denn in seinem letzten Brief aus Berlin, den er am 27. Februar 1842 seinem Bruder Peter Christian schrieb, resümierte er: »Ich glaube, ich hätte ganz und gar dumm werden können, falls ich fortgefahren hätte, Schelling zu hören.«
     Kierkegaard vergaß in seinen Briefen aber auch nicht, sich nach dem Befinden seiner ehemaligen Verlobten zu erkundigen. Vor allem Emil Boesen bat er immer wieder um Nachricht von Regine, mit der er sich auf geheimnisvolle Weise noch immer verbunden glaubte. Als sich herausstellte, daß Regine krank geworden war, äußerte Kierkegaard den Verdacht, daß der gesellschaftliche Klatsch ihr möglicherweise geschadet habe.
     Nachdem Kierkegaard selbst einige Zeit das Bett hüten mußte, was er auf den »schauderhaften Ostwind« in Berlin zurückführte, und er sich zudem nach Regine sehnte, suchte er einen Anlaß für seine baldige Rückkehr nach Kopenhagen. So instruierte er Emil Boesen in einem Brief vom 6. Februar 1842: »Zur Vorsicht will ich Dich bitten,
überall zu verbreiten, dass ich zurückkomme, sobald Schelling fertig ist. Das ist immer meine Absicht gewesen. Ich möchte alles noch einmal betrachten. Als Grund für meine Rückkehr gilt, dass Schelling, was übrigens nur allzuwahr ist, mich überhaupt nicht befriedigt hat.« Bereits einen Monat später fuhr Kierkegaard wieder nach Kopenhagen zurück.
     Die Zeit in Berlin hatte Sören Kierkegaard als Vorbereitung für seinen nun einsetzenden schriftstellerischen Tätigkeitsdrang genutzt, den er in einem seiner letzten Briefe aus Berlin mit den Worten beschrieb: »Lange kann ich nicht, das fühle ich gut, das habe ich nie erwartet, aber ich kann kurz und desto intensiver.«
     Noch zweimal sollte er später in die preußische Hauptstadt kommen. Von April bis Juni 1843 suchte er hier Ruhe für seine Arbeit an dem Buch »Die Wiederholung«; 1846 erholte er sich für eine kurze Woche in Berlin von den Anstrengungen beim Schreiben der Arbeit »Stadien auf dem Weg des Lebens«. In den 13 Jahren zwischen seinem ersten Berlinaufenthalt und seinem Tod im Jahre 1855 entstanden in schneller Reihenfolge alle seine bedeutenden philosophischen und theologischen Arbeiten: »Furcht und Zittern« (1843), »Philosophische Brocken« (1844),« Der Begriff der Angst« (1844), »Die Krankheit zum Tode« (1849), verschiedene erbauliche und christliche Reden, »Die Einübung in Christentum« (1850) sowie »Zur
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Selbstprüfung der Gegenwart empfohlen« (1851). Den Anfang machte er 1843 mit »Entweder- Oder«, das zwei Lebensauffassungen, die ethische und die ästhetische, gegenüberstellt, und den Leser auffordert, sich für eine der beiden Lebensformen zu entscheiden. Anhand verschiedener Situationen erklärte er sein Verständnis von Ethik und Ästhetik. Dieses Buch ist in Verbindung mit Regine zu sehen. Kierkegaard analysierte ihre Verlobung und diskutierte das Verhalten der Hauptfigur, um schließlich darauf hinzuweisen, daß man der Wahl zwischen Ethik (ein guter Ehemann zu sein) und Ästhetik (ein Verführer zu sein) mit dem Schritt ins Religiöse (Gott zu wählen) entfliehen könne. Die Nähe zum romantischen Denkstil wird hier wie auch in seiner Philosophie der Existenz deutlich.
     Sören Kierkegaard wurde bald über die Grenzen seiner dänischen Heimat bekannt. Dafür sorgten einerseits frühe Untersuchungen von Georg Brandes (1842–1927) und Harald Höffding (1843–1931) aus den Jahren 1877 bzw. 1891, andererseits die Verarbeitung der Kierkegaardschen Denkansätze im Existentialismus von Martin Heidegger (1889–1976) und Karl Jaspers (1883–1969) und anderer Repräsentanten dieser philosophischen Richtung des 20. Jahrhunderts.
     Kierkegaard wird nicht unbedingt als der Vater, wohl aber als der Großvater des Existentialismus bezeichnet. Dieser findet seine Fragestellungen und Begriffe über den Um-
weg Friedrich Nietzsche in Kierkegaards Schriften, beraubt deren Existenzdeutung jedoch jeglicher theologischer Dimension.

Die zitierten Briefe sind enthalten in:
–     Emanuel Hirsch (Hrsg.): Sören Kierkegaard. Gesammelte Werke, 35. Abteilung, Briefe, Düsseldorf 1955
–     Walter Boehlich (Hrsg.): Sören Kierkegaard. Briefe, Frankfurt 1988

Anmerkungen:
1     Peter J. Spang, geb. 1796, Kaplan an der Heiligen- Geist- Kirche Kopenhagen
2     Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775–1854), verfaßte kunst- und naturphilosophische Schriften, lehrte u. a. in Jena, Würzburg, München und Erlangen, zunächst mit Hegel befreundet, später distanzierten sich beide voneinander aufgrund philosophischer Differenzen. (Siehe auch BM 1/95, S. 36 ff.)
3     Jakob von Tyboe, Titelheld einer Komödie von Ludvig Holberg

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© Edition Luisenstadt, 1997
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