67   Berlin im Detail »Einsame Pappel«  Nächste Seite
rung der allgemeinen Schulpflicht.«
     An diesem Tage, einem Sonntag, strömten viele Menschen zur »Einsamen Pappel« vor das Schönhauser Tor. Hier, außerhalb der Stadt, war damals ein Exerzierplatz der preußischen Armee, der sich für derartige Massenkundgebungen bestens eignete. Berliner Zeitungen wie die »Vossische« berichteten von 10 000, andere gar von 20 000 Teilnehmern. Es gab eine mit einer schwarzrotgoldenen Fahne geschmückte Rednertribüne. An den Vortagen gewählte Sprecher der Bauarbeiter, Buchdrucker, Maler, Tischler, Weber, Färber, Maschinenbauer und Seidenwirker trugen ihre Forderungen vor. Überliefert ist, daß der Maschinenbauer Siegerist und der Goldarbeiter Bisky, die beide auf den Barrikaden in der Innenstadt gekämpft hatten, ein Arbeitsministerium, einen Zehn-Stunden- Arbeitstag und vier Taler Lohn verlangten. Bisky erklärte: »Wir waren jetzt die große Null im Staate. Endlich kommen wir einmal zur Sprache. Viele der bisherigen Redner haben schon lange geklagt, und ihre Klagen waren meist die alten, die wir schon lange kennen, über Not und Arbeitslosigkeit. Gehen wir der Sache auf den Kern, schreiten wir sofort zur Tat.«
     Sechs Forderungen stellte die Versammlung: 1. Bildung eines Arbeitsministeriums, zusammengesetzt aus Arbeitern und Unternehmern, das die Löhne erhöhen und die Arbeitszeit verkürzen sollte; 2. Verringerung des stehenden Heeres; 3. Volkserziehung auf
Hainer Weißpflug
Die »Einsame Pappel«

Im Prenzlauer Berg in der Topsstraße, nahe dem Friedrich- Ludwig- Jahn Sportpark, steht die »Einsame Pappel«. Sie ragt 28 Meter in die Höhe und hat einen Stammumfang von fast drei Metern (2,95 Meter). Ihre Krone beginnt in 2,98 Meter Höhe und ist eiförmig – nicht unbedingt Qualitätsmerkmale für ein Naturdenkmal, das es bis 1990 war.
     Naturdenkmale sind zumeist nicht nur natürliche Besonderheiten, sondern erinnern zugleich an historische Ereignisse oder Persönlichkeiten, die mit ihnen in Beziehung standen. So gibt es im Westteil Berlins beispielsweise die »Friedenseichen« – mehr als 120 Jahre alte stattliche Bäume. Weil sie in ihrem Stammumfang, in der Höhe, im ganzen Erscheinungsbild besonders schöne, ihre Umgebung prägende Exemplare sind und fast alle zur Erinnerung an den Friedensschluß im Deutsch- Französischen Krieg 1870/71 gepflanzt wurden, stehen sie unter Schutz. In Tegel ist es die »Humboldteiche«.
     Am Fuße der Pappel im Prenzlauer Berg liegt ein Gedenkstein mit folgender Inschrift: »Am 26. März 1848 fand hier an der >Einsamen Pappel< die erste große Massendemonstration der Berliner Werktätigen statt. Sie forderten Beseitigung der Willkürherrschaft, Verbesserung der Löhne, Einfüh-

SeitenanfangNächste Seite


   68   Berlin im Detail »Einsame Pappel«  Vorige SeiteAnfang
Kosten des Staates; 4. Versorgung für Invaliden der Arbeit; 5. eine wohlfeile Regierung; 6. Zusammensetzung eines neuen Landtages durch Urwahlen mit allgemeiner Wählbarkeit und Wahlfähigkeit, nach der jeder großjährige Mann Wähler und wählbar sein sollte. Eine von der Versammlung gewählte sechsköpfige Delegation, die diese Forderungen dem Preußischen König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861, König seit 1840) überbringen sollte, wurde zwar am 29. März von ihm empfangen, ihr Verlangen aber schroff zurückgewiesen.
     Der Platz an der »Einsamen Pappel« blieb auch weiterhin ein Treffpunkt der Berliner Arbeiter, vor allem in der Zeit des Bismarckschen Sozialistengesetzes. Jahrzehnte später, als sich die Stadt weit über das Schönhauser Tor hinaus ausdehnte, stand die »Einsame Pappel« nun inmitten der engen Bebauung des Arbeiterbezirkes Prenzlauer Berg.
     1967 mußte die riesige, über 150 Jahre alte Schwarzpappel gefällt werden – abbrechende Äste und Stammteile gefährdeten die Anwohner. Aus ihren Reisern, die zuvor entnommen wurden, zog die Baumschule der ehemaligen Pionierrepublik »Wilhelm Pieck« in Altenhof am Werbellinsee den heutigen stattlichen Baum. Er wurde Naturdenkmal, um an die alte »Einsame Pappel« und an die historischen Ereignisse von 1848 zu erinnern.
     Mit dem Einigungsvertrag 1990 verlor die »Einsame Pappel« ihren Schutzstatus.
Die Gesetze und Verordnungen der DDR zum Naturschutz galten nicht mehr. Die zuständige Senatsverwaltung mit ihrer Naturschutzbehörde ordnete in einem langwierigen Verfahren die Naturdenkmale im Ostteil der Stadt neu. Von den ehemals 126 Flächennaturdenkmalen und 660 geschützten Bäumen bzw. Baumgruppen waren 1995 keine mehr schutzwürdig. Dabei ist auch die Nachfolgerin der »Einsamen Pappel« offenbar auf der Strecke geblieben. Es bleibt zu hoffen, daß der Baum mit dem Gedenkstein weiterhin erhalten bleibt, nicht irgendeiner Baumaßnahme zum Opfer fällt und daß die zuständige Verwaltung sich spätestens im Jahre 1998, wenn sich die Berliner Märzkämpfe zum 150. Male jähren, der »Einsamen Pappel« erinnert.
     
SeitenanfangAnfang

© Edition Luisenstadt, 1997
www.luise-berlin.de