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Hans-Joachim Beeskow
Latein, aber nicht Rechnen lernen

Bildungsarbeit im mittelalterlichen Berlin

In einer neueren Untersuchung zur Berliner Schulgeschichte wird konstatiert, daß »wie die Gründungsgeschichte der Stadt Berlin selbst, so ... auch die Entstehung ihrer Schulen aus schriftlichen Quellen exakt nicht zu fassen ist«. Dabei sei jedoch »als Hauptträger und -gestalter des Schulwesens im Mittelalter ... die Kirche mit ihrer Welt- und Ordensgeistlichkeit zu nennen«.1)
    Wesentlich für die Bildungsarbeit im mittelalterlichen Berlin ist die Tatsache, daß seit der Mitte des 13. Jahrhunderts der Franziskaner-Orden in der Stadt ansässig war. Die Franziskaner spielten im 14. und 15. Jahrhundert im Berliner Leben eine wichtige Rolle und erfreuten sich bei den Berlinern besonderer Beliebtheit. Im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts ließen sich in Berlin (auf der Cöllner Seite) auch die Dominikaner nieder, deren Klosteranlage in der Brüderstraße jedoch nicht mehr vorhanden ist. Zu dieser Zeit gab es in Berlin bereits drei Pfarrkirchen: die St.-Nikolai-, St.-Petri und die St.-Marien- Kirche.

Außerdem bestanden damals das Hospital zum Heiligen Geist, dessen Kapelle in der Spandauer Straße erhalten geblieben ist, und das St.-Georgs- Hospital, das nicht mehr erhalten ist. Beide Hospitäler dienten Kranken und Armen als Pflegestätten. Die Existenz so vieler sakraler Bauten bzw. Einrichtungen im ausgehenden 13. Jahrhundert deutet nicht nur auf ein reges kirchlich-geistliches Leben hin, sondern legt auch die Vermutung nahe, daß bereits zu dieser Zeit Singe-, Lese- und Schreibunterricht im Dienste der gottesdienstlichen Liturgie an den Pfarrkirchen und Klöstern erteilt worden ist. Urkundliche Belege für das Vorhandensein von Schulgebäuden in der Nähe der Petri- und der Marien-Kirche datieren aber erst aus dem 15. Jahrhundert, während wir von der Existenz einer Schule an der Nikolai-Kirche aus einer Urkunde des Jahres 1385 wissen. Aus dem Jahre 1354 ist folgende Urkunde überliefert: »Zu wissen sei Allen, die diesen Brief sehen, daß wir Ludwig der Römer ..., Markgraf zu Brandenburg und zur Lausitz ..., zum Nutzen unserer getreuen Rathmannen und der Gemeinde unserer Stadt Cölln selbigen Rathmannen und vorbesagter Stadt solche Gnade zu erweisen beschlossen haben ..., daß sie mit unserer Zustimmung und Erlaubnis ... sechs Juden in besagter unserer Stadt als Mitbewohner, wie außerdem einen Judenmeister für den Unterricht besagter Juden und ihrer Jugend in gleicher Weise jederzeit halten können und sollen.
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Die in angegebener Zahl bei ihnen wohnenden Juden, verordnen wir ..., sollen alle und jede Rechte und Freiheiten, deren sich die übrigen Juden, unsere Kammerknechte, in anderen unseren Städten und Burgflecken erfreuen, allenthalben in aller und jeder Hinsicht genießen und besitzen ...« 2) Nach dieser Überlieferung war der erste urkundlich gesicherte Lehrer ein Bürger jüdischen Glaubens.
    In einer weiteren Urkunde aus dem Jahre 1385 wird »Nicolao Halvepape, Beetore scholarum apud S. Nicolaum in Berlin« genannt.3) Nicolaus Halvepape, Rektor der Schule »bei St. Nikolai«, ist damit der erste namentlich bekannte Berliner Lehrer, der seiner Ausbildung nach ein Geistlicher war.
    Sieht man von der Tatsache ab, daß bereits 1288 in einer Urkunde ein Stadtschreiber in Berlin Erwähnung findet - Stadtschreiber waren meist zugleich Schulmeister, d. h. Lehrer - und geht man von den eben zitierten Urkunden aus, so ist, historisch gesehen, festzustellen, daß der Lauf der Berliner Schulgeschichte höchst zögernd und nur mit mageren und zufällig erhaltenen Dokumenten begann. So liegt die Vermutung nahe, daß die schulische Bildungsarbeit zu jener Zeit im Leben der Stadt nur eine sehr untergeordnete Rolle spielte, denn die »Erziehung und Bildung vollzogen sich in Familie und Werkstatt als Mutter-, Vater- und Meisterlehre, im Gottesdienst, in Gilden und Zünften ...
Nur die Geistlichkeit bedurfte der schulmäßig zu erlernenden Künste des Singens, Lesens und Schreibens, und zwar zunächst des Lateinischen, und so waren die Kirchen, wie überall im Mittelalter, so auch in Berlin und Cölln, die ersten Gründer und Träger von Schulen.«4)
    Die erste Berliner Schulordnung datiert aus dem Jahre 1417, in der es u. a. heißt: »Item nova jura scolastica non debent invenire nee ponere, sed antiqua observare ...«5) (»So sollen keine neuen Schulgesetze ersonnen noch eingeführt, sondern die alten befolgt werden.«) Dieser Schulordnung ist weiterhin zu entnehmen, daß »alle Schüler in strenger Zucht« zu halten waren (dazu gehörte auch die körperliche Züchtigung mit der Rute, die meist aus Birkenzweigen gebunden war). Den Lehrern wurde gestattet, Geschenke wie Geld, Brot und Bier als Freundschafts- und Dankbarkeitsbeweise anzunehmen. Es war ihnen verboten, Geschenke zu erbitten oder von Armen zu erpressen, wobei zu bemerken ist, daß nicht nur alle Mädchen, sondern auch große Teile der Stadtarmut vom Schulbesuch ohnehin ausgeschlossen waren.
    Die Bindung der Schulen an die Berliner Kirchgemeinden erfuhr im Jahre 1436 eine Änderung. Der Rat von Berlin beschloß in jenem Jahr, »die Fürsorge für diese wichtige Sache (gemeint ist das Schulwesen, d. V.) fortan zu einem Gegenstande der Stadtverwaltung zu erheben.
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Die Pfarrschulen der Marien-, Nicolai- und Petrikirche scheinen nunmehr ... besondere Berücksichtigung erfahren zu haben, doch hielt man auch die Mönche in der Kloster- und Brüderstraße dazu an, sich des Jugendunterrichts anzunehmen ... Die Schulmeister erhielten ihr Gehalt von der Stadt.«6)
    Mit welchem Alter die Kinder eingeschult wurden, oblag der Entscheidung der Eltern, ebenfalls die Jahre des Schulbesuchs. Der Unterricht begann früh um sechs Uhr und dauerte bis neun Uhr und wurde dann zwischen 12 und 15 Uhr fortgesetzt. Etwa zwei bis drei Jahre benötigten die Schüler, um die Anfänge im Lesen - nach der Buchstabiermethode - und im Schreiben zu erlernen. Geschrieben wurde hauptsächlich auf Wachstafeln, später (ab 15. Jahrhundert) auf Papier mit Schreibfeder oder Binsenhalm und Tinte. Rechnen stand nicht auf dem Fächerkanon, dafür aber das Erlernen der lateinischen Sprache, die vor allem ab der dritten Bildungsstufe den Hauptinhalt des schulischen Unterrichts ausmachte. Wenige Schüler erreichten nach der ersten, die das Lesenlernen umfaßte, die zweite Bildungsstufe des Schreibenlernens, noch viel weniger die dritte. Innerhalb dieser mußten die Schüler - natürlich in lateinischer Sprache - die Zehn Gebote, das Vaterunser und ausgewählte biblische Texte auswendig lernen. In allen drei Bildungsstufen nahm der lateinische Gesang einen breiten Raum ein.
    Insgesamt konnten sich die Ergebnisse der Bildungsarbeit in den Lateinschulen des mittelalterlichen Berlins sehen lassen, auch die etwa 350 Berliner Studenten, die bis 1517 an europäischen Universitäten ihr Studium absolvierten, sind dafür ein beredtes Zeugnis. Als Luther 1517 mit seinen 95 Thesen den Stein der Reformation ins Rollen gebracht hatte, erhöhte sich die Zahl der in Wittenberg studierenden Berliner und Märker beträchtlich.

Quellen:
1 Wilhelm Richter: Berlins Schulgeschichte. Von den mittelalterlichen Anfängen bis zum Ende der Weimarer Republik, Historische und Pädagogische Studien, lid. 13, Berlin 1981, S. 3
2 Ernst Fidicin: Berlinische Chronik, Berlin 1868, S. 125 (Urkunde C 1). Vgl. auch Ernst Haeber: Die Berliner Juden im Mittelalter, in: Beiträge zur Berliner Geschichte. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von Werner Vogel, Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Band 14, Berlin 1964, S. 46-59
3 Adolph Friedrich Riedel: Codex diplomatieus Brandenburgensis, A XH, S. 425
4 Wilhelm Richter, a. a. 0., S. 5
5 Berlinisches Stadtbuch, Neue Ausgabe, Berlin 1883, S. 253
6 Ohne Verfasser: Über das Berliner Schulwesen im 15. und 16.Jahrhundert, In: Beiträge zur Geschichte Berlins, hrsg. von George Gropius, Nr. 1, Berlin 1840, S. 91

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/1997
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