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Jahre ihres Jahrhunderts. Mit einer gewissen Berechtigung könnte man sie die 68er des 19. Jahrhunderts nennen.

Ein typischer Intellektueller des 19. Jahrhunderts

Bruno Bauer wurde am 6. September 1809 in Eisenberg in Thüringen in der Familie eines Porzellanmalers geboren. Während seines Theologie-Studiums in Berlin hörte er vor allem Vorlesungen des Theologen, Historikers und Hegelanhängers Philipp Konrad Marheineke (1780–1846), der seit 1811 an der Universität in Berlin lehrte. Auch Bauer wurde ein überzeugter Hegelianer und entschloß sich, die akademische Laufbahn einzuschlagen. Er habilitierte sich 1834 an der Berliner Universität und wirkte hier als Privatdozent. Schon früh entwickelte er kritische Positionen gegenüber den orthodoxen Hegelanhängern, den Alt-Hegelianern, und war federführend bei der theoretischen Begründung einer linkshegelianischen Auffassung. Gemeinsam mit seinen Brüdern Edgar und Egbert, der als Verleger in Charlottenburg arbeitete, wirkte er bei der Begründung einer losen Gruppierung von »Junghegelianern«, zu denen Ludwig Feuerbach (1804–1872) und Karl Marx (1818–1883), Max Stirner (1806–1856) und Friedrich Köppen (1808–1863), Arnold Ruge (1802–1880) und einige andere gehörten. Bis 1839 traf man sich im »Doktorenklub« zu heißen Dis-

Eberhard Fromm
Geistiger Kopf der Junghegelianer

Bruno Bauer (1809–1882)

Als Bruno Bauer vor 115 Jahren am 13. April 1882 in Rixdorf bei Berlin, dem heutigen Neukölln, starb, war er ein vergessener Mann. Weder seine politischen Bemühungen, als Nationalliberaler nach 1866 an Einfluß zu gewinnen, noch seine zeitweilige Tätigkeit für die konservative »Kreuzzeitung« hatten ihm Erfolg beschert. Er durchlebte das Schicksal vieler seiner Zeitgenossen, die im revoltierenden Vormärz ihre weltanschaulichen und politischen Ideale begründeten, durch die Revolution von 1848 enttäuscht wurden, in den darauffolgenden Jahren nach neuen Positionen suchten und irgendwann ihren Frieden schlossen mit dem neuen Deutschland, das da unter den Händen Bismarcks entstand. Auch Bruno Bauers Bruder Edgar (1820–1886) wandelte sich vom linken Demokraten, der für eine seiner Schriften vom preußischen Staat sogar zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, zum preußischen Beamten in den 60er Jahren. Die Hoch-Zeit dieser Männer waren die 30er und 40er

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puten und freundschaftlichem Beisammensein. Zwischen Bruno Bauer und dem jungen Karl Marx entstand dabei eine enge Freundschaft. 1839 ging Bauer nach Bonn.
     Er hatte sich in Berlin den Zorn des Dekans der theologischen Fakultät, Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869), zugezogen, gegen dessen Interpretation des Alten Testaments er 1839 eine Streitschrift »Herr Dr. Hengstenberg. Kritische Briefe über den Gegensatz des Gesetzes und des Evangeliums« verfaßt hatte. Eine Professur in Berlin schien damit aussichtslos. Die aber hoffte er an der Universität in Bonn zu erhalten, wo er als Privatdozent tätig wurde und Vorlesungen auf dem Gebiet der Theologie hielt.
     Bauer versuchte immer wieder, Karl Marx zu bewegen, ihm nach Bonn zu folgen. Als ihm dies 1841 endlich gelang, gewann er ihn für gemeinsame Arbeiten, mit denen die Schrift »Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel, den Atheisten und Antichristen« fortgesetzt werden sollte. Bauer hatte diese Arbeit 1841 anonym erscheinen lassen, war aber bald als Autor publik geworden. Neben der Arbeit gönnten sich die beiden Freunde auch manche Erholung, wovon folgender Brief Bruno Bauers an seinen Bruder Edgar vom April 1842 zeugt: »Neulich zog ich mit ihm ins Freie, um noch einmal all die schönen Aussichten zu genießen ... In Godesberg mieteten wir uns ein paar Esel und galoppierten auf ihnen rasend um den Berg herum und durch das Dorf. Die Bonner
Gesellschaft sah uns verwunderter denn je an. Wir jubelten, die Esel schrien.«
     Die gemeinsame Zeit ging schnell zu Ende, denn Bauer erhielt die erhoffte Professur nicht, im Gegenteil, ihm wurde sogar die Lehrbefugnis entzogen. Der Grund dafür war seine mehrbändige religionskritische Untersuchung »Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker«, deren erster Band 1841 in Leipzig erschienen war. Dahinter standen die Veränderungen, die sich in Berlin vollzogen hatten. König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861), der seit Juni 1840 in Preußen herrschte, verfolgte in seinem antiliberalen Kurs auch die Wortführer der intellektuellen theologischen Kritik. Bereits am 28. September 1841 hatte er in einem Brief an seinen Minister gefordert, »daß der Dr. Bauer nicht wieder in sein Verhältniß als Privatdocent in Bonn zurückkehre«.
     Hinzu kam, daß nach dem Tod des liberalen preußischen Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, Karl Freiherr von Stein zum Altenstein (1770–1840), mit Johann Albrecht Friedrich Eichhorn (1779–1856) ein dem orthodoxen Protestantismus und dem Pietismus zugewandter Mann das Ministeramt besetzte. Schon 1841 wurden sechs preußische evangelisch-theologische Fakultäten beauftragt, Gutachten zu Bauers Arbeit über die Synoptiker anzufertigen. Sie waren alle negativ. Auch Bauers ehemaliger Lehrer Marheineke, der ein persönliches Gutachten anfertig-
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te, wandte sich gegen seinen früheren Schüler. Am 29. März 1842 wurde Bruno Bauer die »licentia docendi«, also die ihm mit der Habilitierung verliehene Lehrberechtigung entzogen.
     Damit erreichten die Auseinandersetzungen des preußischen Staates und seiner intellektuellen Vertreter mit den Junghegelianern einen Höhepunkt. Bereits 1838 hatte der konservative Historiker Heinrich Leo (1799–1878) in seiner Schrift »Die Hegelingen« vor der »Rotte« der Junghegelianer gewarnt. Nunmehr traten die Gegner und Freunde publizistisch äußerst aktiv in Erscheinung. Natürlich verteidigte sich auch Bruno Bauer öffentlich und nutzte diese Gelegenheit, die Freiheit der Forschung zu fordern und seine Hegel-Interpretation zu entwickeln. Karl Marx zählte diese Schrift Bruno Bauers, die 1842 in Zürich unter dem Titel »Die gute Sache der Freiheit und meine eigene Angelegenheit« erschien, zum Besten, was dieser je geschrieben hatte.
     Noch 1842 kehrte Bauer nach Berlin zurück. »Hier spricht alles von der jüngeren Rotte«, schrieb er am 5. Juni an Marx, »von Atheismus, Aufhebung der Religion und anderer schöner Dinge, sey es pro, sey es mit den Bedenken des Philisters oder mit der klugen Bemerkung man solle langsamer, vorsichtiger vorschreiten.« Bauer schloß sich den in der Stadt verbliebenen Junghegelianern an, die als »die Freien« einen Klub bildeten, der sowohl durch seine Ansichten
als auch durch das öffentliche Auftreten seiner Mitglieder ständig für Aufsehen sorgte. Manches Treiben in den Stammlokalen in der Poststraße (heute Münzstraße) und am Gendarmenmarkt, aber auch die eine oder andere anarchische Aktion erinnert an heutige Verhaltensweisen autonomer Gruppen.
     Bauer und einige andere schrieben zu dieser Zeit noch Beiträge für die »Rheinische Zeitung«, deren Redaktion Karl Marx im Oktober 1842 übernommen hatte. Doch schon bald kam es zu Unstimmigkeiten. Marx veröffentlichte in der »Rheinischen Zeitung« einen Brief von Georg Herwegh (1817–1875), in dem dieser über die »Freien« schrieb: »Wenn ich die Gesellschaft der Freien, die einzeln meistens treffliche Leute sind, nicht besucht habe, so geschah es nicht, weil ich etwa eine andere Sache verfechte, sondern es geschah lediglich darum, weil ich diese Frivolität, diese Berlinerei in der Art ihres Auftretens, weil ich diese platte Nachäfferei der französischen Clubbs ...
     hasse und lächerlich finde.« (MEGA III/1, Berlin 1975, S. 379) Auch Arnold Ruge hatte in einem Brief vom 4. Dezember 1842 an Marx einen solchen Eindruck vermittelt: »Trinken, Schreien, ja, ich sage es, selbst Prügeleien könnte man Leuten hingehen lassen, die das alles trieben abgesehen von einem ernsten Inhalt und ohne ihn zu besudeln. Ich werde Bauers Wesen nie in einem solchen Exzess suchen: aber diese Exzesse mit den Dogmen und Sprichwörtern der
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Philosophie und Freiheit auszufüllen oder vielmehr die Freiheit zu einer Dogmatik dieses Treibens zu machen – nun, das geht nicht und wer darauf besteht, es zu tun, ruiniert sich.«
     Bauer verteidigte die »Freien« in einem letzten Brief an Marx vom 13. Dezember 1842 gegen den Vorwurf der Clique und stellte kategorisch fest: »Lieber Marx, das Recht Berlins ist so groß, die Berliner haben so wenig durch falsche Schritte die Uebereilungen Anderer hervorgerufen, daß ich über diese Sache gar nicht weiter sprechen mag, da ich zu viel Unangenehmes, woran hier Niemand schuldig ist, berühren müßte.« (ebenda, S. 386)
     Die Freundschaft zwischen den beiden Männern war damit beendet. Schon bald polemisierte Marx öffentlich mit Bruno Bauer und dessen Ansichten. Zuerst setzte er sich mit Bauers Veröffentlichungen zur Judenfrage auseinander, dann erschien 1845 die mit Friedrich Engels (1820–1895) verfaßte Arbeit »Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten.« Übrigens war auch Friedrich Engels mit der Familie Bauer, vor allem mit Edgar Bauer, befreundet gewesen und hatte sogar gemeinsam mit ihm publiziert.
     Das Material für ihre scharfe Polemik bezogen Marx und Engels insbesondere aus der »Allgemeinen Literatur-Zeitung«. Sie wurde als Monatsschrift seit Dezember 1843 von Bruno Bauer mit seinen Brüdern Edgar und Egbert in Charlottenburg herausgege-
ben, konnte allerdings nur bis zum Oktober 1844 erscheinen.
     In den folgenden Jahren konzentrierte sich Bruno Bauer auf übergreifende Darstellungen der Religionskritik, aber auch der Zeitgeschichte. Dazu gehörten einerseits Arbeiten wie »Das entdeckte Christentum« (1843) oder »Christus und die Caesaren« (1877), andererseits eine »Vollständige Geschichte der Parteikämpfe in Deutschland 1842–1847« (1847) oder »Die bürgerliche Revolution in Deutschland« (1849).

Die Philosophie des Selbstbewußtseins

Bruno Bauer deckte in seinen religionskritischen Schriften wichtige ideelle Quellen des Christentums auf. Als konsequenter Atheist sah er in der Religion eine bestimmte historische Stufe der Entwicklung des menschlichen Selbstbewußtseins, die es jetzt – insbesondere durch atheistische Aufklärung – zu überwinden galt. Für ihn war die geschichtliche Entwicklung überhaupt eine Schöpfung des menschlichen Geistes, der sich in diesem Prozeß immer vollkommener entfalten würde. Er sprach in diesem Zusammenhang von einem »unendlichen Selbstbewußtsein« als Gestaltungsprinzip der Welt. Er behauptete in diesem Zusammenhang, daß »die Natur die Modification der Vernunft, die von dem Selbstbewußtsein ge-

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setzte Modification seiner selbst ist«, wie er in »Das entdeckte Christentum« schrieb.
     Er ging dabei sowohl auf Denkanstöße der griechischen Philosophie als auch auf Positionen von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) und Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) zurück. Dabei betonte er immer wieder, daß seine radikalen Konsequenzen bereits im Hegelschen System enthalten seien, wenn auch nicht immer offen ausgesprochen. Hegel habe auf »fortdenkende Schüler« gerechnet, die zum wahren Verständnis seiner Philosophie vordringen würden, weil sie erkannten, daß er nicht alles gesagt hat, was er dachte, weil er nicht durfte.
     Für Bauer ist der Mensch kein Naturprodukt, sondern das Werk seiner eigenen Freiheit. Eben deshalb spielte die Kritik eine so zentrale Rolle in seinem Denken, war sie doch mehr als bloße Form oder Mittel, sondern das »einzig Inhaltvolle«. Damit gewann natürlich die Position des Kritikers entscheidendes Gewicht. In deutlicher Abhebung von der Masse der Menschen sah Bauer im Kritiker jemanden, dem die Freuden und Leiden der Gesellschaft fremd seien, der weder Freundschaft und Liebe, noch Haß oder Neid kenne, der dafür aber die Dinge durchschaut und das »Geschäft des olympischen Gelächters« auf sich nimmt. In dieser Rolle sah sich Bruno Bauer wohl selbst, hier lagen seine Stärken und Schwächen.
Denkanstöße:

In Hegel ist der Antichrist gekommen und »geoffenbaret« worden. Es ist die Pflicht des wahrhaft Gläubigen, den Bösen allen kenntlich zu machen, ihn offen und aufrichtig anzuklagen, jedermann vor ihm zu warnen und seine List zu vereiteln.
     Vor allem müssen wir uns an die christlichen Regierungen wenden und Zeugnis vor ihnen ablegen, wie denn der Gläubige vor Königen, Fürsten und Obrigkeiten zu predigen und zu zeigen berufen ist, damit sie endlich erfahren, welche Todesgefahr ihrem Bestehenden und vor allem der Religion, der einzigen Grundlage des Staates, droht, wenn sie nicht geradezu die Wurzel der Bosheit ausrotten. Es gibt nichts Festes, Zuverlässiges und Dauerndes mehr, wenn »der kräftige Irrtum« jener Philosophie noch länger in dem christlichen Staate geduldet wird ...

     Man berief Hegel und machte ihn zum Mittelpunkt der Universität Berlin! Dieser Mann – wenn wir ihm noch einen menschlichen Namen geben dürfen -, dieser vom Haß gegen alles Göttliche und Geweihte erfüllte Mann des Verderbens begann nun unter dem Schilde der Philosophie den Angriff gegen alles, was dem Menschen hoch und erhaben sein sollte. Eine Schar von Jüngern schloß sich ihm an, und nimmer – in der ganzen Geschichte nicht – hat man solchen Gehorsam, solche Anhänglichkeit, ein so

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blindes Vertrauen gesehen, wie es ihm seine Jünger und Anhänger schenkten ...

     Man glaubt nicht, daß die Rotte, mit welcher der christliche Staat in unsern Tagen zu kämpfen hat, ein anderes Prinzip befolgt und andere Lehren bekennt, als der Meister des Trugs aufgestellt hat. Es ist wahr, die jüngere Schule ist von der älteren, welche der Meister gesammelt hat, bedeutend unterschieden: sie hat Scham und allen göttlichen Gehalt weggeworfen, sie bekämpft offen und ohne Rückhalt Staat und Kirche, das Zeichen des Kreuzes wirft sie um, wie sie den Thron erschüttern will – alles Gesinnungen und Höllentaten, deren die ältere Schule nicht fähig schien. Allein es scheint nur so, oder es war vielleicht nur zufällige Befangenheit und Beschränktheit, wenn die früheren Schüler bis zu dieser teuflischen Energie sich nicht erhoben: im Grunde und in der Sache, d. h. wenn wir auf das Prinzip und die eigentliche Lehre des Meisters zurückgehen, haben die Spätern nichts Neues aufgestellt: sie haben vielmehr nur den durchsichtigen Schleier, in welchen der Meister zuweilen seine Behauptungen hüllte, hinweggenommen und die Blöße des Systems – schamlos genug! – aufgedeckt.

Aus: Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel, den Atheisten und Antichristen (1841), In: Die Hegelsche Linke, Leipzig 1985, S. 236; S. 269/270; S. 270/271

Die theologische Freiheit ist die Unfreiheit, die Freiheit als Illusion und Heuchelei – Heuchelei nicht in jenem Sinne, daß die Theologen eine vollkommene Einsicht in das Spiel hätten und mit verständiger Absicht das Wort Freiheit gebrauchten, um die Knechtschaft einzuführen und allgemein zu machen, sondern die Heuchelei eines objektiven Verhältnisses und eines Weltzustandes, den die Einzelnen nicht aus reiner Berechnung geschaffen haben. Die Heuchelei ist zunächst nur die allgemeine tragische Kollision, die zur Auflösung der Religion führt, daß der Mensch den Menschen, das Menschliche, sein Fleisch und Blut nicht verleugnen, d. h. der Mensch sich nicht verbergen kann, daß er es in der Religion und in den kirchlichen Glaubenssätzen mit seinem eigenen Werk zu tun hat – und er verlangt deshalb das Recht der freien Forschung – und daß er in demselben Augenblicke, wo er sein Werk mit menschlichem Auge betrachten will, sein Auge verschließt und sich blind vor seinem Werke niederwirft. Die Furcht, der Mensch müsse sich verlieren, wenn er sich erst wahrhaft wiedergewinnt, sein Wesen entschwinde ihm, wenn er in dem fremden göttlichen Wesen der Religion sich selbst erkennt, die elende Furcht, der Mensch werde zum Vieh, wenn er der Religion sein wahres, ihm bis jetzt vorenthaltenes Wesen wieder abgewinnt, dieses Majestätsverbrechen gegen das Wesen der Menschheit ist in unsern
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Tagen das letzte Mittel, durch welches sich jene Illusion noch aufrechterhält ...

     Nicht die Philosophie soll alles in allem sein, nicht um eine Philosophie, auch nicht um die Philosophie handelt es sich, wenn die Religion gestürzt wird, sondern um die Menschheit handelt es sich, und die Menschheit soll alles in allem sein.
     Sämtliche Güter der Menschheit, Staat, Kunst und Wissenschaft, die ein Ganzes, ein System bilden, und unter denen keines als ein absolutes und ausschließliches gilt, keines ausschließlich herrschen darf, wenn es nicht wiederum ein Übel werden soll, alle diese Güter sollen endlich einmal, nachdem sie bisher von der Religion auf Tod und Leben bekämpft waren, d. h. von dem Ausdruck ihrer Unvollkommenheit immer beherrscht werden sollten, frei werden und sich frei entwickeln.

     Die Menschheit will nichts Ausschließliches mehr, darum kann sie die Religion, die sie bisher hinderte, alles zu sein – was ihre Bestimmung ist –, nicht mehr als allgemeine, herrschende Angelegenheit wollen. Sie schließt die Religion deshalb nicht so aus, wie die Religion die Kunst und Wissenschaft ausschließen muß, daß sie dieselbe mit Stumpf und Stiel ausrotten wollte, sondern sie erkennt sie an und läßt sie als das bestehen, was sie ist, als Bedürfnis der Schwäche, als Strafe der Unbestimmtheit,

als Folge der Mutlosigkeit – als eine Privatsache.

     Kunst, Staat und Wissenschaft werden deshalb immer noch mit den Unvollkommenheiten ihrer Entwicklung zu kämpfen haben, aber ihre Unvollkommenheit soll nicht zu einem jenseitigen Wesen erhoben werden und als die himmlische, religiöse Macht ihren Fortschritt hemmen. Ihre Unvollkommenheiten sollen als ihre eigenen anerkannt und werden als solche im Fortgang der Geschichte leicht genug überwunden werden.

     In der Religion wird der Mensch um sich selbst gebracht und sein Wesen, das ihm geraubt und in den Himmel versetzt ist, zum Unwesen, zum Unmenschlichen, zur Inhumanität selbst gemacht. Die Kritik ist die Krisis, welche das Delirium der Menschheit bricht und den Menschen wieder sich selbst erkennen läßt.

Aus: Die gute Sache der Freiheit und meine eigene Angelegenheit (1842), In: Die Hegelsche Linke, Leipzig 1985, S. 487; S. 501/502

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