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eindeutig: »Der ganze Stoff der Enzyklopädie läßt sich auf drei Hauptgruppen zurückführen: Wissenschaft, freie Künste und mechanische Künste«,1) um an anderer Stelle noch einmal zu bekräftigen, daß die Enzyklopädie »nur von einer Gesellschaft von Wissenschaftlern und Handwerkern ausgeführt werden kann«.2) Die durch die großen französischen Philosophen und Aufklärer anerkannten »mechanischen Künste« (Handwerker, Manufakturisten) zogen bald auch »ökonomische Enzyklopädien« nach sich. Als 1771/72 im schweizerischen Yverdon die ersten Bände der »Encyclopédie Oeconomique ou Systeme général d'Oeconomie rustique, domestique et politique« erschienen, an der bekannte Physiokraten, wie Quesnay, Mirabeau und de la Riviere, mitgearbeitet hatten, witterte der Berliner Buchhändler und Verleger Joachim Pauli (1733–1812) ein gewinnträchtiges Geschäft, wenn er sie in Deutschland veröffentlichte. Jedenfalls übernahm er das Risiko und beauftragte Johann Krünitz mit der Übersetzung dieser »Enzyklopädie«. Es war die Geburtsstunde eines publizistischen Unternehmens, das sich 1773 unter dem Titel »Oekonomische Enzyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirtschaft und der Kunstgeschichte« zu einer der größten Enzyklopädien ausweiten sollte.
     Johann Georg Krünitz war Berliner, geboren am 28. März 1728, dessen Eltern aus dem
Hans-Heinrich Müller
Der »Krünitz« – ein literarisches Riesenunternehmen

Wenn es Enzyklopädien schon seit Jahrhunderten gab, so erlebten sie aber erst im 18. Jahrhundert ihre große Zeit. Die Aufklärungsbewegung und der sich herausbildende Manufakturkapitalismus bereiteten den Boden, worauf enzyklopädische Unternehmen erfolgreich gedeihen konnten. Berühmt war die Pariser Enzyklopädie unter Leitung von Denis Diderot und Jean- Baptiste Le Rond d'Alembert (Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Metiers, par une Société des Gens de Lettres, 1751–1772, 17 Text- und 11 Bildbände), das erste umfangreiche Unternehmen seiner Art, die Einsichten der Zeit auf dem Gebiet der Natur- und Gesellschaftswissenschaften und der aufkommenden Technik einem großen Publikum zugänglich zu machen. Sie war eine wirkungsvolle Waffe im revolutionären Kampf des französischen Bürgertums gegen die Feudalgesellschaft in allen ihren Formen; sie bedeutete aber auch eine Aufwertung der bis dahin verachteten »mechanischen Künste«. Diderot erklärte in seinem »Prospekt der Enzyklopädie« ganz

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Erzgebirge, aus Scheibenberg, zugewandert waren. Er absolvierte das Berliner Gymnasium Zum Grauen Kloster, bezog im April 1747 die Göttinger Universität, die fortschrittlichste der damaligen Zeit, um Medizin zu studieren. Er hörte den bekannten Anatom, Physiologen, Botaniker und Dichter Albrecht von Haller, schrieb sich für kurze Zeit an der Universität Halle ein, um dann 1748 an die Universität in Frankfurt an der Oder überzuwechseln. Er belegte hier außer Medizin noch Philosophie, Mathematik und Chemie und erlangte 1749 die medizinische Doktorwürde. Er habilitierte sich und praktizierte als Arzt in Frankfurt an der Oder, hielt aber auch Privatvorlesungen. Auf Anraten eines seiner ehemaligen Lehrer begann er mit literarischen Arbeiten, war Herausgeber und Mitarbeiter verschiedener Zeitschriften, wie der »Berlinischen wöchentlichen Berichte«, der »Leipziger Ökonomisch- physikalischen Abhandlungen« und des »Hamburger Magazins« und war engagiertes Mitglied der Frankfurter Gelehrten Gesellschaft. 1759 verlegte er seinen Wohnsitz endgültig nach Berlin, richtete sich in der einstigen Wohnung des ihm befreundeten Gottlob Samuel Nicolai ein und wurde rühriges Mitglied der Gesellschaft der Freunde der schönen Wissenschaften. Er veröffentlichte und übersetzte nun technologische, naturkundliche, moralische, naturwissenschaftliche und medizinische Schriften aus dem Englischen und Französischen, entwickelte ein recht starkes Interesse an ökonomischen Fragen und trug eine ziemlich umfangreiche Bibliothek zusammen. Er besaß Kenntnisse der englischen merkantilistischen und der französischen physiokratischen Literatur, die wohl seinen Übersetzungen zugute kamen. Krünitz machte sich durch seine Übersetzungen bald einen Namen im »Ökonomiefache« und fand Aufnahme in die Petersburger Freie Ökonomische Gesellschaft, die Oberlausitzer Bienengesellschaft, die Leipziger Ökonomische Sozietät und die Patriotische Gesellschaft in Schlesien, wie er auch der Deutschen Gesellschaft in Göttingen angehörte.
     Den Vorschlag des Buchhändlers und Verlegers Pauli annehmend, folgte Krünitz bis zum vierten Band dem französischen Original, wobei er Verbesserungen und eigene Anmerkungen hinzufügte. Mit dem fünften Band ging er zur Herausgabe eines eigenständigen Werkes über, das sich bis zum 32. Band »Oekonomische Enzyklopädie ...« nannte, um dann unter dem Einfluß von Johann Beckmanns »Anleitung zur Technologie« (Göttingen 1777) als »Oekonomisch- technologische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirtschaft und der Kunstgeschichte in alphabetischer Ordnung« zu erscheinen. Krünitz verfaßte die ersten 72 Bände selbst, nicht frei von Weitschweifigkeiten und Disproportionen.
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»Was Krünitz interessierte, worüber er gute Kenntnisse besaß, darüber informierte er seine Leser oft in ungebührlicher und der Sache nicht entsprechender Breite. Wo im französischen Original die Ideen der Physiokraten verbreitet wurden, da lieferte Krünitz oftmals eine Kompilation unterschiedlicher Auffassungen, ohne in jedem Falle seine eigene Meinung kenntlich zu machen. Für die Leser der Zeit war das ein Verlust. Andererseits stiegen mit der Erweiterung des Werkes auch die Informationsmöglichkeiten, was einem objektiven Bedürfnis entsprach.«3)
     Der »Krünitz«, wie die Enzyklopädie bald nur noch hieß, viel einprägsamer als ihr langatmiger Titel, enthält Literaturauszüge zu bestimmten Sachgebieten unter weitgehend kameralistischen Gesichtspunkten, ist reichhaltig illustriert, für einen weiten Leserkreis verständlich geschrieben und stellt eine wertvolle Quelle für all jene dar, die sich mit der Agrar-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Geschichte der Medizin, Biologie, Volkskunde, Geographie, des Rechts, der Verwaltung und der Technik und Technologie befassen. Er bietet einen Querschnitt durch die ökonomische Literatur seiner Zeit, beschreibt Produktionsmethoden und Fertigungsverfahren, gelegentlich auch die Wirkung gesellschaftlicher Verhältnisse auf die Produktion, gibt ein Bild über die Entwicklungstendenzen der Produktivkräfte in Deutschland und in anderen
Ländern und spiegelt den Übergangscharakter seiner Zeit wider. Im Gegensatz zu der berühmten Enzyklopädie von Diderot und d'Alembert, deren Werk eine revolutionäre Sprengkraft und gesellschaftsverändernde Wirkung innewohnte,4) war die von Nützlichkeitsdenken beherrschte Enzyklopädie von Krünitz staatskonform, was mäßige Kritik an gesellschaftlichen Zuständen, wie beispielsweise an der Leibeigenschaft und an den Frondiensten, und vorsichtige Reformforderungen nicht ausschloß. Auf Veranlassung des Verlegers Pauli empfahlen Friedrich II. und die preußische Regierung 1775 allen Magistraten wie auch kirchlichen Institutionen die Anschaffung der Krünitzschen Enzyklopädie, die daher auch als offizielles ökonomisch- technisches Lexikon des friderizianischen Staates betrachtet werden kann. 1802 und 1819 wiederholte die preußische Regierung die Aufforderung an die Verwaltungsinstitutionen, die Enzyklopädie zu erwerben, was Verfasser und Verleger nur erfreuen konnte.
     Die Enzyklopädie sicherte Krünitz die Existenzgrundlage bis zu seinem Tode; sie erwies sich als gute Einnahmequelle für Verfasser und Verleger. Kritiker glaubten in diesem »gigantischen Werk« eine ständig zu erhaltende Pfründe zu erkennen.5) Krünitz starb am 20. Dezember 1796 an einem Schlaganfall, wobei sein Ende nicht tragikomischer Züge entbehrte, denn er starb aus-
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gerechnet bei der Bearbeitung des Stichwortes »Leiche« für den 73. Band. Nach seinem Tode wurde der »Krünitz« von dem Prediger Friedrich Jakob Floerken (der einzige seiner Familie, der den Namen mit »n« schrieb), 1799 von dessen Bruder Heinrich Gustav Floerke, ebenfalls Prediger, später in der preußischen Kriegskanzlei angestellt, nach den Befreiungskriegen von dem Doktor der Philosophie Johann David Korth fortgesetzt, bis schließlich C. O. Hoffmann das Riesenunternehmen beendete. Allesamt dürften an dieser Enzyklopädie die gut sprudelnde Einnahmequelle geschätzt haben. Von 1773 bis 1858 erschienen 242 Bände, die bis heute zu den größten Nachschlagewerke zählen, die je erschienen sind. Bei der Herausgabe der letzten Bände der Enzyklopädie war Ernst Litfaß, bekannt als Erfinder der nach ihm benannten »Litfaßsäule«, der Besitzer des herausgebenden Verlages.
     Der »Krünitz« war mehr bekannt als die Biographie seines Verfassers. Galt er in früheren Jahrzehnten nur als bloßer Kompilator, so erfuhren mit der zunehmenden Bedeutung der Agrar-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, besonders aber der Gewerbe- und Technologieforschung in jüngster Zeit, sein Lebenslauf eine besondere Aufhellung und sein Werk eine differenzierte Betrachtung, die auch die Leistung von Johann Georg Krünitz gerechter würdigen. Die Enzyklopädie hält »fakten- und detailreiche
Schätze« bereit, die in anderen zeitgenössischen Publikationen nur schwer zu finden sind, so daß es nicht verwundert, wenn 1982 ein Hildesheimer Verlag eine Mikrofich- Ausgabe besorgte.

Quellen:
1     Artikel aus der von Diderot und d'Alembert herausgegebenen Enzyklopädie, hrsg. von M. Naumann, Leipzig 1972, S. 32
2     Zit. nach: Literatur im Epochenumbruch. Funktionen europäischer Literaturen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, hrsg. von G. Klotz/W. Schröder/P. Weber, Berlin–Weimar 1977, S. 441
3     I. Mittenzwei: Preußen nach dem Siebenjährigen Krieg. Auseinandersetzungen zwischen Bürgertum und Staat um die Wirtschaftspolitik, Berlin 1979, S. 185
4     Vgl. U. Troitzsch: Johann Georg Krünitz, In: Berlinische Lebensbilder – Technik, hrsg. von W. Treue/W. König, Berlin 1990, S. 6
5     Ebenda, S. 7; vgl. auch J. W. A. Kosmann, Leben des verstorbenen Herrn Doktor Johann Georg Krünitz, In: Denkwürdigkeiten und Tagesgeschichte der Mark Brandenburg, Bd. 3, 1797, S. 372–391

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