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Bernhard Meyer
Zahnarzt und Standesvertreter von höchstem Rang

Carl Sauer (1835–1892)

Von seiner Profession her gehörte Carl Sauer in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu der Handvoll niedergelassener Zahnärzte in Berlin, die über eine Approbation verfügten. Er absolvierte immerhin, wenngleich nach den noch immer kümmerlichen Regeln seiner Zeit, ein Zahnarztstudium. Allein diese Tatsache erhob ihn über alle jene vielen Kurpfuscher, die als Zahnreißer, Zahnkünstler, Zahnartisten, Zahnoperateure oder Zahntechniker landauf landab den Leuten Füllungen in die von Karies zerfressenen Zähne brachten oder kurzerhand den Zahn extrahierten. Eine eigenständige Zahnheilkunde gab es im Gegensatz zu den USA oder England in deutschen Landen nicht – sie befand sich noch immer in der Obhut der alles umfassenden Medizin und wurde deshalb oftmals von den Ärzten ohne spezielle Ausbildung mit erledigt. Dies belegt auch den bescheidenen theoretischen Wissensstand um die 32 Zähne des Menschen, die eben eine mehr handwerkliche

Carl Sauer
denn medizinisch- wissenschaftliche Betreuung erfuhren.
     Der am 12. Mai 1835 in Berlin geborene Carl Sauer verließ mit der Primareife die Oberrealschule, da sein Vater, Musiker und Lehrer an der Berliner Königlichen Musikschule, verstarb. Sauers Ausbildung stand in der Folge unter einem glücklichen Stern,
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da ihn sein Weg an die Seite namhafter und erfahrener Zahnspezialisten führte.

Ein Randgebiet rückt in den Mittelpunkt

Wie seinerzeit üblich, begab sich der an zahnärztlicher Tätigkeit Interessierte zunächst in eine zahntechnische Lehre. Seine Lehrherren, die Brüder Julius und Karl Hans Hesse (1814–1855), durften sich bereits Zahnärzte nennen. Sie wurden von ihrem Vater, dem »Hof- und practischen Zahnarzt« Johann Friedrich Wilhelm Hesse (1782–1832), unterrichtet. Hesse sen. hielt nach den Befreiungskriegen erste Vorlesungen über Zahnbehandlungen vor Medizinstudenten an der Charité und habilitierte sich 1827 sogar für dieses als medizinisches Randgebiet geltende Fach. Diese Meriten erweckten höfische Aufmerksamkeit, so daß er dem Kronprinzen und späteren König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861; Kg. 1840) sowie dem Prinzen Wilhelm, dem späteren ersten deutschen Kaiser, zahnärztliche Betreuung zuteil werden lassen durfte. Sauer jedenfalls partizipierte von diesem Wissen für seine anschließende erfolgreiche Zahntechnikerarbeit. Mit 24 Jahren begann er 1859 ein Zahnmedizinstudium – allerdings außerhalb der Universität, die eine solche Studienrichtung noch nicht kannte. Wiederum kreuzte Sauer den Weg eines Namhaften, diesmal den des bekannten Berliner Arztes Eduard

Albrecht (1823–1883). Der betrieb neben seinem eigentlichen Broterwerb als niedergelassener Zahnarzt in den Räumen seiner Privatpraxis mit behördlicher Erlaubnis und auf eigene Kosten einen zwar wenig einträglichen, aber für den stomatologischen Nachwuchs um so wichtigeren praktischen Unterricht. Sauer besuchte die sich damals nur über zwei Jahre erstreckenden Unterweisungen von Albrecht in dessen privater Klinik, die sich in Form einiger Zimmer im Haus des berühmten Augenarztes Albrecht von Graefe (1828–1870) in der Karlstraße (heute Reinhardtstraße 58) befanden. Danach nahm er 1861 eine zahnärztliche Tätigkeit bei dem Zahnarzt und Hofrat Friedrich Wilhelm Süersen (1827–1919) auf, der König/Kaiser Wilhelm I. (1797–1888; Kg. 1861; Ks. 1871) behandelte. Zusammen mit Süersen veröffentlichte er 1863 in der Fachpresse die Entwicklung einer saugfähigen Kautschukprothese, die sie kurze Zeit später als Patent anmeldeten. Indessen eröffnete Carl Sauer nach solider Ausbildung eine eigene Niederlassung Am Schiffbauerdamm 38, die ihm fortan finanzielle und fachliche Unabhängigkeit gewährte.
     In der Nachfolge von Carl Wilhelm Schmedicke (1822–1862) und zusammenwirkend mit Eduard Albrecht, entwickelte sich Carl Sauer zwischen 1870 und 1890 zum führenden deutschen zahnärztlichen Standespolitiker. In den Vorstand des Central- Vereins Deutscher Zahnärzte gelangte er 1883
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als 3. Vorsitzender, während ihm von 1885 bis 1889 der 1. Vorsitz übertragen wurde. Seine Verdienste um die Formierung der deutschen Zahnärzteschaft würdigte der Central- Verein 1890 mit der Verleihung der Goldenen Medaille.

Petition gegen Kurpfuscher der Branche

Sauers erklärtes Ziel bestand in der allseitigen Etablierung und Förderung der approbierten Zahnärzteschaft, was zugleich eine andauernde Konfliktaustragung mit den Kurpfuschern in der Branche bedeutete. Sein Bestreben war es, ein aus mehreren Facetten bestehendes wissenschaftliches Fundament für die Zahnheilkunde zu errichten. Eine wichtige Facette bestand für Carl Sauer in der beruflichen Ausdifferenzierung aller derjenigen, die in der Zahnmedizin tätig waren. Das erforderte aus seiner Sicht die eindeutige Definition und uneingeschränkte gesetzliche Anerkennung der approbierten Zahnärzte als die allein legitimierten Zahnbehandler. Sauer artikulierte Anliegen und Wollen der Approbierten, wurde ihr profiliertester Sprecher in der Öffentlichkeit.
     Vor allem durch die 1869 erfolgte Novellierung der Gewerbeordnung mit einer ausgeweiteten Kurierfreiheit erlitten die Zahnärzte einen herben Rückschlag. Danach konnte jeder auf zahnärztlichem Gebiet

tätig werden. Innerhalb der Zahnärzteschaft wagte sich Sauer 1878 mit der Forderung nach einer Gesetzesänderung zur rigorosen Einschränkung der Kurierfreiheit am weitesten vor. Mit höchstem Einsatz verfolgte er die Absicht, über das Reichsgesundheitsamt und den Reichskanzler zu einer aussichtsreichen Petition im Reichstag zu gelangen. In seinem Visier befanden sich alle Nichtapprobierten, die den Ruf der ordentlichen Zahnärzte beschädigten, und diejenigen, die über einen schnellen, von ihm als unsolide bezeichneten Erwerb des Doktortitels in den USA auf den deutschen Anbietermarkt als wenig qualifizierte, aber billigere Konkurrenz strömten. Er schlug vor, allen Nichtapprobierten zur eindeutigen Unterscheidung und damit erkennbaren Ausgrenzung die Bezeichnung »Zahnarbeiter« zu geben. Sauers berechtigte standespolitische Vorstöße der verschiedensten Art zur Aufwertung der Zahnärzte und zur Klärung der Befugnisse anderer mit der Zahnmedizin verbundener Berufe wie die der Zahntechniker war in jenen Jahren kein spektakulärer Erfolg beschieden. Selbst Rudolf Virchow (1821–1902) hielt noch 1886 an der Kurierfreiheit fest, als deren Vater er sich lobte. Und die Nichtapprobierten schlossen sich im »Verein der Zahnkünstler« mit beträchtlichem Einfluß zusammen. Dennoch besteht Sauers Verdienst in der Thematisierung und Öffentlichmachung dieser für die Zahnärzte existenzsichernden Angelegen-
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heit, die von nun an nicht mehr von der Tagesordnung verschwand.
     Frühzeitig wie kaum ein anderer Standespolitiker erkannte Sauer die Bedeutung eines staatlich anerkannten Universitätsstudiums für die unantastbare Bestimmung des Zahnärztestandes. Gerade mit einem ordentlichen Studium ließ sich die Abgrenzung zu allen den Beruf belastenden Scharlatanen am wirksamsten erreichen, zumal damit gleichzeitig eine Emporhebung zur allgemeinen Ärzteschaft verbunden wäre. Auch für dieses Vorhaben nutzte Sauer die Kraft des Central- Vereins, dem er auf der Jahresversammlung 1877 bereits die in absehbarer Zeit erfolgende Gründung eines Ausbildungsinstitus in Berlin ankündigte. Er ließ sich in eine dementsprechende Kommission wählen und legte ein Jahr später den »Vorschlag zu einem Studienplan für die Studierenden der Zahnheilkunde« vor. Darin forderte er ein mindestens fünfsemestriges Studium unter Einschluß einer intensiven prothetischen Ausbildung. Nach Sauers Vorstellungen gehörte zum Zahnarzt auch weiterhin die Fähigkeit, selbst Zahnersatz herzustellen, erst auf dieser Grundlage dann die praktische Ausbildung mit dem Füllen der Zähne, der Extraktion und Wurzelbehandlung, die Versorung von Kieferbrüchen und das Anlegen von Verbänden. Gewissermaßen als Markenkennzeichen des Approbierten projektierte er den Ausbau des medizinisch- naturwissen-
schaftlichen Unterrichts speziell für stomatologische Belange. Damit visierte er Bildungsinhalte an, die von Kurpfuschern nicht erlangt werden konnten. Bei all dem stützte sich Sauer auf eine 19jährige Erfahrung bei der Ausbildung von 88 Studenten. Allein diese Zahlen verdeutlichen das noch geringe Bestreben des Nachwuchses, direkt und nicht über den Umweg eines Medizinstudiums in die Zahnheilkunde zu gelangen.

Die Stomatologie erhält die Weihen der Universität

Sauer wußte aus seinem außeruniversitären praktischen Unterricht für angehende Zahnärzte nur zu gut, daß eigentlich im Interesse der Patienten die stomatologische Ausbildung dem medizinischen Studium angeglichen werden müßte. Vorerst unterrichtete er in den 60er/70er Jahren die Prothetik und demonstrierte den Studenten jene Fälle, die ihm Albrecht aus seiner privaten Klinik überwies. Als im Juli 1880 13 junge Zahneleven den »Verein der Studenten der Zahnheilkunde in Berlin« gründeten, wurde er – ein angesehener und einflußreicher Lehrer – sofort als Ehrenmitglied aufgenommen.
     Unterdessen liefen Anfang der 80er Jahre alle Bestrebungen auf die Gründung eines zahnärztlichen Instituts an der Berliner Universität hinaus. Da ähnliche Vorhaben im sächsischen Leipzig im Gange waren, die

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Preußen aber die ersten sein wollten, erhielt das Projekt plötzlich einen unerwarteten Schub. Carl Sauer rückte durch den überraschenden Tod des designierten Institutsdirektors Eduard Albrecht am 25. Januar 1883 auf die erste Stelle der Berufungsliste – allerdings nur aus der Sicht des Central- Vereins: »Als vorzüglich geeignete Persönlichkeit erlauben sich daher die Unterzeichneten an Prof. Albrechts Stelle den Zahnarzt Sauer in Berlin vorzuschlagen. Seit mehr denn 20 Jahren gehören wir dem Central- Verein Deutscher Zahnärzte an und kennen daher wohl Alle, die sich um die Nachfolge Albrechts bemühen möchten.« Der preußische Kultusminister Gustav von Goßler (1838–1902) kündigte die Institutsgründung für das Haushaltsjahr 1883/84 an, während sein Ministerialdirigent Friedrich Althoff (1839–1908) im Gegensatz zu den zahnärztlichen Standesvertretern den Chirurgen Friedrich Busch (1844–1916) als Direktor favorisierte. Das war zweifellos eine Referenz an den für Preußen verdienstvollen, 1882 emeritierten Charité- Ordinarius Bernhard von Langenbeck (1810–1887).
     Vorerst jedoch waren Busch und Sauer mit der Vorbereitung beauftragt, die Sauer äußerst ernsthaft betrieb. So erhielt er erstmals am 2. August 1883 die Genehmigung des Dekans der Charité Heinrich Adolf von Bardeleben (1819–1895), am Schwarzen Brett seine Vorlesung »wie ein Privatdocent« anzukündigen. Und so hieß es dann
für 1883/1884: »Therapie und Operation der Zahnheilkunde mit practischer Demonstration«. Indessen stand die Charité hinsichtlich der Direktion im Spagat zwischen dem Chirurgen Busch und dem Zahnarzt Sauer. Sie neigte aus fachlichen Überlegungen zu Sauer – doch Minister Goßler entschied sich mit Schreiben vom 9. Oktober 1884 endgültig für Busch, der dem Institut in der Dorotheenstraße 40 fortan vorstand. Sauer wurde zusammen mit den Zahnärzten Willoughby Dayton Miller (1853–1907) und Johann Friedrich August Paetsch (1836–1899) zum Professor berufen und fungierte faktisch als Stellvertreter von Busch. Auf der Ernennung Sauers lag der diskriminierende Schatten der ministeriellen Festlegung, daß ein Nichtstomatologe an die Spitze des zahnärztlichen Instituts berufen wurde und sie darüber hinaus an die Bedingung geknüpft war, Lehre und Demonstration in seiner Privatklinik Am Schiffbauerdamm 38 abzuhalten. Sauer akzeptierte notgedrungen, schuf sechs zahntechnische Laborplätze in seiner Praxis. Dafür erhielt er zusätzlich zum Jahreshonorar noch 120 Mark pro Semester und Laborplatz.

Universitäts-Abschied und später Ruhm

Aber der Stachel saß tief, und die kommunikativen Konsequenzen einer räumlichen Trennung zum Stammhaus waren

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unübersehbar – nicht nur die Spree trennte Dorotheenstraße und Schiffbauerdamm. Zwar saß er im Prüfungsausschuß für die Zahnmedizinstudenten an der Seite des Anatomie- Ordinarius Wilhelm Waldeyer- Hartz (1836–1921), vermittelte streng und penibel die praktische Zahntechnik und hielt Vorlesungen, allein die rechte Freude wollte sich bei ihm auf dem Gipfelpunkt seiner standespolitischen Bemühungen nicht einstellen. Busch beschwerte sich alsbald beim obersten preußischen Dienstherren über Sauer, der sich wie eine aufsichtsführende Institution benähme. Sauer und Busch kamen miteinander nicht zurecht. Als Busch nach einer USA-Reise gar von veralteten Methoden im Sauerschen Labor sprach und Ende 1887 Gerüchte über dessen Nachfolge in Umlauf gesetzt wurden, nahm der 53jährige Sauer zum 1. September 1888 »auf eigenen Wunsch« seinen Hut. Was vorher nicht möglich schien, geschah nun binnen weniger Tage: In der Dorotheenstraße fand sich plötzlich Raum für das technische Sauer- Labor mit 40 Plätzen. Von all den Zwistigkeiten war Carl Sauer mehr als betroffen, und so legte er 1889 auch den Vorsitz im Central- Verein nieder. Er starb am 17. März 1892 in Berlin.
     Sein wissenschaftlicher Ruf hielt sich bis in die heutige Zeit, denn Stomatologie- Studenten hören noch immer von der »Sauer- Schiene« als einem prothetischen Instrument. Und sie können sein Konterfei
im Hörsaal bewundern. Es fand dort im Oktober 1912 seinen Platz, als anläßlich der Einweihung des seinerzeit modernsten stomatologischen Instituts Europas in der Invalidenstraße 87–89 die zahnärztlichen Vereine Berlins und Brandenburgs vier Porträts der verstorbenen ersten Berliner Hochschullehrer Albrecht, Miller, Paetsch und Sauer stifteten. Wenn heute die Anerkennung und Selbständigkeit der Zahnärzte in unserem Land zur Normalität gehören, hat Carl Sauer daran einen gehörigen Anteil.

Bildquelle: Archiv Autor

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