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Hans Aschenbrenner
1. März 1907:
Mehr als nur eine »Damen«-Konferenz

Bis auf den letzten Platz gefüllt ist das Auditorium, als am Vormittag des 1. März 1907 im oberen Hörsaal der Schinkelschen Bauakademie am Werderschen Markt die erste von bürgerlichen Kreisen in Deutschland einberufene Konferenz für die Interessen der Arbeiterinnen beginnt. Man sieht viele bekannte Persönlichkeiten aus der Frauenbewegung, Vertreterinnen von Vereinen und Genossenschaften, eine Anzahl von Reichstagsabgeordneten, den Chef der Berliner Gewerbeinspektion und auch, wie es die »Vossische Zeitung« in ihrem noch am gleichen Tag veröffentlichten Bericht umschreibt, »eine verhältnismäßig große Zahl von Arbeiterinnen«. Die Einladungen für diese Veranstaltung waren, um das öffentliche Interesse auf sie zu lenken, bereits im Dezember des Vorjahres ergangen. Versandt wurden sie von der Zentralstelle für Arbeiterinnenorganisation des Verbandes Fortschrittlicher Frauenvereine, Einberuferin zu dieser Konferenz in Gemeinschaft mit der Arbeiterinnenschutzkommission des Bundes deutscher Frauenvereine, dem Bureau für Sozialpoli-

tik, dem Gesamtverband der katholischen Vereine erwerbstätiger Frauen und Mädchen, der Gesellschaft für soziale Reform, den Hirsch- Dunckerschen Gewerkvereinen und einigen auf dem Gebiet der Arbeiterinnenfragen tätigen Einzelpersönlichkeiten.
     Der Blick in den Saal offenbart zum einen, in welchem Maße diese Veranstaltung als überaus zeitgemäß und notwendig empfunden wird, und er zeigt zugleich auch, daß sich starke Kräfte der proletarischen (sozialistischen) Frauenbewegung und der Gewerkschaften nicht zu einer Konferenzteilnahme entschließen können. Sie stoßen sich dabei nicht nur an dem keineswegs korrekten, in seinem Anspruch weit überzogenen offiziellen Titel » Erste deutsche Konferenz zur Förderung der Arbeiterinneninteressen«. Sie sehen in ihr vor allem das Bestreben, ihre Ambitionen zu unterlaufen und ihnen einige Gegenorganisationen mehr als bisher in den Weg zu stellen. Erfahrungen und Auseinandersetzungen spielen hier ganz gewiß mit. Eine Kooperation selbst mit dem linken Flügel der in der Zeit um die Jahrhundertwende einen beachtlichen Aufschwung durchmachenden bürgerlichen Frauenbewegung wird immer noch verpönt, Kontakte zu ihr sind unerwünscht. (Siehe BM 6/96, S. 47 ff.) Was dabei verschenkt wird, bleibt im wesentlichen außer Betracht. Diese Konferenz ist ein Beispiel dafür, eine verpaßte Gelegenheit, eigene Positionen zum generellen Thema und den verschiede-
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nen Tagesordnungspunkten an die Frau bzw. natürlich auch an den Mann zu bringen.
     Die Beratungen in der Königlichen Bauakademie, deren Räumlichkeiten unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurden (auch das erregt auf Seiten der Ablehner Mißtrauen), konzentrieren sich auf wenige Themen. Außer acht bleiben zunächst die Fragen, über die fast Einigkeit herrscht, so die Notwendigkeit von der Organisation und des Maximalarbeitstages für Frauen. Margarethe Friedenthal, die den Vorsitz der Beratungen innehat, beschreibt deren Zweck und Ziel: Sie soll hineinleuchten in die dringend verbesserungsbedürftigen Lebensverhältnisse der Arbeiterinnen und Reformen vorbereiten. Der Aufschwung der Arbeiterschaft werde gehemmt durch die Rückständigkeit der Arbeiterin, die in Staat und Familie eine rechtlich untergeordnete Stellung einnimmt, die unter einer mangelhaften Berufsausbildung leidet. Ziel sei es, die Tatkraft der Frauen selbst zu steigern und die Männer zu einer stärkeren Unterstützung heranzuziehen. Auch der gebildeten Frau müsse klar werden, daß es eine Interessengemeinschaft der Frauen aller Stände gibt. Gegenstand besonders eingehender Erörterungen sind anschließend die Lohnfrage der gewerbli-
Annoncen aus dem »Schöneberger Tageblatt« (23.Mai 1909 und 13.November 1910)
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chen Arbeiterinnen, ihre fachgewerbliche Ausbildung und einige Spezialfragen, so das Wahlrecht der Arbeiterin zu den Krankenkassen, zu den Gewerbegerichten und zu den Arbeitskammern sowie die Fabrikarbeiterin als Hausfrau und Mutter.
     Das Wort nehmen anerkannte Führerinnen der Frauenbewegung wie Dr. Alice Salomon, Helene Simon, Dr. Marie Baum, Else Lüders und Lily Braun. Letztere greift wie auch eine Gruppe sozialdemokratischer Abgeordneter, die inoffiziell anwesend sind – ihre Fraktion hatte es abgelehnt, die Konferenz offiziell zu beschicken –, lebhaft in die Debatte ein, wobei sie nicht verhehlen, daß das vorliegende Programm auch von ihrem Standpunkt aus gut und unterstützenswert sei. Die Diskussion selbst verläuft – fast alle großen Zeitungen, selbst der sozialdemokratische »Vorwärts«, berichten erstaunlich ausgiebig darüber – in sehr friedlichen und guten Formen. »Hier und da war ihr Charakter etwas stark akademisch«, heißt es in der »Berliner Morgenpost« (2. März 1907), »doch wurden auch, namentlich von den Frauen, viele belehrende Beispiele aus der Praxis und für die Praxis zumeist in sehr anschaulicher Weise vorgetragen.« Und an anderer Stelle wird in diesem auf der ersten Seite groß aufgemachten Bericht festgestellt: »Ein sehr fortgeschrittener sozialreformerischer Eifer wurde betätigt. Dies war um so anerkennenswerter, als diese Konferenz für die Arbeiterinnen doch zunächst überwiegend
eine >Damen<- Konferenz war. Die Mitglieder der bürgerlichen Frauenbewegung beherrschten noch die Situation. Wirkliche Arbeiterinnen aus den freien und den christlichen Gewerkschaften waren nur in der Minderzahl.«
     Die Resolution, die von den Konferenzteilnehmerinnen verabschiedet wird, enthält als » demnächstige praktische Forderungen zur Hebung der Lohnlage und Lebenshaltung der Arbeiterinnen« vor allem den Zehnstundentag als Minimal- und Gegenwartsmaxime und die unbedingte Koalitions- und Versammlungsfreiheit für die Frauen – in der Debatte naturgemäß Selbstverständlichkeiten für die Rednerinnen und Redner aus allen Lagern. Darüber hinaus wird in der Resolution gefordert: Erweiterung des Schwangeren- und Wöchnerinnenschutzes mit entsprechend ausgedehnter Krankenkassenunterstützung; Schutz der Arbeiterinnen in Hausindustrie und Heimarbeit; die gesetzliche Regelung des Tarifvertrages; für die Mädchen, ganz unabhängig davon, ob sie vorübergehend oder dauernd beruflich tätig sind, eine den Anforderungen des Berufslebens entsprechende, der männlichen gleichwertige Vorbildung sowie von Staat und Gemeinde obligatorischen weiblichen Fortbildungsunterricht.
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© Edition Luisenstadt, 1997
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