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Klaus Goebel
Der Prediger vom Deutschen Dom

Heinrich Wolfgang Seidel, ein wiederzuentdeckender Berliner Schriftsteller

Sein Leben ist mit der Hauptstadt verknüpft, auch wenn er jetzt, wie es scheinen mag, in einer bevorzugteren Landschaft wohnt.
     Das Wiedersehen ist darum einen Ausruf der Bewunderung wert. »Die Stadt aller Städte ist immer noch strahlend und laut und seltsam, aber der Autoverkehr hat sich um das Doppelte, wie es scheint, vermehrt und meine Trommelfelle zittern«, schreibt Heinrich Wolfgang Seidel seinem Sohn Georg im Januar 1935 aus Berlin. Seit er das Pfarramt an der Neuen Kirche, dem Deutschen Dom am Gendarmenmarkt, aufgegeben und den Ruhestand angetreten hat, ist kein Jahr vergangen. Jetzt war er um zwei Beerdigungen gebeten worden. So kehrt er für wenige Tage in die Stadt zurück, in der er das Licht der Welt erblickt und viele Jahre gewirkt hatte. Er ist wieder zu Hause, in seiner Stadt aller Städte.
     Verleger meinen, er sei längst vergessen. Buchhändler kennen ihn nicht und schlagen vergeblich in Verzeichnissen nach. Leser, die sich an ihn erinnern, sind selten geworden.

Doch hatte Heinrich Wolfgang Seidel zu Lebzeiten einen festen Leserstamm besessen, auch wenn er stets im Schatten seines Vaters Heinrich (»Leberecht Hühnchen«) und seiner Frau Ina stand.
     Seinen Vater schildert Sohn Georg, der als Journalist dem Ruf einer schreibenden Familie treu blieb, in zwei Berufen: als Pfarrer und als Schriftsteller. Außerdem habe er eine Art von Oeuvre geschaffen, das im beginnenden 20. Jahrhundert seinesgleichen suche. Er habe es sozusagen versehentlich geschrieben, Briefe, sehr viele Briefe, sprachlich und inhaltlich von gediegener Qualität. Schon die frühesten Schreiben aus den Studienorten Marburg und Leipzig und anschließend aus dem Vikariat in dem uckermärkischen Städtchen Boitzenburg seien Exempel detaillierter literarischer Reportage und funkelten von Leben und treffender Beobachtung. Ina Seidel hat diese Briefe ihres Mannes aus jungen Jahren posthum in zwei Bänden herausgebracht (»Drei Stunden hinter Berlin«, »Um die Jahrhundertwende«). Später folgte ein dritter unter dem schmucklosen Titel »Briefe 1934–1944«.
     Als Seidel im Frühjahr 1934 nach fast 30 Amtsjahren pensioniert wurde, hatten neben viel Ärger über die NS-nahen »Deutschen Christen« gesundheitliche Gründe den Ausschlag gegeben. Er folgte seiner Frau nach Starnberg am See. Ina hatte dort aus dem Ertrag ihrer Bücher, vor allem des zu-
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letzt erschienenen und überaus erfolgreichen Romans »Das Wunschkind«, ein Haus gebaut. In Berlin und zuvor in Eberswalde hatte er seinen beruflichen Pflichten manche Erzählung abgetrotzt. Doch der Roman »George Palmerstone« brauchte sieben Jahre bis zum Druck. Namens der Familie hatte Seidel auch die Neuauflagen der Arbeiten des Vaters betreut, der schon 1906 verstorben war, aber noch lange als lesenswerter Autor galt. Im neuen Lebensabschnitt am Starnberger See sollte sich Seidel dann auf einem Gebiet entfalten, in dem er Jahrzehnte Zurückhaltung hatte üben müssen: als Briefschreiber.
     Zunächst führt er einige Prosaarbeiten zu Ende, die ihn schon länger beschäftigt hatten, allen voran »Krüsemann«, den Roman, der versponnenbesinnlich an Wilhelm Raabe erinnert. Biblische Meditationen und psychologische Beobachtungen aus dem Pfarrer- Alltag fügt er zu dem Essay- Band »Das Unvergängliche« zusammen und gibt einer Sammlung von Bildnissen aus der Kunstgeschichte unter dem Titel »Antlitz vor Gott« einen theologisch- philosophischen Kommentar.

 
Heinrich Wolfgang Seidel in Starnberg um 1935
 
Eine Fontane- Biographie hat großen Erfolg, ebenso eine Auswahl Fontanescher Gedichte. Aber je länger, um so weniger konkurriert der Pensionär mit der pausenlos klappernden Schreibmaschine seiner Frau, die an Erzählungen, Gedichten und Essays arbeitet und deren »Lennacker« die Wunschkind- Familiensaga fortführen soll. Seidel sieht sich zunehmend mit der Beantwortung von Briefen befaßt, besinnt sich auf alte und gewinnt neue Briefpartner, angefangen bei seinem Sohn, dem Internatsschüler und späteren Frontsoldaten Georg.
     Diese Arbeit schlägt sich in 35 Bänden
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eines Tagebuchs der Briefe und Aufzeichnungen nieder und enthält mehr als 5 000 Briefe aus dem Jahrzehnt bis 1944. Jeden Brief schreibt Seidel in seiner kleinen, deutlichen Handschrift zunächst in dieses Buch, um ihn sodann abzutippen und in dieser Form abzuschicken. In die Episteln an ehemalige Berliner und Eberswalder Gemeindemitglieder, Schriftstellerkollegen, Verwandte und Bekannte verwebt der Schreiber Lebenserfahrungen mit meditierenden Gedanken und aktuellen Beobachtungen.

 
»Ich vermute«, so wendet er sich einmal an Geheimrat Hans Frick, Berlin- Lichterfelde, Unter den Eichen, »daß es neben dem Längenmaß der verrinnenden Zeit noch ein anderes (Maß) gibt, nämlich das der Leere oder der Gefülltheit unserer Existenz, das Maß des wirklich aus dem Innersten gelebten Lebens.« Aus der überquellenden Fülle innerer Bilder gibt Seidel, was er zu geben vermag, und seine Korrespondenzpartner sind dafür dankbar.

Gegen die Deutschen Christen

Unerfreulichkeiten der 1933/34 ausklingenden Dienstzeit personifizierten sich vor allem in einem Amtsbruder, der für die nationalsozialistisch unterwanderten Deutschen

Liebe Eltern!
Eigentlich hebe ich doch nicht gemerkt, wie der Sommer gekommen ist; ich wollte darauf aufpassen, aber er ist vielleicht in der Nacht mit dem Omnibus erschienen und nun auf einmal da. Mit brütender Glut lagert er über Boitzenburg; das Gras um die Kirche ist plötzlich ellenlang, der Hafer rauscht unermüdlich und eine grüne Fliederwildnis weht unter meinem Fenster und beginnt heimlich zu blühen.

Handschrift H. W. Seidels aus einem Brief an die Eltern in Groß- Lichterfelde.
Er ist dem Band »Drei Stunden hinter Berlin« entnommen, der im Frühjahr 1997 im Insel- Verlag erscheint.

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Christen in der Gemeinde der Neuen Kirche ungeniert Propaganda machte. »In den meisten Dingen stehe ich wie die Bekenntniskirche«, schreibt Seidel im September 1935 einem Freund, »in so gut wie gar keinen wie die Front der Deutschen Christen, die ich teils für christlich angepinselte Heiden, teils für oberflächliche Konfusionsräte halte – irre ich mich da, um so besser.« Aber er kritisiert unumwunden auch die Bekennende Kirche. Sie vergesse oft, was Jesus unter einem Bekenntnis verstanden habe, »nicht eine Verpflichtung auf gewisse Bekenntnisse entfalteten Glaubens, sondern das Tun des Willens Gottes«.
Heinrich Wolfgang Seidel zwischen seiner Mutter Agnes (links) und seiner Braut Ina in Groß- Lichterfelde, Boothstraße 29, am 8. August 1906. Der handschriftliche Gruß aus der Feder des Vaters Heinrich Seidel lautet: »Was ist die Pyramide des Cheops gegen diese? Es grüßt Vater Heinrich Seidel und Mutter Agnes Seidel.«
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Dem Nationalsozialismus und seinem Führer steht Seidel abwartend gegenüber. Der Sproß von Generationen national empfindender Bürger nimmt das Regime als Obrigkeit hin, die man nicht in Frage stellt, wie Millionen auch. In welcher Weise sich Seidel und seine Frau Fragen gestellt haben, die ihnen das NS-Regime in den 30er Jahren aufgab, ist in beider Nachlaß noch aufzuarbeiten. Heinrich Wolfgang scheint reservierter als Ina gewesen zu sein, die sich gleichwohl ebenfalls nicht als Parteigängerin eignete und ebensowenig wie ihr Mann in die Partei eintrat. Georg Seidel setzte sich in den Skizzen seiner Familiengeschichte (»Die Seidels«) mit der Tatsache auseinander, daß Ina jedoch eine Treuekundgebung für Hitler unterschrieben und ein Huldigungsgedicht auf den Führer verfaßt hatte. Die Texte seiner Mutter seien von einem apolitischen Wandervogel- oder Wunderglauben bestimmt gewesen.

     Der »Lennacker«- Roman habe dann in eine andere, den Machthabern wenig genehme Richtung gewiesen. 1945 räumt Ina ein, »von 1932 an für einige Zeit der Suggestion der nationalsozialistischen Parolen erlegen« zu sein. Zu jüdischen und pazifistisch empfindenden Freunden hat sie sich immer bekannt, ihr Mann erst recht. Mit dem Krieg, so Georg, seien der Mutter die Augen aufgegangen »und damit eine tiefe Verzweiflung über ihre Blindheit«.

Ina und Heinrich Wolfgang Seidel in Starnberg, 1938
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Schriftstellerkollegen

Seit Kindheitstagen war Seidel mit Literatur vertraut und mit Poeten persönlich bekannt. An der Hand des Vaters wurde er im Tiergarten dem alten Fontane vorgestellt. Die Edition des Briefwechsels, den Friedrich Eggers, Freund Heinrich Seidels im Schriftstellerverein »Tunnel über der Spree«, mit Theodor Storm geführt hatte, war 1911 als sein erstes Buch herausgekommen.
     In den nächsten Jahrzehnten gewinnt das Ehepaar Seidel zu den alten neue Bekannte hinzu. Ricarda Huch, Agnes Miegel, Rudolf G. Binding, Wilhelm Lehmann, Rudolf Alexander Schröder und Ernst Wiechert gehören wie Erich Blaich (Dr. Owlglaß), Irene Forbes- Mosse, Albrecht Goes und die Verleger Robert Kröner, Reinhard Piper, Peter Suhrkamp, sein Schwager, sowie Müller- Grote zu diesem Kreis.
     Anläßlich des 60. Geburtstags von Seidel bezog sich Goes 1936 in der »Frankfurter Zeitung« auf die beiden großen Gestalten, die mit Seidel den 28. August als Geburtsdatum teilten: Augustinus und Goethe. Zeit seines Lebens hatte er die theologischen Impulse des Kirchenvaters zu schätzen gewußt und war ein regelmäßiger Leser Goethes. Daß Albrecht Goes 59 Jahre später Seidel zum 50. Todestag im Nachfolgeblatt »Frankfurter Allgemeine Zeitung« würdigte, wirft ein Licht auf die lebenslange Verbundenheit des schwäbischen Schriftstellers mit dem

eine Generation Älteren, mit dem er den Pfarrerberuf und die literarische Berufung teilte.
     Doch in den Jahren des Zweiten Weltkriegs wird manche Verbindung lockerer, manche zerschlägt sich ganz. Bomben zerstören die Stätten, wo Seidel aufgewachsen war. Unbehaglich wird für die Zivilbevölkerung die wachsende Bedrohung der Städte aus der Luft. Seidel ist ein sorgfältiger Chronist der Angriffe auf München und Umgebung und hält fest, was er in dieser Beziehung aus Berlin und Hamburg erfährt. »Wie seltsam ist das, wenn so nach und nach die Architektur der Kindheit und Jugend, die ja doch dauerhafter zu sein pflegt als der Mensch selber, zu eigenen Lebzeiten weggewischt wird wie die Schrift auf einer Schiefertafel.« Mit dem Elternhaus Am Karlsbad 11 verbinden sich die Erinnerungen an die Kindheit, »es war auch als Meisterwerk von Gropius mit der seltenen Sgraffitoarbeit Försterlings wert, zu dauern. In meinem Herzen aber wird es weiter stehen, nun aus Phantasiesteinen gebaut im märchenhaften Reich des Vergangenen, schöner, als es war, ganz bestrahlt von Liebe; und nach wie vor werde ich jene Gestalten sehen, die zu uns die Treppe hinaufschritten oder die man doch vor der Tür von Karl Eggers traf: Großvater und Großmutter, meine Schwester Klärchen, Theodor Storm, Fontane, Mark Twain, Trojan – sie alle.« Zum Jahresbeginn 1944 klagt er Goes weitere unwieder-
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bringliche Opfer: »Meine Kirche auf dem Gendarmenmarkt, in der ich elf Jahre auf der Kanzel stand, ist ein Trümmerhaufen! Dreifaltigkeit ist ausgebrannt, aber der marmorne Schleiermacher steht noch unbeschädigt davor.« Annie (die Schwester seiner Frau) und Peter Suhrkamp hätten alles verloren. Die alte Tante Elsbeth Seidel sei gerettet, »hinter ihr lodert Schloß Monbijou, in dem einst mein Onkel das Hohenzollernmuseum leitete, und am Eingang des Monbijouparkes stehen zwei geschwärzte Engel, herabgestürzt von ihren Postamenten und mit flehend erhobenen Händen«.

»Alles Leid ist wesenlos geworden«

Die gesundheitliche Verfassung verschlimmert sich durch solche psychischen Lasten. Eine Krebskrankheit, die fälschlicherweise als »Strahlenpilzinfektion« gedeutet wird, macht ihm zunehmend zu schaffen. Ihr sollte er, wie der Vater Heinrich in seinem 63. Lebensjahr 1906 und später, 1992, auch sein Sohn Georg, nur zu bald erliegen.
     Die Krankheit lähmt die Arbeit am Schreibtisch. Die Briefüberlieferung fließt nur noch dünn. Der 36. Briefband, gezählt seit 1934, bricht mit Nummer 5 226 ab. Es folgen nur noch weiße Blätter. Im Blick auf die Lektüre im Krankenhaus – Briefe E. T. A. Hoffmanns und Storms, die Biographie von Robertson, Raabes Sperlingsgasse – schreibt er im September 1944 seinem Bruder

Helmuth: »So lebt man von den Toten und ist ihnen dankbar. Alles schien unendliche Vergangenheit zu sein, von grenzenlosem Frieden behütet. So wirkt es heute auf uns, obwohl Hoffmann durch alle Schrecken des Krieges und der dem Kriege folgenden Nöte hindurchgeweht wurde, Robertson seelischen Jammer und allerschwerstes Sterben erfuhr, Storm jahrelang ein Flüchtling ohne Heimat war – und daß der alte Raabe kein leichtes Leben hatte, ist bekannt. Es ist wohl der Gedanke, daß alles Leid dieser Menschen jetzt wesenlos geworden, der sie uns als so glückselig, ja, fast beneidenswert erscheinen läßt.«
     Am 22. September des darauffolgenden Jahres 1945 stirbt Heinrich Wolfgang Seidel in einem Münchener Krankenhaus.

Für die Briefzitate ist der Nachlaß, teils im Deutschen Literaturarchiv Marbach a. N., teils im Privatbesitz befindlich, herangezogen worden; außerdem wird aus »Briefe 1934–1944«, herausgegeben von Ina Seidel, Eckart- Verlag Witten/ Berlin 1964, zitiert.

Bildnachweis:
Ulrike Friedrich, Gauting; Ulrike Schreiber, München; Privatbesitz

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© Edition Luisenstadt, 1997
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