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Bernhard Meyer
Mit ihm beginnt die eigenständige Orthopädie

Der Arzt Julius Wolff (1836–1902)

Über Wachstum, Struktur und Abbau der Knochen wußte die Medizin lange Zeiträume nicht viel; Ende des 19. Jahrhunderts nur Unsicheres und Umstrittenes. In diesem Forschungsfeld bewegte sich Julius Wolff, der vor allem das Knochenwachstum untersuchte und über die innere Struktur der Knochen forschte.
     Julius Wolff, seit Studium und Doktordissertation 1860 an der Charité mit diesem Thema beschäftigt, legte in den folgenden 35 Jahren bahnbrechende Studien über die innere Architektur der Knochen vor. Seine wichtigsten Erkenntnisse konzentrierten sich auf die Klärung der Bälkchen als Bestandteil jedes Knochens. Den Gipfelpunkt seiner wissenschaftlichen Untersuchungen erreichte Wolff 1892 mit der Formulierung des »Gesetzes der Transformation der Knochen«. Nach dieser aufsehenerregenden Mitteilung sei allen gebrauchten Knochen eine durch mechanische Gesetze bestimmte

Julius Wolff

Gestalt eigen. Bei Änderung der statischen Beanspruchung durch Unfall oder Krankheit passe sich die Architektur den neuen Verhältnissen an.
     Der langjährige Prozeß des Findens dieses Gesetzes kann zugleich als der Prozeß
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der Abnabelung der Orthopädie von der Chirurgie betrachtet werden. Die Formulierung durch Wolff markiert faktisch den Beginn der selbständigen Orthopädie, so wie sich zuvor schon die Augenheilkunde sowie die Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde von der Chirurgie getrennt hatten. Da traf es sich 1889 gut, daß just Wilhelm Waldeyer- Hartz (1836–1921) der Charité als Dekan vorstand, da dieser als Anatom die Leistungen Wolffs besonders trefflich beurteilen konnte.
     So verwundert es nicht, daß er mit Datum vom 21. Mai 1889 ein Schreiben an den Königlich- preussischen Staatsminister für geistliche, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten, Dr. Gustav Heinrich Konrad von Gossler (1838–1902), aufsetzte, in dem er eine universitäre Anstalt für »orthopädische Chirurgie« unter dem Direktorat von Julius Wolff beantragte. Die Fakultätsmitglieder stimmten dem Vorhaben einhellig zu; das waren immerhin solche sachverständigen Kapazitäten wie der Pathologe Rudolf Virchow (1821–1902), der Chirurg Ernst von Bergmann (1836–1907), der Internist Ernst von Leyden (1832–1910), der Pädiater Eduard Henoch (1820–1910), die allesamt von den Wirkungen der Wolffschen Forschungen für ihr Fachgebiet profitierten. Das Ministerium brauchte ein Jahr, um sich am 22. Mai 1890 für eine wissenschaftshistorisch bedeutsame und für das Staatsbudget äußerst sparsame Entscheidung durchzuringen – es gab die Zustimmung für die provisorische
Etablierung einer universitären »Poliklinik für orthopädische Chirurgie« an der Charité.
     Die Angelegenheit hatte jedoch einen Haken – die Poliklinik sollte auf privater Basis geführt und von Wolff finanziert werden.
     Im Klartext bedeutete die ministerielle Entscheidung, daß die Wolffsche Privatklinik sich fortan zur Charité gehörig betrachten konnte, allerdings bei Aufbringung der Kosten. Für Wolff änderte sich de facto wenig, denn sein Privatinstitut für orthopädische Erkrankungen existierte bereits seit 1882 in der Marienstraße 25 (später Markthallenstraße D, danach Am Cirkus 9). Seine Institution war eine von vielen der privat betriebenen Mischform von ambulanter und stationärer Behandlung, wie sie sich in jenen Jahren rund um die Charité in den verschiedensten Fachrichtungen etablierten. Nutzer waren vor allem zahlungskräftige Patienten, die das sozial Bedürftigen vorbehaltene Charitékrankenhaus mieden. Diese Klientel wußte jedoch um die fachlichen Qualitäten der dort tätigen Ärzte, die fast ohne Ausnahme qualifizierte Mediziner aus der inzwischen zu Weltruhm gelangten Charité waren, dort aber keine nennenswerten Aufstiegschancen sahen. So kann angenommen werden, daß Julius Wolff über entsprechende Einnahmen verfügte, die ihn mühelos in die Lage versetzten, den Ministerentscheid finanziell ohne Probleme zu tragen. Das allein schon deshalb, weil Wolff nicht seine gesamte, son-
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dern nur einen Teil seiner Klinik zur Poliklinik bestimmte, während ein anderer Teil weiterhin als Privatklinik geführt wurde.
     Julius Wolff war am 21. März 1836 in Märkisch- Friedland (Westpreußen) geboren worden. Sein Medizinstudium hatte er 1860 in Berlin erfolgreich abgeschlossen. Frühzeitig an der Chirurgie interessiert, hatte er im gleichen Jahr bei einem der Großen in der Ziegelstraße, bei Bernhard von Langenbeck (1810–1887), promoviert. Nach der Staatsprüfung 1861 hatte er sich als »practischer Arzt« in Berlin niedergelassen, wobei er die begonnenen experimentellen Untersuchungen fortsetzte. Im Anschluß an seine 1868 ebenfalls von Langenbeck betreute Habilitation war die Berufung zum »Privat- Docenten« mit Vorlesungstätigkeit erfolgt, die er erstmals 1869 ankündigte hatte. In jenem Zeitraum hatte Wolff als Arzt an den drei preußischen Kriegen zur Reichseinigung teilgenommen und sich mit dem »Eisernen Kreuz« Meriten erworben, die über seine Person letztlich später der Orthopädie zugute kamen. Vorerst war 1884 die Ernennung zum außerordentlichen Professor erfolgt, so daß er sein Privatinstitut bereits mit diesem Titel führen konnte. Zwei Jahre später (1886) finden wir ihn als Mitbegründer und Vorstandsmitglied der »Freien Vereinigung der Chirurgen Berlins«.
     Aus diesem Lebensprozeß wird deutlich, wie sich bei Julius Wolff wissenschaftliche Forschung und praktisches medizinisches
Tun stets gegenseitig beeinflußten. Zu hoher Ehre gelangte er am 24. April 1884, als er auf Vermittlung des Physiologen Emil Du Bois- Reymond (1818–1896), Sekretar der physikalisch- mathematischen Klasse der Königlich- preußischen Akademie der Wissenschaften, seine bis dato angesammelten Forschungsergebnisse dem Gremium auf dessen XXII. Sitzung vortragen durfte. Von diesem kräftigen Impuls führt nun sein wissenschaftlicher Erkenntnisprozeß direkt zum Gesetz von 1892. Wolff nutzte die Virchowsche Aussage, wonach ohne Reiz keine organische Arbeit, keine Entwicklung stattfinden würde, für die Formulierung von Grundsätzen wie: Regeneration ist die Wiederholung eines normalen Vorgangs. Und: Die Natur ist unter normalen Bedingungen bestrebt, die Funktion der Knochen zu erhalten, unter pathologischen Bedingungen, sie wieder herzustellen. Er leistete – und das verdient ausdrücklich festgehalten zu werden – seine wissenschaftliche Arbeit ohne die Röntgenstrahlen, die erst 1895 entdeckt wurden. Als sie dann ihren Siegeszug um die Welt antraten, wurde Wolff ein eifriger Verfechter dieser für die Orthopädie so wichtigen diagnostischen Errungenschaft. Anfang des letzten Dezenniums bereitete Wolff, nunmehr mit dem Rückenwind des Direktors einer Charité- Institution, die Publizierung seines wissenschaftlichen Hauptwerkes vor. Dies wiederum geschah mit tätiger »Beihülfe« der Wissenschafts-
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akademie, die im Oktober 1891 beschloß, das Druckvorhaben zu unterstützen.
     So erfolgte 1892 die Herausgabe des Werkes mit dem Titel »Das Gesetz der Transformation der Knochen« im Verlag von August Hirschfeld, Berlin. Die Kernaussage des Gesetzes besteht darin, daß sich »im Gefolge primärer Abänderungen der Form und Inanspruchnahme oder auch bloss der Inanspruchnahme der Knochen, bestimmte, nach mathematischen Regeln eintretende Umwandlungen der inneren Architektur und ebenso bestimmte, denselben mathematischen Regeln folgende secundäre Umwandlungen der äußeren Form der betreffenden Knochen vollziehen«.
     Verständlich die besondere Danksagung des Autors an Du Bois- Reymond und Bergmann, die auf diese Weise der Orthopädie den Weg in die Selbständigkeit ebneten. Auf 150 Druckseiten breitete Wolff sein Forschungsergebnis aus, wobei er den Schlußfolgerungen ausführlichen Raum widmete. Das sind immerhin neuartige Ansichten mit weitreichenden Konsequenzen für solch alltägliche Krankheitsbilder wie Knochenbrüche, Rachitis als einer Arme- Leute- Krankheit ähnlich der Tuberkulose, von Wesen und der Entstehung von Deformationen wie z. B. Klumpfuß, Knick- oder X-Bein sowie der Skoliose, der seitlichen Verkrümmung der Wirbelsäule, aber auch zu Entzündungen, dem Knochengewebe und der Regeneration der Knochen. Gegen Ende, fast ein
wenig unauffällig, äußert sich Wolff über Schlußfolgerungen aus seiner Erkenntnis für die Selektionstheorie von Charles Darwin (1809–1882). Er verweist auf eine Lücke im Gedankengebäude von Darwin. Diese bestünde darin, daß Darwin »die Entstehung zweckmäßiger Einrichtungen in den Organismen lediglich auf die Auslese aus beliebigen gestaltlichen Variationen bzw. auf die Aussonderung der unzweckmäßigen Variationen durch den Kampf ums Dasein« bezog. Wolff vermißte die Aufklärung der »directen Selbstgestaltung des Zweckmäßigen innerhalb der einzelnen Organismen und Gewebe der Lebewesen«. Sein Gesetz, in der Literatur auch verschiedentlich als »Wolffsches Transformationsgesetz« bezeichnet, betrachtete er deshalb zu Recht als einen »Baustein zur Vollendung des Gebäudes« der Darwinschen Lehre.
     Wolffs Werk, darüber sind sich die heutigen Orthopäden einig, begründete die unwiderrufliche Eigenständigkeit des Fachgebiets und gilt bis in unsere Tage als das klassische Standardwerk der Orthopädie. Die neuen Theorien, experimentell hervorragend gesichert und beschrieben, riefen auch Kritiker hervor – er mußte um die Anerkennung seiner Lehre kämpfen. Die Zustimmung jedoch überwog. Insbesondere die von Wilhelm Roux (1850–1924), der als Ordinarius für Anatomie in Breslau und Innsbruck bedeutende Vorarbeiten leistete und die Systematik und Methodik von Wolff unei-
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gennützig stützte. Roux hat durch seine Besprechung des Werkes wesentlich zur Durchsetzung des Neuen beigetragen. Die pekuniären Auswirkungen für Wolff waren ebenfalls respektabel, denn zum April 1894 wurde nunmehr die Finanzierung seiner Poliklinik etatmäßig in die Universität aufgenommen. Aber erst wenige Wochen vor seinem Tode endete das Provisorische seiner Institution, in dem sie als »Königliche Universitäts- Poliklinik« in den Verband der Charité mit 30 Betten übernommen wurde.
     Zeitgenossen bezeichneten Wolff als einen Hochschullehrer, der von seinem Amt begeistert war und der begeistern konnte. Die Vorlesungen fanden im Auditorium der »Königlichen Universitäts- Poliklinik für orthopädische Chirurgie« (Am Cirkus 9, Parterre) oder im Auditorium seiner chirurgischen Privatklinik (Am Cirkus 9, I. Etage) statt. Eine seiner Vorlesungsankündigungen lautete:

»Im Wintersemester 1891/92 werde ich folgende Vorlesungen halten:
I. publice Über functionelle Orthopädie, Donnerstag 4–5 Uhr
II. privatim
1) Chirurgische orthopädische Poliklinik, Montag und Sonnabend 2–3 1/2 Uhr
2) Kurs der chirurgischen Verbandlehre, Mittwoch und Sonnabend 4–5 Uhr.
3) Kurs der chirurgischen Diagnostik, Dienstag und Freitag 4–5 Uhr ...
     gez. Prof. e. o. Dr. Julius Wolff«.

Orthopädisch Interessierte kamen von weit her, um Wolff in der Praxis zu erleben.
     Julius Wolff war verheiratet und Vater mehrerer Kinder. Der Kunst und Musik zugeneigt, schwärmte er für das klassische Altertum, las immer wieder Homer und Goethe. Am 15. Februar 1902 erlitt der 66jährige einen schweren Schlaganfall, an dessen Folgen er drei Tage später verstarb. Er wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin- Weißensee beigesetzt. Die durch sein Lebenswerk erst möglich gewordene Gründung der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie 1902 konnte der Geheime Medizinalrat Professor Dr. Julius Wolff nicht mehr erleben.
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© Edition Luisenstadt, 1997
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