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Bernd Siegmund
Ein Heiliger fliegt über die Stadt

Luftrettung in Berlin

26. Mai 1996, 7.29 Uhr, Einsatzbefehl für »Christoph 31«, der erste des Tages. Laut, immer lauter wird das schrappende Geräusch der Rotorblätter. Die metallene Haut des Riesenflügeltieres beginnt zu zittern, nur mit Mühe kann es sich am Boden halten. Endlich löst Pilot Thilo Hultsch die Fesseln, der Hubschrauber hebt sich, gewinnt an Höhe und fliegt – stolz wie ein Vogel – hinein in den Berliner Luftozean. Thilo Hultsch steuert den Hubschrauber vom Typ BO 105 mit gewohnter Routine. Richtung Innenstadt geht es, 230 km/h zeigt der Geschwindigkeitsmesser. Unfall im Kreuzungsbereich Frankfurter Allee/Ecke Möllendorffstraße, Landemöglichkeit: Mittelstreifen. Die Unterhaltung an Bord ist auf das Nötigste beschränkt. Thilo Hultsch, der Arzt Dr. Wegner und der Rettungsassistent Norbert Möller reden über Kopfhörer miteinander. Darin verkommen die sprachlichen Laute zu einem nur für Fliegerohren verständlichen Quaken, Gespräche in Quakophonie, eingetauscht gegen das Brüllen der Rotoren.

Rettungsalltag in Berlin

Für Johannes P. (32) ist dieser 26. Mai 1996 der schwärzeste Tag seines Lebens. Auch heute noch, fast ein Jahr danach, tauchen aus dem Dunkel seines Unterbewußtseins schreckliche Bilder auf. Bitter und genau.
     Vielleicht war er wirklich zu aggressiv gefahren, vielleicht auch hatte er die berühmte Zehntelsekunde lang nicht aufgepaßt, Tatsache ist: Zwanzig Meter vor der Kreuzung Frankfurter Allee/Möllendorffstraße sah er plötzlich, wie seine Spur frei wurde. Er zog den Motor hoch, mit einem Blick nahm er wahr, daß die Ampel auf Gelb schaltete, er gab Gas, zwei Meter vor der Kreuzung wurde die Ampel rot, bremsen konnte er nicht mehr, er war viel zu schnell, Augen zu und durch, sagte er sich, in genau diesem Moment bemerkte er den Linksabbieger. Es war 7.21 Uhr. Instinktiv riß er das Fahrzeug nach rechts, der Mazda schlingerte, die Reifen kreischten, dann brach der Wagen aus. Mit 70 oder 80 Sachen krachte er gegen den Mast. Frontal. Es gab einen riesigen Knall. So ein Augenzeuge. Dann war es still. Sehr still. Für Sekunden verharrten die Menschen auf der Kreuzung in entsetzter Demut. Nur aus dem Fahrerhaus des Mazda dudelte verloren das Autoradio.
     Johannes P. lag eingeklemmt im Wagen, er war bei vollem Bewußtsein. Ein beherzter Lkw-Fahrer zog mit seiner Maschine das Au-

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towrack vom Mast, um Handlungsfreiraum zu schaffen. Dann kam die Feuerwehr. Mit hydraulischen Werkzeugen drückten die Helfer das Fahrerhaus auseinander, endlich konnte der Notarzt zu dem Verletzten, der zu verbluten drohte. Der Arzt sah sofort, daß höchste Eile geboten war. Als er »Christoph 31« anforderte, zeigte die Uhr 7.29 Uhr.
     Johannes P. spricht leise. Die Sätze nehmen sich Zeit. Es sind schnörkellose, kahle Sätze. So kahl und ernüchternd wie das Krankenzimmer, in dem Johannes P. liegt. – Seit Monaten ist die Unfall- Chirurgie des Virchow- Krankenhauses sein unfreiwilliges Zuhause. Hierher hatte man den Schwerverletzten nach dem Unfall gebracht.
     »Ich weiß nicht mehr, wie lange ich eingeklemmt lag, vielleicht eine viertel Stunde, vielleicht auch länger, irgendwann wurde ich aus dem Wagen genommen und in einen Hubschrauber gebracht«, erzählt Johannes P. »Erst, als der in die Luft ging, wurde ich ohnmächtig.« Vielleicht waren es die Medikamente, die nun wirkten, vielleicht auch schwanden Johannes P. die Sinne, weil er wußte: Nun bist du in den richtigen Händen.
     Dr. Norbert Haas, Professor für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie am Universitätsklinikum Rudolf Virchow, erklärt
das so: »Herr P. erlitt bei dem Unfall eine sehr schwere Mehrfachverletzung. Das Becken war zertrümmert, das Bein unterhalb des Knies abgetrennt, hinzu kam eine Ellenbogenfraktur ... Ganz typische Verletzungen bei Unfällen dieser Art. Verbunden mit dem hohen Blutverlust war sein Zustand lebensbedrohlich. In einer solchen Situation erhöht jede Minute, die der Notarzt eher beim Verunglückten ist, dessen Vitalfunktionen sicherstellt bzw. wiederherstellt, ihn transportfähig macht, die Überlebenschance. « So gesehen kam für Johannes P. die Rettung buchstäblich aus der Luft.

Mit 230 km/h ist »Christoph 31« in Minutenschnelle an jedem Punkt der Stadt.

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Der heilige Christophorus

Berlin, 3,5 Millionen Menschen, Hunderttausende Touristen, 883,4 Quadratkilometer Steinwüste, dicht an dicht gedrängte Häuser, Fabrikgebäude, Kirchen, Brücken, Straßen, 1,6 Millionen zugelassene Fahrzeuge, endloses Donnern der Automobilherden, kilometerlange Staus, Umleitungen, Baustellen, Aggressionen, Unfälle ...
     Mit der Wiedervereinigung wuchs der Verkehr, und mit dem Verkehr wuchsen die Unfallzahlen, der heilige Christophorus hat seit 1990 alle Hände voll zu tun.
     Einst trug dieser Heilige, so berichtet die Bibel, verzweifelte Pilger über den reißenden Strom. Nicht ohne Grund also hören bundesweit die Rettungshubschrauber auf den Funkrufnamen »Christoph«. – Nicht Heilige, Helikopter retten heute die Verzweifelten, die im reißenden Verkehrsstrom untergegangen oder sonstwie verunglückt sind.
     Nicht alle von ihnen sind auf den Hubschrauber angewiesen, Luftrettung ist nur ein Instrument im Orchester des medizinischen Notfalldienstes. Aber die Statistik verrät steigende Zahlen. 1990 mußte »Christoph 31«, der Berliner Rettungshubschrauber, genau 1 488 mal in die Luft, um Verletzte zu versorgen und zu transportieren. 1991 brachte er es auf 1 783 Einsätze, 1992 auf 1 878, ein Jahr später auf 2 092, 1994 auf 2 091, 1995 sank die Zahl auf 1 714, 1996

wurden 1 739 Einsätze registriert. Und ein Jubiläum: Am 12. August 1996 flog »Christoph 31« seinen 15 000. Einsatz, eine 56jährige Patientin aus Nikolassee wurde erfolgreich reanimiert. Durchschnittlich hat »Christoph 31« acht bis zehn Einsätze am Tag, mehr als jeder andere der sich bundesweit im Einsatz befindlichen 49 Rettungshubschrauber. In den Wintermonaten sinkt die Zahl, geflogen wird ausschließlich bei Tageslicht. In Minutenschnelle ist »Christoph 31« an jedem Ort der riesengroßen Stadt, bringt Kranke und Verletzte zu einem der 13 Krankenhäuser, die einen Helikopter- Landeplatz haben. Die meisten Einsätze entfallen auf internistische Notfälle, akute Herz- und Kreislaufprobleme, Atemnot- oder Ohnmachtsanfälle, dann erst kommen Verkehrs- und Arbeitsunfälle.
     Die Crew auf der BO 105 besteht aus dem Piloten, dem Notarzt, er ist in der Regel Internist oder Anästhesist, und dem Rettungsassistenten. Drei beim ADAC festangestellte Piloten teilen sich in Berlin den Dienst. Hinzu kommen vier Rettungsassistenten und acht bis zwölf Ärzte aus dem Klinikum Steglitz. Geflogen werden die Hubschrauber von gestandenen Piloten, die über ein reiches Konto an Erfahrung und Flugstunden verfügen.
     Thilo Hultsch, 4 700 Flugstunden, 39 Jahre alt, verheiratet, geboren inWismar, ist so einer. Ein Mann mit Selbstbewußtsein
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und Humor. Nach seinem Ausscheiden als militärischer Hubschrauber- Pilot hat er vom Helikopter herab Wälder gekalkt, Weinberge besprüht, Fotografen geflogen. Um schließlich beim ADAC zu landen. Diese Arbeit ist für ihn mehr als nur ein Job. – Zum einen ist da die fliegerische Herausforderung ... Es verlangt schon eine gehörige Portion Können, mit einem Hubschrauber in die engen Straßenschluchten einer Großstadt einzutauchen, bei schlechtem Wetter zu einem Notfall zu fliegen, zwischen dichten Baumkronen zu landen. Zu den spektakulären Vorstellungen von »Christoph 31« gehörte beispielsweise die punktgenaue Landung auf den Hochbahn- Gleisen der U-Bahn, als ein 14jähriger Surfer abgestürzt war. »Bei den Landeplätzen sind wir wirklich nicht wählerisch«, sagt Thilo Hultsch lachend, »15 mal 15 Meter sind uns genug.«
     »Aber der Fliegeralltag ist nur die eine Seite der Medaille«, so Thilo Hultsch. »Die andere hat etwas mit Gefühl zu tun, mit dem Herzen. Denn immer steht die Gesundheit und das Glück von Menschen auf dem Spiel. Wen das kalt läßt, der hat in diesem Beruf nichts verloren.« Ein Beruf übrigens, der manchmal bis an die Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit geht.
Untersuchungen haben gezeigt, daß schon bei der Alarmierung der Puls auf einen Durchschnittswert von 140 steigen kann.

Wettlauf gegen die Zeit

Mit der Notfallmeldung beginnt der Wettlauf gegen die Zeit. Im Bundesdurchschnitt braucht ein Notarzt 8,8 Minuten von der

Zwei Patienten können in der fliegenden Intensivstation medizinisch versorgt werden.
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Alarmierung bis zum Eintreffen an Ort und Stelle. Ein ausgeklügeltes Informationssystem sorgt dafür, daß alle Personen der Handlung zur rechten Zeit das Richtige wissen und tun. Die Rettungsleitstelle der Berliner Feuerwehr im Nikolaus- Groß- Weg 2 ist dabei das Steuerzentrum, der Kopf des Unternehmens. Der hier ankommende »Notruf 112« wird so bearbeitet, daß sich beim diensthabenden Piloten im Klinikum Steglitz plötzlich der Pieper meldet. Über Display bekommt er die Anschrift des Unfallortes mitteilt, die Alarmzeit, die Einsatznummer, ein medizinisches Stichwort. Bereits nach zwei Minuten geht »Christoph 31« in die Luft.
     »Die Rehabilitation des Verunglückten muß schon im Straßengraben beginnen«, erklärt Prof. Dr. Norbert Haas. »Das ist der Grundgedanke der gesamten Notrettung. Ob zu Lande oder aus der Luft. Der Arzt soll zum Verletzten kommen, nicht der Verletzte zum Arzt. So schnell wie möglich. Je kürzer das therapiefreie Intervall, desto besser.« – Formuliert hat diesen simplen wie genialen Gedanken bereits 1938 der Heidelberger Chirurg Dr. Martin Kirschner. Es sollte jedoch noch Jahrzehnte dauern, ehe diese Idee das Fliegen erlernte, nicht nur am Boden zur tatkräftigen medizinischen Hilfe wurde. Als erste historische Luftrettungsaktion gilt dabei immer noch die 1870 geschehene Evakuierung Verwundeter aus dem von den Preußen belagerten Paris, als
zwei Sanitäter Verwundete in die Gondel eines Heißluftballons luden.
     Der Erfolg war so überzeugend, daß die Militärs bereits gegen Ende des vorigen Jahrhunderts an »dirigable Ballone für sanitätsdienliche Zwecke« dachten. Ehe daraus jedoch dirigable Helikopter wurden, verging noch viel Zeit. Der 29. September 1970 gilt als Gründungstag der deutschen Luftrettung, in der DDR hat es sie übrigens in der beschriebenen Form nie gegeben, lediglich die Nationale Volksarmee flog zivile Einsätze, wenn Ärzte im Einzelfall einen Hubschrauber anforderten.
     Vier Organisationen sind vom Gesetzgeber mit der flächendeckenden Luftrettung in Deutschland betraut: die ADAC- Luftrettung GmbH, die Deutsche Rettungsflugwacht (DRF), der Katastrophenschutz des Bundesinnenministers sowie Search and Rescue (SAR) der Bundeswehr.
     Erst sehr spät, am 13. Oktober 1987, erhielt Berlin »seinen« Rettungshubschrauber: »Christoph 31« wurde am Universitätsklinikum Steglitz stationiert. In der geteilten Stadt galt bis 1990 alliiertes Recht, Luftkorridore waren zu beachten, Überfluggenehmigungen einzuholen, Amerikaner mußten den Helikopter fliegen. Diese irdischen Hindernisse sorgten für gewaltige Umwege am Himmel. Nicht selten machte Berlin mit aufsehenerregenden »Luftnummern« von sich reden. Da war z. B. der Flug Nr. 40 099 vom 11. November 1985. Ein Orkan
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tobte über Mitteldeutschland, als die DRF- Alarmzentrale in Filderstadt eine Meldung aus Berlin erhielt: Im Klinikum Steglitz, so hieß es, war ein Patient gestorben, auf dessen Herz ein 15jähriges Mädchen in der Medizinischen Hochschule Hannover sehnsüchtig wartete, da das fremde Herz alle Eigenschaften besaß, um problemlos in ihre Brust verpflanzt werden zu können. Herztransporte müssen schnell erfolgen, da spätestens 180 Minuten nach der Entnahme des empfindlichen Organs der Zellverfall beginnt. Unter den herrschenden Witterungsbedingungen war an lebensrettende Pünktlichkeit im vorgeschriebenen Luftkorridor nicht zu denken. Kurzerhand faßte sich der DRF-Pilot ein Herz, und funkte die DDR- Behörden an. Und das Wunder geschah. Der Oberbefehlshaber der Luftstreitkräfte des Warschauer Pakts höchstpersönlich gab die direkte, zeitsparende Route von Berlin über DDR- Hoheitsgebiet nach Hannover frei, schenkte damit dem Mädchen das Leben.
     Der Hubschrauber ist eine Antwort auf die aus den Fugen geratene Verkehrsentwicklung. Immer mehr Fahrzeuge teilen sich die vorhandenen Straßen, immer schnellere, immer stärkere, wenn es heutzutage kracht, dann kracht es richtig.
     »In der Regel haben wir es mit Mehrfachverletzungen zu tun«, so Professor Haas. »Gerade die große Unfallchirurgie, also die Polytraumata- Behandlung, ist ohne Luftret-
tung undenkbar. Die Schnelligkeit des Hubschraubers gehört dabei ebenso zu seinen einsatztaktischen Vorteilen wie die Tatsache, daß er auf geradem Wege den Unfallort anfliegen, auch in Gebieten mit schlechten Straßenverhältnissen landen kann. Ein Rettungshubschrauber deckt innerhalb von 15 Minuten immerhin 2 500 km2 ab. Für ihn macht es keinen Unterschied, ob er ein >normales< Krankenhaus anfliegt, oder 30, 40 Kilometer weiter eine Spezialklinik. Aber für den Patienten ist das erheblich. Nehmen wir eine schwere Kopfverletzung. Ganz typisch. Normalerweise bringt der Notfallwagen den Verletzten ins nächste Krankenhaus. Dort schaut man sich ihn an. Es vergeht Zeit. Dann fällt die Entscheidung: Spezialklinik ... Aber die liegt nicht um die Ecke. Bis er dort ankommt, ist wieder wertvolle Zeit verstrichen ... Die Effektivität der Luftrettung ist unumstritten. «
     Die Idylle hat Zeit, sich auszubreiten, eine Katastrophe kommt sofort. Im Gespräch beginnt sie zumeist mit dem Wörtchen »plötzlich«. Plötzlich explodierte die Gasleitung, fiel das Flugzeug vom Himmel, war das Geld alle. Auch Johannes P. sagt »plötzlich«. »Plötzlich war ich ein Krüppel. Und hatte trotzdem Glück im Unglück. Ich lebe.«
     Johannes P. verdankt sein Leben »Christoph 31«, dem Berliner Rettungshubschrauber.
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© Edition Luisenstadt, 1997
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