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Tagelang hatte die Presse über das bevorstehende Ereignis berichtet, hatte Porträts veröffentlicht von den Favoriten. Ein sportlicher Wettkampf wurde zum gesellschaftlichen Ereignis erhoben. Das Dabeisein – ein Muß für die Berliner. Dreißig Männer 144 Stunden lang im Sattel – das durfte sich keiner entgehen lassen. Am Ende siegte das amerikanische Duo Floyd Mac Farlan und Jimmy Morlan mit 3 865,700 zurückgelegten Kilometern vor John Stol/Marcel Berthet, die lediglich eine Runde, also 150 Meter, weniger schafften – in 144 Stunden!
     Doch nicht nur der rasende Kreisel der Fahrer, das stete Auf und Ab der Beine interessierte die Zuschauer. Ein Augenzeuge, der Radsportjournalist Fredy Budzinski, weiß in seinem Buch »Das Berliner Sechstage-Rennen« 1) auch von dem Drumherum zu erzählen, von den allerhöchsten Weihen zum Beispiel, die das Rennen durch hochherrschaftlichen Besuch erfuhr.
»Die Sensation des zweiten Tages«, heißt es da, »war nicht der Kampf auf dem blanken Parkett der Winterbahn, sondern der Besuch des Kronprinzen. Der deutsche Thronfolger ließ seinen Besuch telephonisch um 10 Uhr anmelden und traf kurz vor 11 Uhr im Velodrom ein ... Der Kronprinz amüsierte sich sehr über den regen Appetit, den die Fahrer entwickelten, und freute sich über das gute Aussehen der nun schon 36 Stunden im Rennen befindlichen Fahrer.«
Klaus M. Fiedler
Rummel und Rundenjagden

Berliner Sechstage-Rennen, ein Karussell aus Sport und Show

Am 23. Januar wird ein weiteres Kapitel in der Geschichte der Berliner Sechstage-Rennen eingeläutet – die neue Radsporthalle an der Landsberger Allee im Stadtbezirk Prenzlauer Berg macht's möglich. Doch bevor der Startschuß zu den Rundenjagden auf den fest verfugten Brettern aus sibirischer Fichte ertönt, lohnt ein Blick zurück in die Anfangsjahre dieses ewig jungen Radsportereignisses, das seine Geburtsstunde im New Yorker Madison Square Garden 1896 hatte und dann – im Jahr 1909 in Berlin – seine deutsche und europäische Taufe erlebte.
     Die Ausstellungshallen am Zoo waren für den umtriebigen ehemaligen Direktor des Sportparks Friedenau, Georg Hölscher, genau der richtige Ort für das erste Berliner Sechstage-Rennen. In die Ausstellungshalle in der Hardenbergstraße wurde eine 150 Meter lange Holzbahn eingebaut; der Innenraum wurde in Fahrerlager und – heute würden wir sagen – VIP-Bereich umgestaltet. Und dann kam der 16. März 1909, und die Menschen stauten sich vor den Kassen.

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»Etwas Unerwartetes trat auch gegen 10 3/4 Uhr abends ein«, berichtet Budzinski weiter, »aber nicht auf dem Parkett der Bahn, sondern in der Hofloge, die zum zweiten Male während des Rennens den Besuch des Kronprinzen erhielt. Der Thronfolger erschien. Mit Hurra empfangen, nahm er in der Loge Platz und ließ sich von Direktor Buchwald den Stand des Rennens erklären ...
     Da der Kronprinz den Wunsch aussprach, einen Fahrer hinter Motorradführung fahren zu sehen, fuhr Robl hinter Krüger einige Runden, nachdem die Sechstage-Fahrer abgestiegen waren.«
     Diese sicherlich willkommenen Pausen waren allerdings selten für die Fahrer. Von jedem Team mußte immer einer auf der Bahn sein; fielen Fahrer aus, wurden neue Zweier- Mannschaften zusammengestellt.
     Eine physische Tortur also, die auf die Akteure mit ihren relativ schweren Rädern wartete. Dazu aus dem Budzinski-Zeugnis Zitate von Walter Rütt (1883–1964), einem Radsportidol, Sieger zahlreicher Sechstage-Rennen (so in New York 1907, 1909 und 1912 oder in Berlin 1910, 1911 und 1912) über die Strapazen dieser sechs Tage: »Man verliert plötzlich seine gewohnte Lebensweise, hat keine Ruhe zum Essen und kommt nicht zum Schlafen.
Man lebt eigentlich nur mit Hilfe des Managers, der einem das Essen in den Mund steckt, der einen wäscht, kämmt, umzieht, badet.« Gegen die Müdigkeit empfiehlt Rütt Tee oder Kaffee, »aber man soll dies solange als möglich hinausschieben, da
Sportmarketing in den Zwanzigern
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sonst die Reaktion zu früh eintritt«. Auch mit einem Eß-Tip hält der Rheinländer nicht hinter den Berg: »Essen darf der Fahrer nur unmittelbar nach dem Absteigen, um etwas Zeit zum Verdauen zu haben. Englischer Staudensellerie ist ein bewährtes Kräftigungsmittel. An Fleischspeisen gibt es in New York Hammelkotelett, gebratenes Rindfleisch, Huhn und vor allen Dingen Reis in verschiedenen Zubereitungen.«
     Spielte in den Anfangsjahren des Sechstage-Rennens das Doping, gern als Geißel des Sports unserer Tage bezeichnet, schon eine Rolle? Walter Rütt gibt darauf eine ehrliche Antwort. »Ich habe in keinem Sechstage-Rennen ein direktes Doping zu mir genommen. Kaffee, Tee und Pale Ale, welch letzteres ja etwas arsenikhaltig ist, waren für mich die größten Reizmittel, die ich bewußt nahm. Ich kann allerdings nicht beschwören, ob mir mein Manager nicht etwas in die Speisen getan hat, was mich widerstandsfähiger machte.«
     Rütt schildert dann sehr anschaulich ein Erlebnis, den Dopinggebrauch zu seiner Zeit betreffend. Danach nahm der Däne Andersen ein »giftiges Reizmittel« und wurde darauf wieder schnell munter und »fuhr wie besessen«. Doch der Schwung hätte nicht lange vorgehalten, so Rütt, »denn die Reaktion trat ein und machte den Dänen vollständig unfähig zum Fahren. Er wurde ganz gelb im Gesicht und sah schrecklich aus.«
Champagner und Bier. Kaviar und Bulette. Bei den Sechstage-Rennen trifft sich seit jeher das Berlin von oben und das von unten. Der Kronprinz und der Straßenkehrer. Vor allem in der eigentlichen Heimstatt dieses Spektakels, dem 1911 eröffneten Sportpalast in der Potsdamer Straße, stießen
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die sozialen Gegensätze aufeinander, wurden für 144 Stunden eins in ihrem Streben: Sehen und Gesehen-Werden.
Die da oben – das war der Heuboden. Billig die Plätze; man stand dichtgedrängt wie in einer Sardinenbüchse. Es stank nach Bier und Fusel, und der Zigarettenqualm wabberte durch das Kunstlicht.
     Die da unten – das war auch der Innenraum, im Sportpalast zu erreichen über eine Holzbrücke. Die besser Betuchten überschritten sie, des nachts zumeist. Sie kamen gegen Mitternacht aus den Theater- oder Operettenhäusern und genossen nun, in großer Abendgarderobe, ihren Auftritt.
     Der Feuilletonist Victor Aubertin (1870–1928) hat darüber seine ironisch-bissigen Bemerkungen gemacht: »In den Logen sitzt die Creme und trinkt Bier. Eine der Damen hat, täuscht mich nicht alles, die nackten Beine auf den Tisch gelegt. Beim Nähertreten bemerke ich, daß es nicht die Beine sind, sondern die Arme; aber wer soll das alles auseinanderhalten!« Und er kann sich den skeptischen Blick des Intellektuellen auf das andere Publikum nicht verkneifen, wenn er in dem gleichen Beitrag schreibt: »Wie sich überhaupt hier wieder einmal gut erkennen läßt, daß der Sport die Ertüchtigung der Rasse bewirkt. Man braucht nur die Gesichter in den oberen Rängen anzusehen.« 2)
     Auch Egon Erwin Kisch kann sich der Faszination des Sechstage-Rennens nicht entzie-
hen. Nach seinem Besuch des Jubiläumsrennens, den 10. Six Days im Jahr 1923, entstand die literarische Reportage »Elliptische Tretmühle«, die so beginnt: »Zum zehnten Male, Jubiläum also, wütet im Sportpalast in der Potsdamer Straße das Sechstagerennen. Dreizehn Radrennfahrer, jeder zu einem Paar gehörend, begann am Freitag um neun Uhr abends in die Pedale zu treten, siebentausend Menschen nahmen ihre teuer bezahlten Plätze ein, und seither tobt Tag und Nacht, Nacht und Tag das wahnwitzige Karussell.« Und auch für ihn ist dieses Tun, dieses schier endlose Kreisen auf einer winzigen elliptischen Bahn, widersinnig.
     Im Mittelalter, vermutet Kisch, wäre ein Inquisitor, der sich als Strafe solch eine Tortur ausgedacht hätte, selbst aufs Rad geflochten worden. »Aber im zwanzigsten Jahrhundert«, folgert Kisch, »muß es Sechstagerennen geben. Muß! Denn das Volk verlangt es. Die Rennbahn mit den dreizehn strampelnden Trikots ist Manometerskala einer Menschheit, die mit Wünschen nach äußerlichen Sensationen geheizt ist, mit dem ekstatischen Willen zum Protest gegen Zweckhaftigkeit und Mechanisierung.« 3)
     Die Sechstage-Rennen waren also von der ersten Stunde an eine Mischung aus Sport und Vergnügen. Und immer war Musik dabei, von denen da oben und denen da unten gleichermaßen angenommen und gefordert. In den 20er Jahren beispielsweise bildeten die Kapelle Gustav Gottschalk und
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die Sechstage-Rennen im Sportpalast eine untrennbare Einheit. Und in jener Zeit entstand auch der berühmte Sportpalastwalzer, die unverwechselbare Hymne des Hauses an der Potsdamer Straße, das noch 1972 ein Berliner Sechstage-Rennen erlebte und 1973 abgerissen wurde. Siegfried Translateur (1875–1945) komponierte diesen unter dem Titel »Wiener Praterleben« veröffentlichten Walzer und verkaufte ihn später an Paul Lincke. So richtig berühmt wurde dieser Walzer jedoch durch Reinhold Franz Habisch (1889–1964), eines jener Originale, ohne die der Sechstage-Rummel eintönig wäre. Habisch – jedermann kannte ihn nur unter seinem Spitznamen »Krücke« – saß immer oben auf dem Heuboden und schmückte die Pausen mit derben, witzigen, schnoddrigen und auch boshaften Zwischenrufen. Und als nun der Walzer gespielt wurde, pfiff er dazu, frech und laut. Und diese liebevoll- respektlosen Pfiffe wurden Teil der Melodie, sind bis auf den heutigen Tag vom »Wiener Praterleben« nicht mehr zu trennen.
     »Krücke« ist wohl die bekannteste Figur der Berliner Sechstage- Veranstaltungen bis in die 60er Jahre hinein. Sein Stammplatz war ganz oben in der zweiten Galerie der steil aufragenden Westkurve des Sportpalastes. Dort residierte er mit seinen Sprüchen, mit seinem Mutterwitz, mit seinen Zoten. Niemanden verschonte er, und

Walter Rütt, der »König der Sechstage-Rennen«

 

wenn er unüberhörbar zu einem Prominenten hinunterschrie, »Borg mir mal deinen Kopp, ick will meene Schwiegamutter erschrecken«, dann schlug sich das Auditorium vor Vergnügen auf die Schenkel, und der Angesprochene nahm's mit Gleichmut.

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»Krücke« aber ließ danach an einer Schnur eine Büchse hinunter in die Reihen für die »besseren Leute« und sammelte Kleingeld für das eine oder andere Freibier ein. Und – so gestärkt – setzte er zu seiner nächsten Conférence an.
     Warum nun mühten (und mühen) sich die Pedaleure so ab? Warum nehmen sie solche Strapazen auf sich? Der Ehre wegen? Gewiß nicht. Schon in den Anfangsjahren der Sechstage-Rennen bestimmte das Geld jeden Pedaltritt der Fahrer. Unumwunden beschreibt es Fredy Budzinski schon für das Premierenrennen im März 1909 so: »Ehe wir zur Veröffentlichung der Schilderungen schreiten, wollen wir noch ein Thema anschneiden, das nach dem Rennen viel erörtert worden ist, und zwar zu dem Verdienst, den die Fahrer in den sechs Tagen erzielten.«
     Die ersten Fünf des Rennens erhielten Preise von 5 000 bis 1 000 Mark.
Hinzu kamen »Startvergütungen, die sich bei den großen Fahrern auf 1 000 Mark pro Tag beliefen ... Zu diesen Einkünften kamen noch die Vergütungen der Fahrrad- und Reifenfabriken«, fährt Budzinski fort.
»Jeder angefangene Tag wurde voll ausbezahlt, und selten sind die Rennfahrer mit einer Rennbahndirektion so zufrieden gewesen, ... und das Hoch, das den Herren Direktoren in einer Versammlung der Rennfahrer nach dem Rennen ausgebracht wurde, kam aus vollem Herzen.« Wen wundert's?
     Die Sechstage-Rennen sind bis auf den heutigen Tag für die erfolgreichen Pedaleure ein erträgliches Geschäft geblieben, auch wenn die Akteure nicht mehr wie einst sechsmal 24 Stunden den harten Sattel drücken müssen. Denn nun werden die Rennen in den späten Nacht- und den Tagstunden »neutralisiert«.
     Der Grund: kaum Zuschauer in den Hallen. Und keine Zuschauer – keine Stimmung, kein Umsatz, kein Anreiz auch für Sponsoren, eine Prämie auszuschreiben, um die mehrere Runden lang gespurtet wird.
Das Rennen wird also erst wieder in den späten Nachmittagsstunden aufgenommen, exakt mit dem Stand des sportlichen Wettbewerbs, mit dem es unterbrochen worden ist.
     Die Popularität des Rennens hat darunter nicht gelitten. »Denn es hat sich«, wie Otto Ziege, ein Kenner der Szene, zu berichten weiß, »in seinem Grundmuster nicht geändert.« Ziege, inzwischen 70 Jahre alt, weiß, wovon er spricht. Er selbst bezeichnet sich als »radsportverrückt« und ist Sportlicher Leiter der nun wieder in Berlin beginnenden Sechstage- Veranstaltungen.
     In den 50er Jahren hat er selbst 38 dieser spektakulären Rennen bestritten und dabei nie eins gewonnen. Doch das Publikum, ob in dem im Zweiten Weltkrieg zerstörten und wieder aufgebauten Sportpalast oder in der Sporthalle am Funkturm, liebte ihn. Und wenn er, zumeist im schwarzen Trikot
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mit der weißen 8 als Startnummer, zu einem Rundengewinn ansetzte, dann skandierten die Ränge: »Otto! Otto!«
     Der gebürtige Charlottenburger hat nach seinem Abschied vom Rennsattel bei Berliner Sechstage-Rennen bereits als Sportlicher Leiter genügend Erfahrungen sammeln können. »Es genügt nicht mehr«, weiß er heute, »gute Rennfahrer zu verpflichten und die Gelder einzutreiben. Man muß sich auch um den Rahmen kümmern, um ein Showprogramm.« Das Fernsehen habe die Menschen anspruchsvoller gemacht, fährt er fort. Wer in die Halle kommt, wolle sich amüsieren, wolle unterhalten werden. Natürlich in erster Linie von den Fahrern, doch eben nicht nur von ihnen.
     Es ist also, wie es immer war: »Ein Riesenfeld für Sporttheater boten die sogenannten 6-Tage-Rennen ... Es war ein richtiges Volksvarieté, und der Thronfolger saß nur einen Rang niedriger als der Apache. Die Künstlerloge war meist überfüllt. Viel Publikum kam wegen des merkwürdigen Publikums, viele wegen der mitunter spannenden Kampfphasen, manche auch nur, weil sie mit einem gefährlichen Sturze rechneten, der nicht selten war, alle kamen sie wegen der Sensationen.« 4)
     Am 23. Januar ist es wieder soweit.
Quellen:
1      Fredy Budzinski: Das Berliner Sechstage-Rennen, Verlag Der »Rad-Welt«, Berlin 1909
2      Victor Auburtin, In: »Berliner Tageblatt« vom 3. März 1923
3      Egon Erwin Kisch: Elliptische Tretmühle, In: Der Rasende Reporter, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1972
4      Willy Meisl: Der Sport am Scheideweg, Heidelberg 1928
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© Edition Luisenstadt, 1997
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