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Hans Aschenbrenner
1. Januar 1907:
Erstmals Vorhang auf im Charlottenburger Schiller-Theater

Als endlich am Neujahrsabend 1907 im Charlottenburger Schiller-Theater erstmals der Vorhang aufgeht, ist das ein lokales und Berliner Ereignis zugleich. Und es ist keine Theatereröffnung im gewohnten Sinne.
»Da konnte man nicht Toiletten bewundern, da gab's keine aus verschiedenen Gründen interessante Damen, keine blasierten Frackträger, nein, es war ein Publikum, das nur der Kunst wegen gekommen war. Es ging ein ernster, würdiger Zug durch die Menge, die diesen wie ein lebender Berg aufsteigenden Raum bis zum Gipfel füllte«, schreibt tags darauf der »Berliner Lokalanzeiger«. Wer befindet sich nicht alles unter den Gästen: so hervorragende Repräsentanten der Bühnen, Musikliteratur und bildenden Künste wie Ernst von Wildenbruch, Engelbert Humperdinck, Prof. Gernsheim, Prof. Richard Voß, Prof. Ludwig Manzel; ganz besonders zahlreich vertreten ist das Theater in Gestalt des Königlichen Schauspiel- Regisseurs Adler, durch Rittner, Patry, Froböse, durch verschiedene Direktoren

und andere Persönlichkeiten. In den vorderen Reihen bemerkt man Berlins Oberbürgermeister Kirschner, den Staatssekretär Freiherrn von Stengel, die Gemahlin des Eisenbahn-Ministers von Breitenbach, Geheimrat Hinckeldeyn aus dem Kultusministerium, den Geh. Baurat Schwechten, den Zensor Regierungsrat v. Glasenapp.
Das Publikum – von Wildenbruch und Echrader bis Kirschner und Bebel – vertritt im Grunde alle Gesellschaftsklassen.
     Mit Mozarts Fanfare »Ave verum«, die in den Vorräumen ertönt, wird der feierliche Akt eingeleitet. Kostümierte Bläser, deren mittelalterliche Heroldstrachten allerdings eher für die Festveranstaltung an einem Hoftheater als zur Eröffnung eines Volkstheaters passen, lassen sie erklingen.
Eine Neuheit ist die allmähliche Verdunkelung des Raumes. Alwine Wiecke spricht als Muse einen Weihespruch, der von Freiheit der Kunst und der Menschheit kündet – dann beginnt die Aufführung der »Räuber«. Ihr folgt, Mitternacht ist vorbei, noch ein festliches Beisammensein der Freunde und Gönner, über das im »Berliner Tageblatt«, Ausgabe vom 2. Januar, nachgelesen werden kann: »Der alte, für alles Junge noch begeisterte Geheimrat Wilhelm Förster sprach geistreiche Worte, Oberbürgermeister (von Charlottenburg – H. A.) Schustehrus, ein ausgezeichneter Redner, ließ Herrn Löwenfeld und den Baumeister Littmann
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Das Charlottenburger Schiller-Theater. Ansicht von der Bismarckstraße
in aeternum leben, und Direktor Löwenfeld selbst, der praktische Idealist, wie er genannt wurde, verbreitete sich in interessanten Ausführungen über die Schiller-Theater- Idee.« Für Raphael Löwenfeld und seine Mitstreiter hat sich mit dem Charlottenburger Schiller-Theater eine langgehegte Sehnsucht erfüllt. 13 Jahre zuvor hatten sie mit geringen Mitteln eine Organisation geschaffen, die
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sich nach Paragraph 2 ihrer Statuten »die Beförderung und Unterhaltung volkstümlicher Schauspiele unter dem Namen Schillertheater« zur Aufgabe machte. Erzeugnisse der dramatischen Kunst sollten fortan einer breiten bürgerlichen Schicht und auch jenen zugänglich gemacht werden, die sich dies wegen der Beschränktheit ihrer Mittel bisher einfach nicht leisten konnten. Zu einem erschwinglichen Preis wird damals das alte Wallner-Theater in gleichnamiger Straße gepachtet – fortan, da im Osten liegend, »Schiller-Theater O.« genannt –, im übrigen alsbald auch stark aus dem Westen frequentiert. Hinzu kam etwas später eine weitere Schillerbühne im Berliner Norden durch Pachtung des ehemaligen Friedrich- Wilhelmstädtischen Theaters in der Chausseestraße – das »Schiller-Theater N.«.
Beide wurden durch das gleiche Ensemble bespielt, stützten sich im wesentlichen auf ein Abonnement, das pro Jahr 22 Stücke für 22 Mark bot. Die Bühne sollte nun auch solchen Schichten wie Handwerkern, Kleingewerbetreibenden und der wachsenden Arbeiterschaft zugänglich werden. Die Schiller-Theater- Gesellschaft weitete ihre Aktivitäten alsbald nach verschiedenen Richtungen hin aus. Dazu gehörten Dichter und Tondichterabende, für die der Magistrat der Stadt Berlin den Bürgersaal des Rathauses und dessen Beleuchtung unentgeltlich zur Verfügung stellte; »volkstümliche Kunstausstellungen«, gleichfalls im Bürgersaal
des Rathauses; neun bis zehn Gemeindeschülervorstellungen in jedem Jahr – durch eine Verbindung mit dem künstlerischen Ausschuß des Lehrervereins konnte ein Zusammenhang zwischen der Klassenlektüre und der Vorstellung im Schiller-Theater hergestellt werden.
     Immer stärker wurden indessen die Wünsche nach einem eigenen Haus. Nach mancherlei vergeblichen Bemühungen konnte man sich in Charlottenburg, damals noch eine Berlin benachbarte Stadt, festsetzen, hier Ecke Bismarck- und Grolmanstraße, am »Knie«, wo heute der Ernst-Reuter-Platz ist, ein geeignetes Grundstück finden und einen Pachtvertrag für volle 25 Jahre mit einem Recht der Option für weitere 25 Jahre aushandeln. Nach Beginn der Erdarbeiten am 25. Oktober 1905 dauerte es dann nur ein reichliches Jahr bis zur Fertigstellung des Theaterneubaus.
     Der Vorplatz ist im Stil der Zeit gärtnerisch gestaltet. Von vornherein als »Volkstheater« angelegt, ist für den Zuschauerraum (1 525 Plätze) die Form des alten Amphitheaters mit stark ansteigendem Parkett ohne Logen gewählt worden. Statt der üblichen »Ränge« gibt es nur einen »Oberring«. Ohne viel Prunk und Zierat, ist es ein Ort, um zu sehen, weniger, um gesehen zu werden. In lockerem Zusammenhang mit dem Theater steht ein Restaurationsgebäude (unterverpachtet) und ein im Hof befindlicher Saal für die von der Gesellschaft eingerich-
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teten Volksunterhaltungsabende. Das neue Haus in Charlottenburg bekräftigt alsbald das Schiller-Theater- Image, dem Publikum, darunter viele Abonnenten und Stammbesucher, zu möglichst geringen Preisen ein umfangreiches Repertoire von Klassischem und Modernem zu bieten. Sowohl Schauspiel als auch Drama und Lustspiel werden gepflegt. Und immer Neues läßt man sich einfallen. So inseriert die Direktion bereits am 7. Januar 1907 in verschiedenen Berliner Zeitungen, daß in wenigen Wochen, am 15. Februar, in den Räumen des neuen Theaters eine Bühnenschule eröffnet wird, deren Unterricht kostenlos ist. Gegenleistung der Schüler – sie verpflichten sich, bei bestimmten Proben und Vorstellungen in stummen oder kleinen Rollen mitzuwirken. Gegen Entgelt ist die Teilnahme an den Unterrichtsfächern und Vorträgen auch Damen und Herren gestattet, die sich nicht für die Bühnenlaufbahn ausbilden wollen.
     Das Schiller-Theater ist über Jahre hinweg für junge Talente ein Sprungbrett zu den literarischen Bühnen gewesen. Eine Zeitlang gelang es, den Charakter eines Volkstheaters zu erhalten. Immer schwieriger wird es dann jedoch, den wirtschaftlichen Betrieb aufrechtzuerhalten. 1923 mußte es von der Schiller-Theater AG an die Generalverwaltung der Theater verpachtet werden. Zwischenzeitlich in Privathand gegeben, kurzzeitig auch geschlossen, wurde das Haus 1938 nach nationalsozialistischer Manier um-
gebaut und büßte seinen ursprünglichen Charakter nun völlig ein. Phosphorbomben führten in der Nacht vom 22. zum 23. November 1943 zum Ausbrennen des Hauses. Im erhalten gebliebenen Restaurationssaal spielte das Ensemble dann noch bis zur Ausrufung des »totalen Krieges« und der damit befohlenen Schließung der letzten Berliner Theater.
     In den Jahren 1950/51 erfolgte der Wiederaufbau des Theaters unter Einbeziehung der Reste der alten Ruine und bei Rückgriff auf möglichst viele der ursprünglichen Elemente. Am 6. Dezember 1951 mit Schillers »Wilhelm Tell« unter Regie von Boleslaw Barlog wiedereröffnet, wurde es in den folgenden Jahren zum wichtigsten Theaterbau, zum Großen Haus der Staatlichen Bühnen im Westteil der Stadt.
     Seit dem 1. Januar 1996 wird dieses legendäre Berliner Theater nun von der Deutschen Entertainment AG betrieben. Auf einer Pressekonferenz am 9. Dezember 1996 informierte Geschäftsführer Peter Schwenkow darüber, daß – nach diversen Aufführungen amerikanischer und englischer Musicals – am 12. Juni 1997 als erste Eigenproduktion das Musical des Berliner Sängers Klaus Hoffmann »Brel – Die letzte Vorstellung« auf der Bühne des Schiller-Theaters Uraufführung haben wird.

Bildquelle:
»Deutsche Bau-Zeitung«, Nr. 1/1907

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