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von zwei Meilen auf »eigene Hand« (für Lohn) arbeiten darf, der der Gilde beigetreten ist. Adligen war erlaubt, auf ihrem Besitz einen Schneidergesellen für sich arbeiten zu lassen, jedoch nicht für die Bauern. Von Interesse ist auch die Festlegung, daß ein Meister nicht mit »verdächtigen« oder »lüderlichen« Personen männlichen oder weiblichen Geschlechts Umgang pflegen darf, wenn er den Ausschluß aus der Gilde vermeiden will.
     Mit Beginn des 17. Jahrhunderts fanden die Regeln des Zunftrechts in der Praxis immer stärker mißbräuchliche Anwendung; »das Fressen und Saufen« hatte den äußersten Grad erreicht. Überwiegend tolerierten die Herrscher die Mißstände, wie überhöhte Löhne, blaue Montage, Leichtsinn, Unverantwortlichkeit, die Verlängerung der Zahl der Wanderjahre, weil es vornehmlich die Innungen waren, welche die Steuern für die städtischen Angelegenheiten aufbrachten. Der Beginn eines Umschwungs fällt erst in die Periode des Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1620–1688), des Großen Kurfürsten. Das Archivmaterial beweist, wie sorgfältig er bis ins kleinste Detail alles prüfte, auch die unscheinbarste Angelegenheit nach allen Richtungen abwog, und schließlich selbst die strengste Kontrolle über die Innungen ausübte. So hat er am 24. März 1643 das Privilegium der Schneider-Innung zu Berlin und Cölln erneuert. Sein erster Erlaß von prinzipieller
Werner Böhm
Der Große Kurfürst
und die Schneider

Nachdem in Berlin die Bäcker 1272, die Kürschner 1280, die Schuhmacher 1284 mit Innungsrechten ausgestattet worden waren, erhielten die Schneider unter der Regierung von Markgraf Otto V. dem Langen (nach 1244–1298) und Albrecht aus dem Hause der Askanier (?–1300) am 10. April 1288 ihren Gildebrief. Für die weitere Entwicklung der Schneider-Innung haben die im Jahre 1307 erfolgte Vereinigung von Berlin und Cölln sowie das enorm zunehmende Streben nach Prunk, verbunden mit den seltsamsten und abenteuerlichsten Kleiderformen, starke Impulse gegeben. Ausgeprägten Charakter trägt die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, die Regierungszeit Joachims II.(1505–1571; Kurfürst seit 1535) . Sein Geist gab auch der Schneider-Innung fröhliches Leben; der geputzte Wams und die Pluderhose waren in Mode gekommen. Nicht nur der Adel, auch die Patrizier und einfachen Handwerksleute folgten dem Beispiel. Teilweise wurden bis zu 100 Ellen (1 preußische Elle = 66,69 cm) des feinen Seidenstoffes zur Füllung der ungeheuren Pludern benötigt.
     Joachim II. legte auch fest, daß nur der Geselle in Berlin und Cölln und im Umkreis

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Bedeutung – vom 12. Februar 1644 – wandte sich gegen die Krämer, Hausierer, Pfuscher, Ver- und Ankäufer, die dem Gewerbestand, dem Ansehen der Handwerker Schaden zufügten. Durch ihn wurden der Aufkauf von Waren und deren Weiterverkauf geregelt. Aber auch der Große Kurfürst kann nicht umhin, in einem vom brandenburgischen Landtag verabschiedeten Erlaß vom 26. Juli 1653 den Schneidern, Schmieden, Goldschmieden die Summe ihrer althergebrachten Rechte zu gewährleisten, jedoch mit der Einschränkung, daß die Obrigkeit die Aufsicht und Jurisdiktion über die Zünfte behalte und daß auch »fremde« Handwerker aufzunehmen sind. Aufgrund dieses Erlasses konnte die Schneidergilde noch 1655 zu Berlin-Cölln bestimmen, daß die Innungskinder, »es seien Knäblein oder Mägdlein, die volle Innung haben sollten«.
     Kurfürst Friedrich Wilhelm beendete den Zustand, daß ein Großteil der Bevölkerung sowie uneheliche Kinder von der Zunft oder der Erlangung eines Handwerks ausgeschlossen wurden, ein Ende. Mit besonderem Nachdruck wandte er sich gegen die Bestrebungen jener Zünfte, die sich seinem Ziel, größere Freiräume für Handel und Gewerbe zu schaffen, feindlich entgegenstellten. Deren Bemühungen waren insbesondere gegen das Edikt vom 19. Januar 1661 gerichtet, das den Zuwanderern

neben sechsjähriger Abgabenfreiheit freies Bauholz und besonderen Schutz versprochen hatte. Seinem umsichtigen Sinn für Kolonisation entsprach die Gründung neuer Stadtteile, so zuerst des Friedrichswerders und später der Dorotheenstadt, wo sich naturgemäß auch Schneider ansiedelten.
     Im Jahre 1662 erhielten die Schneider auf Friedrichswerder ein 17 Artikel umfassendes Privileg, das die Order aufhebt, wonach ein Lehrling die Reinheit seiner deutschen Abstammung nachzuweisen hatte. Aufgehoben wurden auch die Mißbräuche der Lehrjungentaufe. So war es üblich, dazu sogenannte Taufpaten zu bestellen und einen Meister als Prediger auftreten zu lassen. Die Reden waren meist mit unflätigen Zoten gespickt, der Lehrling wurde mit Wasser oder auch mit Brei übergossen und die gesamte Gesellschaft schmauste und zechte auf seine Kosten. Die Lehrlingstaufen wurden bei 100 Talern Strafe und Verlust der Innungsprivilegien verboten. Interessant sind auch einige Festlegungen im Zusammenhang mit der Entwicklung von Friedrichswerder. So war die Gründung einer Schneider-Innung nur gestattet, sobald neben einer bestimmten Anzahl von Schneidergesellen auch neue Meister vorhanden waren, um einen Altmeister zu benennen.
     Verfügt wurde auch, daß die jetzigen oder zu-

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künftigen Meister auf Friedrichswerder ein eigenes Haus haben müssen. Schneidermeister aus Berlin und Cölln konnten je einer in die Zunft auf Friedrichswerder aufgenommen werden, doch mußten auch sie hier ein Grundstück besitzen. Dem praktischen Sinn des Kurfürsten entsprach es auch, daß er die gegen Meister wegen Beleidigung erhobenen Strafgelder von zehn Talern nicht mehr in die Innungs-, sondern in die Stadtkassen fließen ließ. Den Schneidern mißfiel neben dieser auch die Festlegung, daß sie zum Garnisonsdienst herangezogen werden konnten, der durch den Festungsbau der Stadt Berlin bedingt war.
     Von erheblicher Bedeutung für das Zunftwesen war das Potsdamer Edikt vom 29. Oktober 1685, das einen Wendepunkt in der gewerblichen Entwicklung Brandenburg- Preußens darstellte. Dem Großen Kurfürsten kam die Emigration großer Kreise von Hugenotten, unter ihnen viele Handwerker, sehr zustatten.
     Die ansässigen Meister sahen mit Mißtrauen auf die mit offenen Armen aufgenommenen Refugiés und verhielten sich feindselig. Anfangs wurden die Schneider weniger von dieser Bewegung berührt, später aber ließen sich auch französische Schneider, sog. »marchands tailleurs«, in Berlin nieder.
     Ein ehrenvolles Zeugnis für den Gemeinsinn der Berliner Schneider-Innung ist eine auf den 6. Oktober 1687 datierte Verordnung.
Durch sie wird der Bau eines Hauses für die armen alten Zunftmeister wie auch für kranke Gesellen verfügt.
     Das letzte Werk des Großen Kurfürsten auf gewerblichem Gebiet war die große Polizeiordnung vom 3. Januar 1688, die das gesamte Zunftwesen umfassend regelte. Dieser Rechtsakt ist als die erste allgemeine Ordnung für das Handwerk anzusehen.
     Als Kurfürst Friedrich Wilhelm zu Grabe getragen wurde, lebten in Friedrichswerder und Dorotheenstadt 20 000 Einwohner, unter ihnen 200 selbständige Meister der Schneider-Innung.

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