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Alice Schwarzer
Marion Dönhoff

Ein widerständiges Leben

Kiepenheuer & Witsch, 1996

Alice Schwarzer bekennt, daß »die Gräfin« sie seit vier Jahrzehnten beschäftigt hat, daß sie sich ohne dieses Vorbild früher als zukünftige Journalistin nicht hätte denken können. Sie macht aus ihrer ungebrochenen Verehrung keinen Hehl und läßt ihre Leser miterleben, wie diese erste und autorisierte Biographie der »Zeit« Herausgeberin - Schwarzer spricht von der »Unerhörtheit eines Lebensweges« - entsteht. Dabei geht sie durchaus augenzwinkernd mit sich selbst um, auch wenn sich ein wenig Selbstgefälligkeit darüber durch die Seiten tummelt, daß die moralische Institution Dönhoff der feministischen Institution Schwarzer Einblick in ihr Leben gestattet.
     Ihr Fazit über dieses unerhörte Leben stellt Alice Schwarzer voran: »Dreimal ist Marion Dönhoff ausgebrochen. Sie hat ihre >Klasse< verraten, indem sie gewachsene Privilegien hinter sich ließ und sich neu bewährte. Sie hat ihre Heimat >verraten<, indem sie bereit war zum politischen Verzicht auf Ostpreußen und dafür mit als erste eintrat. Sie hat ihr Geschlecht >verraten<, indem sie aufbrach zu den Gipfeln, die exklusiv von Männern besetzt sind, und sich dort ungetrübt wohl fühlt. Gleichzeitig aber ist sie in allen drei Domänen - in Klasse, Herkunft wie Geschlecht - tief verwurzelt geblieben.« (S. 16)
Als siebentes und jüngstes Kind auf Schloß Friedrichstein unweit von Königsberg 1909 geboren, wächst sie in das disziplinierte und karge Leben (»Gut gegessen wurde nur, wenn Gäste da waren«, S. 54) auf diesem Adelssitz, wird sie ein eigenwilliger Wildfang, der vom Oberkutscher das Pfeifen

auf den Fingern lernt, gern klettert und sich bei den Pferden aufhält. (»Meine Erziehung war ganz dem Zufall überlassen.« S. 50) Glückliche Jahre dann mit Brüdern und Schwestern, Cousin und Cousine und das Ideal: »Wenn wir mal alt sind, stoßen wir die Angeheirateten ab und ziehen alle wieder zusammen.« (S. 61) Dann setzt Komteß Dönhoff es durch, daß sie, 15jährig, 1925 allein von Schloß Friedrichstein nach Berlin ziehen darf, um das Abitur zu machen, als einziges Mädchen in einer Jungenklasse. Es folgt ein Studium der Volkswirtschaft in Frankfurt, nach der Machtergreifung der Nazis setzt sie es in Basel fort. Als sie 1937 die Verwaltung der Güter übernimmt, fällt es auch hier, weit weg vom braunen Machtzentrum, auf, daß sie nie mit »Heil Hitler« grüßt. Marion Dönhoff wird aktiv im deutschen Widerstand, berichtet für dieses Buch zum ersten Mal über ihre Rolle beim 20. Juli. Im Januar 1945 bei 20 Grad minus und meterhohen Schneewehen der Treck in Richtung Westen ...
     Viele Jahre später schreibt sie: »Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich imstande war, für mich selbst das zu akzeptieren, was dann später kam: der Verlust der Heimat.« (S. 152)
Sie landet in der britisch besetzten Zone, macht sich im Oktober 1945 auf den Weg zum Nürnberger Prozeß, den sie auch heute noch kritisch sieht. Anfang 1946 erhält Marion Dönhoff ein Telegramm aus Hamburg, von den »Zeit«-Machern. »Wenige Wochen spätere sollte ein Abenteuer beginnen, das seit über 50 Jahren anhält und in dessen Verlauf Marion Dönhoff nicht nur eine Zeitschrift, sondern ein ganzes Land moralisch mitprägen und zu einer der in der Welt meist respektierten deutschen Stimmen werden wird.« (S. 162)
Der Reiz dieses Buches, das man auch nach dem ersten Lesen gern wieder zur Hand nimmt, wird nicht zuletzt durch Texte von Marion Dönhoff bestimmt, so der Abschnitt »Im Rhythmus der Jahreszeiten«, der einen mitnimmt in die ostpreußische Landschaft, und der Brief an ihren Bruder

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Dieter aus dem Jahre 1941. Fotos von Schloß und Park, aus dem Kreis der Familie und von Freunden ergänzen stimmungsvoll, auch die Bilder, die sie mit den anderen »Großen dieser Welt« zeigen. Alice Schwarzer schließt den biographischen Teil mit einem Interview. Auf die Frage »Was bleibt« antwortet Marion Dönhoff: »Es gibt auch Hoffnung. Denn wenn man lange genug Politik beobachtet, dann weiß man, daß das einzige Gesetz, das in der Geschichte Gültigkeit hat, der dialektische Umschlag ist.« (S. 245) Auszüge aus Dönhoff-Artikeln zu den Themen Demokratie & Verantwortung sowie Ostpolitik & Entspannung aus den Jahren 1950 bis 1995 geben willkommene Gelegenheit, in der älteren und jüngeren »Zeit«-Geschichte zu blättern.
     Jutta Arnold
Spezialisten auf dem jeweiligen Gebiet nicht unbedingt Neues bringt, aber einem weiten Leserkreis von Interessenten erneut (manchmal nach sehr langer Zeit) Einblick in Vergangenes verschafft.
     Bennewitz hat sich dankenswerterweise einer Person zugewandt, die es durchaus verdient, dort wieder in Erinnerung gebracht zu werden, wo sie drei Jahrzehnte ihres Lebens gewirkt hat. Weißensee ist ja voll mit Straßennamen, die Gedenken an die mehr oder weniger verdienstvollen Immobilienmakler vermitteln, die das einstige Rittergut parzellierten und dem Ort damit den Weg in eine moderne Ära öffneten - bis hin zu deren Vornamen und dem Ortsnamen des Stammsitzes ihrer Firma. Von den Besitzern, die das Rittergut vor Herrn Pistorius innehatten, ist wenigstens einer durch eine Straßenbenennung geehrt worden - eben der Protagonist des vorliegenden Heftchens. Das hängt aber sicher auch damit zusammen, daß Nüßler im preußischen Justizapparat eine gewisse (recht mühevolle, daher auch der durchaus hintersinnig gemeinte Titel!) Karriere machte, zeitweilig gar Direktor des Kriminalkollegiums im Preußischen Kammergericht und ab 1750 Landrat des Kreises Niederbarnim war. Seine Biographie hat schon bald nach seinem Tode (1783) ein mit ihm persönlich Bekannter, der vielschreibende Oberkonsistorialrat Anton Friedrich Büsching, vorgelegt. Bennewitz ergänzt diese mehr als 200 Jahre alte Würdigung durch Dokumente aus dem Archiv der Evangelischen Pfarrgemeinde Weißensee und aus dem Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam. So rundet er die mit Querelen und Rückschlägen reichlich angefüllte Lebensgeschichte eines Staatsbeamten des 18. Jahrhunderts durch Einzelheiten über sein Wirken als Gutsherr und Kirchenpatron wie auch als Landrat ab und lockert zudem die trockenen Mitteilungen seines Vorgängers Büsching durch literarisch gestaltete Einsprengsel auf. So ist ein lesenswertes Schriftchen
Joachim Bennewitz
Eine preußische Karriere. Aus dem Leben des Carl Gottlob von Nüßler
Verein Weißenseer Heimatfreunde e. V., 1996

Es muß nicht unbedingt immer der Schatz bis dato ungehobener wissenschaftlicher Erkenntnisse sein, der aus den vor längerer oder kürzerer Zeit zugänglich gemachten Archiven gehoben wird, um dem Heimathistoriker das beruhigende Gefühl zu geben, daß die Geschichte seines lokalen oder regionalen Lebenskreises einer weiteren Öffentlichkeit lebendig gemacht wird. Es kann durchaus die Wiedererweckung eines - für den Kenner der Historie - schon seit langem bekannten Geschehens oder die Wiederbelebung einer schon einmal mitgeteilten Lebensgeschichte sein, die dem


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entstanden, das dem Anlaß seines Erscheinens - dem fünfjährigen Bestehen des Vereins der Weißenseer Heimatfreunde - in hübscher Weise gerecht wird. Man wünscht der kleinen Publikation (die darüber hinaus noch sauber und gut aufgemacht ist) einen weiten Leserkreis - und das nicht nur in Weißensee, sondern z. B. auch in Neugersdorf, wo Nüßler ebenfalls »Erbherr« (will sagen: Gutsbesitzer) war.
     Allerdings muß das berufsspezifische Interesse des rezensierenden Historikers um Aufklärung über die offenbar verwickelten verwandtschaftlichen Verhältnisse zwischen preußischem und englischem Königshof bitten, wenn er auf S. 32 liest, daß Nüßler in erfolgreicher diplomatischer Mission in Hannover 1730 eine Erbschaftsangelegenheit der preußischen Königin (das war zu dieser Zeit Sophie Dorothea, geborene Prinzessin von Hannover) regelt, die dem Leser als Tochter des zwei Jahre zuvor verstorbenen britischen Königs George II.
     (gemeint ist offensichtlich der 1727 verstorbene George I.) und der Königin Sophie Dorothea von Preußen (zugegeben: es ist schon verwirrend, daß die Mutter der preußischen Königin ebenso wie sie auch Sophie Dorothea hieß!) vorgestellt wird: Ist die Sophie Dorothea nun die Frau oder die Schwiegermutter des Soldatenkönigs? Oder doch nicht etwa, Gott behüte, beides??? Oder muß es nicht doch (womit das widernatürliche Verwandtschaftsverhältnis in der Familie des Soldatenkönigs aufgeklärt wäre) statt »Tochter« richtig »Schwester« heißen? Ein offenbarer Druckfehler findet sich auch auf S. 42. Die Berliner Richter gaben nicht etwa kompliziert scheinende Vorträge an Juristische Fakultäten weiter, sondern Vorgänge.
     Kurt Wernicke
Julius Grützke/Thomas Platt
Berlin im Griff

Mit 1000 Adressen und Empfehlungen

Rowohlt Verlag, Berlin 1996

Wer sich vornimmt, einen Berliner Kneipen-, Restaurant-, Einkaufs- oder Szeneführer zu veröffentlichen, weiß natürlich, daß der Markt mit solcherart Publikationen (vor allem auch quantitativ) übersättigt ist. Julius Grützke und Thomas Platt schreiben einzeln oder gemeinsam über Berlin, insbesondere über Leute, Läden und Lokale: kürzere Sachen in der »Berliner Zeitung«, und auch Bücher, wie beispielsweise »Einzelstücke. Geheimtips zum Einkaufen in Berlin«, unter beider Autorenschaft 1995 im FAB Verlag erschienen. Mit »Berlin im Griff« liegt jetzt ein weiteres Buch vor: »Einkaufsführer, Restaurantführer und Szeneführer in einem«, »das ultimative Hauptstadt-Handbuch - mit 1000 Adressen und Tips für Tage und Nächte«, wie im werbenden Klappentext ausdrücklich betont.
     Ganz offensichtlich hatten die Autoren beim Verfassen ihres Buchmanuskripts stets nicht nur Touristen, sondern vor allem die Berliner selbst vor Augen. Wie geht es denen, die hier leben? Wie kommen sie durch den Alltag? Wie gelangen sie an die begehrten Karten für die Philharmonie? In welcher Bar sind die Nächte am längsten? Wo gibt es am Sonntagmorgen die erste Currywurst? Worauf geht die heutige Kneipenlandschaft der Stadt wie auch im nahen Umland zurück, und was kennzeichnet sie? Wo läßt sich, wenn es denn schon passiert, eine durchzechte Nacht in aller Ruhe auskurieren? Womit muß rechnen, wer dem traditionellen Silvestertreffpunkt der Szene auf der Spitze des schon vor langer Zeit angelegten Kreuzberges am Rande gleichnamigen Bezirks zustrebt? usw. usf.
     Die Autoren haben viele Details in ihr Buch ge


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packt, sie lassen den Leser an ihren Intimkenntnissen teilhaben. Daß sie sich dabei nicht total in Einzeldarstellungen verlieren, ist vor allem der von ihnen gewählten Gliederung zu verdanken. Sie bringt Ordnung in die Fülle des Materials und vor allem auch der Tips, die in jedem einzelnen Fall mit Namen und Adresse, Haus- und Telefonnummer sowie Öffnungszeiten (sie allerdings dürften die größte »Variable« sein) versehen sind - Tips zum Wohnen und Verkehr; zum Einkaufen und für Entdeckungen im Fachhandel (über Kleidung und Einrichtung bis zu Hobby, Sport und Spiel); zum Essen im Stehen ebenso wie für das Speisen in feinen Restaurants oder auch beim Wiener, Italiener, Griechen, Türken, Chinesen, Thailänder usw.; zu den Eigenarten von Berliner Cafés und Kneipen, Bars und Diskotheken; zu Theater, Kino und Varieté; zu besonders originellen (»magischen«) Ecken in der Stadt wie für Ausflüge inner- und außerhalb Berlins (»Berlin am Meer«).
     Leider enthält das Buch sachliche Fehler. So ist die Wilhelm-Pieck-Straße nicht in Tal-, sondern in Torstraße umbenannt worden. Das Colosseum befindet sich nicht im Besitz der UFA. Keinesfalls einleuchtend ist, warum im ersten Abschnitt der Publikation unter der Überschrift »Bezirke« - einer gewiß interessanten, detailreichen Beschreibung bezirkstypischer Merkmale, einbezogen auch die jeweiligen Bewohner - plötzlich Potsdam auftaucht, wohingegen Friedrichshain und Hellersdorf unterschlagen werden. Nicht selten ist in der Publikation eine gewisse Distanz, sind auch Vorurteile gegenüber dem einstigen Ost-Berlin spürbar, die das objektive Bild trüben. Weit über das Ziel schießen die Autoren dort hinaus, wo sie auf ideologisch geprägtes Vokabular aus vergangenen Zeiten zurückgreifen: »spitzbärtige Zeiten«, »Pankow«, »Zone«, »treueste Hüter des real vegetierenden Sozialismus« usw. Das Nikolaiviertel ist ganz gewiß schon zu DDR-Zeiten nicht jedermanns Geschmack gewesen, aber als »Vorzeigeobjekt der bolschewikischen Stadtpflege«
(vielleicht gar nach dem Muster des einstigen »großen Bruders« angelegt) ist es schlichtweg fehlinterpretiert.
     Mängel dieser Art feststellen zu müssen ist um so bedauerlicher, da die Publikation eine Fülle ins Schwarze treffender Beobachtungen und interessanter Anregungen enthält. Der Leser kann nachvollziehen, daß »die Möglichkeiten, die Zeit nicht zu vertreiben, sondern mit ihr zu gehen, verstreut über die ganze Stadt (sind)«. Sehr nutzbringend ist auch ein Register, in dem Firmen, Personen und Branchen aufgelistet werden.
     Und wer nun Silvester tatsächlich zum »Gipfel« des Kreuzberges aufbrechen will, sollte sich das zumindest gut überlegen, denn »er wird schon auf dem Weg massiv unter Beschuß genommen. Oben auf der Plattform feiern dann ein paar hundert Versprengte, die sich an der Kühle der Nacht und an den wärmenden Getränken erlaben, ein Bodensatz der Party-Crowd: Nichteingeladene, Rausgeworfene, Überdrüssige und notorische Spätkommer, die hier in der Gesellschaft der durchs Sieb Gefallenen ins neue Jahr starten.« (S. 304)
Hans Aschenbrenner
H. Schwenk/H. Weißpflug
Umweltschmutz und Umweltschutz in Berlin (Ost)

Edition Luisenstadt, Berlin 1996

Das vorliegende Buch ist ein wertvoller, konstruktiver Beitrag zur Aufbereitung der Geschichte der DDR. Am Beispiel der Umweltproblematik dokumentiert es überzeugend den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Umweltpolitik und darüber hinaus der Gesellschafts und Wirtschaftspolitik in der DDR. Der Wert der Schrift


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besteht in der empirischen Beweisführung und der Anwendung des historischen Prinzips der Darstellung. Die Autoren bemühen sich um die »Einbettung« der Ostberliner Spezifik in die Umweltproblematik der DDR (insofern geht der Inhalt der Schrift weiter als der Titel). Der logische Aufbau des Buches nach Teilen und Kapiteln, die interessante Darstellung und verständliche Sprache sprechen auch Nichtfachleute an.
     Der durchweg positive Gesamteindruck des Buches läßt dennoch einige Wünsche und Fragen offen. So die stärkere Beachtung anderer Quellen der Umweltbelastung in Ost-Berlin (Hausbrand, Verkehr), die in den innerstädtischen Bezirken noch vor der Industrie als Hauptemittenten rangierten. Wünschenswert wäre auch die Einbeziehung weiterer Originalquellen in die Auswertung. Eine tiefergehende Darstellung hätte die Stellung der Planung des Umweltschutzes im Planungssystem der DDR erfahren sollen. Einen größeren Stellenwert hätten Analogien und Abweichungen von offizieller und tatsächlicher Umweltpolitik in der DDR zur internationalen Entwicklung verdient. Schließlich wäre die Frage zu klären, ob die wirtschaftlich schwache DDR überhaupt in der Lage war, eine effiziente Umweltpolitik durchzusetzen - was natürlich nicht die dirigistische, der Ökonomie radikal untergeordnete Umweltpolitik der Partei- und Staatsführung der DDR entschuldigen kann.
     Der Teil 1 (Umweltpolitik in der DDR zwischen Anspruch und Wirklichkeit) schafft die Basis für das Verständnis der folgenden Teile. Er gibt einen historischen Abriß über die Umweltsituation und -politik in der DDR: vom Naturschutz im herkömmlichen Sinne über Umweltschutz und -gestaltung im komplexen Maßstab (im Aufwind des Landeskulturgesetzes von 1970) bis zur Reduzierung auf Umweltnutzung (der Naturressourcen) für die erweiterte volkswirtschaftliche Reproduktion und zur verheerenden ökologischen Schadensbilanz am Ende der Existenz der DDR.
In diesem Teil wäre eine tiefergehende Analyse und Wertung der Umweltproblematik und -politik in der DDR wünschenswert gewesen, insbesondere im historischen Bezug und internationalen Vergleich und hinsichtlich der Ursachen für die gescheiterte Umweltpolitik in der DDR. Dazu gehören solche Aspekte: Welche Auswirkungen hatte die Tatsache, daß die DDR wie andere Industrieländer ein schweres Erbe der Umweltbelastung antreten mußte? Wie wirkte sich der Umstand aus, daß die DDR im internationalen Maßstab eine frühe Vorreiterrolle in der Umweltgesetzgebung spielte? Wie ist im untersuchten Zusammenhang die Tatsache zu bewerten, daß der Rückstand der DDR im Umweltschutz in den 70er Jahren einsetzte und sich dann rasch vergrößerte? Auch der Sachverhalt, daß die Ursachen für diesen Umbruch in erster Linie in der völlig unzureichenden Bereitstellung von Investitionen und wenig wirksamen staatlichen Restriktionen sowie im Fehlen einer leistungsfähigen Umweltschutzindustrie lagen, hätte stärker beleuchtet werden können. Schließlich gehört dazu auch die Rolle der Umweltproblematik in der Propaganda und Medienpolitik - bis in die 70er Jahre waren Umweltfragen verbreitet Gegenstand medialer Publikationen in der DDR und die Umweltforschung nahm in den 60er und 70er Jahren einen beachtlichen Aufschwung. Beides erfuhr mit der Verschlechterung der Umweltbedingungen in der DDR einen drastischen Rückschlag, der in den Mittagschen Geheimhaltungsbeschlüssen von 1982/83 gipfelte.
     Die Teile 2 (Umweltschäden in Ostberlin ...) und 3 (... von Umweltnöten Ostberliner Betriebe) sind der Umweltsituation in Ost-Berlin und der Umweltpolitik der Partei- und Staatsführung der DDR in der »Hauptstadt der DDR« gewidmet. Teil 2 enthält einen historischen Abriß der Umweltproblematik in Berlin, verbunden mit einer aussagefähigen Behandlung der verschiedenen Umweltbelastungen (Wasser, Luft, Boden, Wald) und der Maßnahmen

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zu ihrer Reduzierung. Es wird deutlich, daß, trotz der Bevorzugung der DDR-Hauptstadt gegenüber den anderen Bezirken der DDR, auch in Ost-Berlin die Umweltbelastung immer größere Ausmaße annahm. Beachtliche Maßnahmen wie die Ablösung der Rieselfelderwirtschaft durch die Abwasserreinigung in vollbiologischen Klärwerken, die Wiederverwertung von Abprodukten (SERO) und die Müllverbrennung blieben Teillösungen, die die Gesamtsituation nicht grundlegend veränderten.
     In diesem Zusammenhang wäre es angebracht gewesen, noch stärker als geschehen, Konzeptionen der Dienststellen des Ostberliner Magistrats (Bezirksplankommission, Bezirksbauamt, Bereich Stadttechnik, Bezirkshygieneinstitut, Bereich Verkehr) und der Räte der Stadtbezirke auszuwerten, die auch auf die Beseitigung der Ursachen der Umweltbelastung und nicht nur auf die Reduzierung der Symptome orientieren.
     Das Ursachenproblem steht im Teil 3 im Mittelpunkt. Hier wird am Beispiel richtig ausgewählter Ostberliner Industriebetriebe die Situation im Bereich der Industrie, des Hauptemittenten, eindrucksvoll dargestellt. Hier wird der Nachweis geführt, daß die DDR nicht in der Lage war, die Belastungskette »Technologie - Emission - Immission« an der »Wurzel des Übels« zu packen, daß das Landeskulturgesetz mit seinen diversen Ausführungsbestimmungen und das auch in der DDR gültige Verursacherprinzip theoretischer Anspruch blieben, weil die notwendigen Voraussetzungen für die Verwirklichung nicht geschaffen wurden.
     Es wäre wünschenswert, die Entwicklung der Umweltsituation im wiedervereinten Groß-Berlin seit 1990 in einer Neubarbeitung des Buches bzw.
     in einer neuen Schrift darzulegen.
     Gerhard Kehrer
Günter Peters
Keen Pardon vor nischt und niemand

Berliner Spott für hundert Berliner Bauten

Verlag für Bauwesen, Berlin 1995

Wer hat nicht auf Anhieb Beispiele für die Spottlust der Berliner besonders auch gegenüber Bauwerken, Denkmälern und Plastiken parat. Das Haus der Kulturen der Welt im Tiergarten, ehemals Kongreßhalle, tauften sie der äußeren Form, vor allem der kühnen Dachkonstruktion wegen, um in »Schwangere Auster«, »Betonauster«, »Babywaage«. Ihre schier endlose Betonplattenfassade und der Gesang dahinter brachten der Deutschen Oper in der Bismarckstraße in Charlottenburg den Namen »Sing-Sing« ein; eine abstrakte Metallplastik vor diesem Musentempel heißt »Schaschlikspieß«, »Leo-Blech-Denkmal« oder auch »Nirosta-Dirigent«. Das ehemalige Haus des Lehrers am Alexanderplatz ist noch immer das »Haus mit Bauchbinde«. Die Schadowsche Quadriga auf dem Brandenburger Tor, jener zweirädrige antike Kampfwagen mit der Siegesgöttin Viktoria darauf, wird »vierspännige Normaldroschke« oder auch, in Anspielung auf mehrfache Demontage und Rückkehr auf das Tor sicher noch treffender, »Retourkutsche« genannt ...
     Dem Entstehen und der Herkunft dieser und weiterer spöttisch-ironischer Sprachschöpfungen wird in dem hübsch aufgemachten Büchlein nachgespürt. 100 Bauten und Denkmäler werden jeweils auf einer Doppelseite mit einer kurzen, präzisen Sachinformation, der Erläuterung der/des Spaß- und Spottnamen/s sowie im schönen Farbfoto vorgestellt - die Aufnahmen stammen von Gisela Dutschmann. Der Leser kann sich ein Bild davon machen, wie bestimmte Merkmale, übertriebenes


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Pathos etwa, dem Berliner Volksmund schier unweigerlich zum Opfer fallen. Günter Peters entdeckt dabei »vier verschiedene Qualitäten« (Seite 9): den ziemlich schmerzhaften, aber doch wohlwollenden Biß (der zum Beispiel den Kaiser Wilhelm Zwo damit kränkte, daß sein Dom als »Reichsrenommier-Kirche« verunglimpft wurde); den wütigen Biß (die Mauer als »Bruchband Walter Ulbrichts«); das Etikett, das ironisch-bildhafttechnisch das Wesen von Bauwerken kennzeichnet (»Seelenbohrer« für den Glockenturm der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche im Hansaviertel); und als letzte Kategorie die, in der dem Berliner »nischt Vernünftijes nich einjefallen« ist (Bezeichnungen wie »Betonhäuser« oder »Plattenbausiedlung«, die nicht Spitz-, sondern eher Stumpfnamen sind). »Nun ließe sich die Betrachtung weiter vertiefen, indem man unterscheidet zwischen Titeln, die seinerzeit zur ersten Kategorie gehörten, dann aber in die zweite wechselten, solche, die ihre ursprüngliche Bedeutung überhaupt verloren haben, solche, die sich auf Gebäude in West- oder in Ost-Berlin bezogen oder solche, die noch leben, obwohl ihre Träger, die Gebäude, längst durch Krieg oder andere Abrißbarbareien verschwunden sind« (ebenda) - bei diesen wenigen verallgemeinernden Feststellungen läßt der Autor es bewenden.
     Die 100 Bauten und Denkmäler werden in alphabetischer Reihenfolge ihrer Spott- und Spitznamen vorgestellt: von »Alter Fritz reitet weiter« für das Reiterstandbild Friedrichs des Großen auf dem Mittelstreifen Unter den Linden; über »Hungerharke« für das an die Nachkriegsblockade West-Berlins erinnernde Luftbrückendenkmal in Tempelhof; über die »Letzte Instanz«, jene traditionsreiche Gaststätte in der Waisenstraße in Berlin-Mitte, die einst den in den nahe gelegenen Gerichtsinstanzen streitenden Parteien Gelegenheit bot, in ihren Räumlichkeiten jeden Prozeß zu einem ordentlichen Ende zu bringen; »Peppers Manhattan« für das Europa Center oder »Reichsaffenhaus« für das
Reichstagsgebäude - bis hin zu »Zirkus Karajani«, wie die Philharmonie am Kemperplatz infolge ihres zirkusartigen Aussehens fast liebevoll genannt wird. Nomen est Omen. Zum Beispiel, wenn der Westberliner Kontrollpunkt Dreilinden als »Anhalter Bahnhof« tituliert wurde, entlehnt von jenem Bahnhof am Askanischen Platz in Kreuzberg, der einst Berlins Tor nach Süden war, dann jedoch, nachdem im Zweiten Weltkrieg schwer zerstört, 1960/61 trotz zahlreicher Proteste fast völlig abgerissen worden ist. Seinen Spitznamen erhielt der Kontrollpunkt südlich des Zehlendorfer Kreuzes, weil hier von 1971 bis zur Öffnung der deutsch-deutschen Grenze im November 1989 immer viele »Anhalter« standen, die eine günstige Mitnutzung anderer Leute Autos erhofften, um die Transitautobahn in Richtung Westen zu passieren.
     Die Publikation bietet auch humorvolle, schnoddrige Redewendungen aus dem Bauarbeiterjargon (Bauberufe auf berlinisch; Volksweisheiten über das Bauen; Internes aus dem Bausprachschatz; Baubezeichnungen für Berlin; Altberliner Wetterregeln für das Bauen; Speise- und Getränkekarte für Bauleute; Berliner Bauplatten-Begriffe; Berliner Baustatistik; Berliner Statistik nach Erich Kästner). Einem Bauten- und Ortsregister kann entnommen werden, daß die vorgestellten »Objekte« aus 20 Stadtbezirken stammen (nicht »vertreten« sind Weißensee, Spandau, Hellersdorf). Für akribische Leser noch der Hinweis, daß sie einen in den Literaturangaben genannten Artikel des Autors zur Thematik nicht in Ausgabe 8/94 einer »Berliner Monatszeitschrift«, sondern im Heft 9/94 der »Berlinischen Monatsschrift« finden.
     Hans Aschenbrenner
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 12/1996
www.berlinische-monatsschrift.de