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der Brunnen konnte das Wasser recht bequem und auch in guter Beschaffenheit an die Oberfläche befördert werden. Es ist immerhin erstaunlich, daß fast eine halbe Million Menschen auf begrenztem Raum ihr Wasser aus einfachen Brunnen schöpfen konnte. Doch der zunehmenden wirtschaftlichen und industriellen Entwicklung war dieses System der Wasserversorgung nicht mehr gewachsen.
     Aber der preußischen Regierung bereitete vorerst weniger die Wasserversorgung als vielmehr die Beseitigung der Abwässer größere Sorgen. Die hygienischen und sanitären Zustände waren unbeschreiblich. Selbst in den vornehmsten Straßen »trennte«, wie Zeitgenossen berichteten, »auf jeder Seite ein tiefer, stets mit dickflüssigem Schmutz eingefüllter Rinnstein den Bürgersteig vom Fahrdamm ... Es war erlaubt, Gefäße, die unreine Flüssigkeiten ohne feste Bestandteile enthielten, in den Straßenrinnstein zu entleeren; aber die Dienstmädchen machten sich keineswegs ein Gewissen daraus, diese Opferstätte mit recht unappetitlichen >festeren Bestandteilen< zu dekorieren.« 1) Noch 1867 mußte August Bebel feststellen, daß sich in den Rinnsteinen die Abwässer der Häuser sammelten und an warmen Tagen »mefitische Gerüche« verbreiteten. 2) Einer preußischen Residenz- und Hauptstadt stand so etwas natürlich nicht gut zu Gesicht. Man drängte daher auf Abstellung dieser »ekelerregenden Zustände«.
Hans-Heinrich Müller
Wasser für Berlin

Berlin zählte 1805 etwa 183 000 Einwohner, 1861 stieg ihre Zahl auf 521 000, und 1914, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, schickte sich die Stadt an, die 2-Millionen-Grenze zu überschreiten. Aber auch in den damals noch nicht zu Berlin gehörenden Orten wie Charlottenburg, Lichtenberg, Rixdorf (Neukölln), Moabit, Schöneberg, Pankow und anderen ballten sich große Menschenmassen zusammen. Während sich die Berliner Bevölkerung von 1813 bis 1875 etwa vervierfachte, verzeichneten die Vorstädte eine Zunahme um nahezu das Sechzehnfache, sie stellten über 30 Prozent der »gesamten« Berliner Einwohnerschaft. Berlin lockte Menschen an. Arbeitskräfte strömten in die aufstrebende Industrie, in die Unternehmen des Handels, Verkehrs und der Dienstleistungen, in die zahllosen kleinen und großen Betriebe, die Stadt war auf dem besten Wege, zum größten Industriestandort des Deutschen Reiches zu werden. Berlin wuchs, und laufend stieg der Wasserbedarf.
     Bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Berliner Bevölkerung und die Industrie aus einfachen Hofbrunnen mit Trinkwasser und Brauchwasser versorgt. Der sandige Untergrund, auf dem Berlin erbaut war, war reichlich wasserhaltig, und mittels


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Bereits 1838 wurde die Errichtung einer Röhrenleitung zur Spülung der Rinnsteine mit fließendem Wasser erwogen. Kein Geringerer als Alexander von Humboldt unterstützte eine solche Anlage und lieferte auch ein entsprechendes Gutachten. Aber das Projekt blieb liegen, ebenso der 1845 von dem Architekten Schramke eingebrachte Vorschlag, Berlin mit Wasser aus dem Lubowsee nahe Oranienburg zu versorgen. Der Berliner Stadtverwaltung war das alles zu kostspielig. Daher beauftragte die preußische Regierung das ihr unmittelbar unterstellte Polizeipräsidium, die Abwässerfrage in die Hand zu nehmen. Es schloß unter Umgehung der Berliner Kommunalbehörden mit einer englischen Gesellschaft einen Vertrag, in dem diese sich verpflichtete, ein Rohrleitungsnetz anzulegen, die Rinnsteine unentgeltlich zu spülen und Wasser für Feuerlöschzwecke bereitzustellen. Dafür war sie berechtigt, gegen Gebühren Wohnhäuser mit Leitungswasser zu beliefern. Die Gesellschaft errichtete vor dem Stralauer Tor ein Wasserwerk, das am 1. Juli 1856 eingeweiht wurde. Das Wasser wurde der Spree entnommen, über reinigende Sandfilter geleitet und in die Haushalte gepumpt. 1860 lieferte das Werk etwa 3 Mill. m3 Wasser, ohne damit die Hof- und Straßenbrunnen außer Betrieb zu stellen. Ein erster Schritt hin zu einer modernen Großstadt war jedoch getan.
     Aber eine Gesellschaft, die nach kapitalistischen Grundsätzen arbeitete, mußte na
türlich an der Trinkwasserversorgung viel mehr interessiert sein als an einer Rinnsteinspülung. Trinkwasser konnte man verkaufen. Es war doch verlockend, sauberes und trinkbares Wasser unmittelbar ins Haus zu liefern, direkt in der Wohnung zu beziehen. Für die bemittelten Bürger und die Hausbesitzer war das kein Problem. Sie beauftragten die Gesellschaft, ihre Häuser an das Rohrleitungsnetz anzuschließen.
     Bedeutete Trinkwasser für die englische Gesellschaft ein gutes Geschäft, so war die Rinnsteinspülung, die kostenlos erfolgen sollte, eine aufwendige Sache. Sie erforderte größere Investitionen. Auch die Hausbesitzer waren dafür nicht recht zu erwärmen. Für sie war das eine Aufgabe der Stadtverwaltung. Die aber verhielt sich zurückhaltend und übte kaum Druck auf die englische Gesellschaft aus. Kein Wunder also, daß die Gesellschaft es nicht so genau nahm mit ihrer vertraglich festgelegten Verpflichtung.
     Die Abwässermängel wurden nur unvollkommen behoben. Aus diesem Grunde entsandte die preußische Regierung, nachhaltig unterstützt von dem berühmten Pathologen und Humanisten Rudolf Virchow, damals Berliner Stadtverordneter, eine Kommission nach England und Frankreich zum Studium der Entwässerungsanlagen. Als Ergebnis dieser Studienreise, die die Baumeister und Ingenieure Eduard Wiebe, James Hobrecht und Ludwig

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Alexander Veitmeyer unternahmen, wurde ein Bericht »Über die Reinigung und Entwässerung der Stadt Berlin« vorgelegt. 1873 wurde endlich nach den Plänen Hobrechts mit der Einführung der Kanalisation begon nen. Berlin trat, wie August Bebel schilderte, »aus dem Zustand der Barbarei in den der Zivilisation«. 3)
     1870 lieferte das Stralauer Werk schon 14 Mill. m3 Wasser. Doch damit war die engli
Wasserwerk Müggelsee

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   24   Probleme/Projekte/Prozesse Wasser für Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
sche Wasserwerksgesellschaft an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gelangt. Neue Wege der Wasserversorgung mußten beschritten werden. Sie eingeleitet zu haben gehört zu den Verdiensten des »Civil-Ingenieurs« Veitmeyer. Er veröffentlichte 1871 sein umfangreiches Werk »Vorarbeiten zu einer künftigen Wasserversorgung der Stadt Berlin. Im Auftrage des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung zu Berlin in den Jahren 1868 und 1869«. Veitmeyer gab damit den Anstoß, die Wasserversorgung nicht mehr aus Oberflächenwasser und Brunnen, sondern aus dem Grundwasserreservoir zu bestreiten. Voraussetzung war zugleich eine systematische Grundwasserbeobachtung, die ab 1869 auf Initiative Veitmeyers begann. Das war eine einzigartige Einrichtung, die für die wissenschaftliche Hydrologie die fruchtbarsten Folgen gehabt hat.
     Nachdem die Stadt Berlin 1873 das Stralauer Wasserwerk aufgekauft hatte, wurde in den Jahren 1875 bis 1877 nach dem Plan Veitmeyers am Tegeler See ein Grundwasserwerk erbaut. Das Wasser wurde durch eine Galerie von 23 Brunnen aus 10 bis 27 m tief liegenden Kies- und Sandschichten gefördert, um auf diese Weise die Kosten für eine Filterung zu ersparen. Doch wenig später gab es bereits unangenehme Überraschungen. In den Brunnen begann die Crenothrixalge zu wuchern. Sie verdarb das Trinkwasser. Derartige Überraschungen
waren auf den Eisengehalt des Grundwassers in den diluvialen Bodenschichten zurückzuführen. Die Hydrotechniker kannten zu jener Zeit noch nicht das Verfahren, das Eisen aus dem Wasser auszuscheiden. Deshalb mußte das Tegeler Wasserwerk 1882 wieder auf Oberflächenwasser umgestellt werden, was auch den Einbau umfangreicher Filteranlagen notwendig machte.
     Weder das Stralauer noch das Tegeler Werk waren in der Lage, den rapide steigenden Wasserbedarf zu befriedigen. Am Ende des 19. Jahrhunderts schätzte man den täglichen Bedarf Berlins auf 250 000 m3, etwa 100 l pro Kopf. Und 1905 stieg der tägliche Wasserverbrauch schon auf 450 000 m3, jährlich also auf 110 Mill. m3 Wasser.
     Diese enorme Menge konnten nur leistungsfähigere Werke decken. 1893 wurde daher ein Wasserwerk in Friedrichshagen am Nordufer des Müggelsees in Betrieb genommen. Eingedenk der negativen Erfahrungen mit dem Tegeler Grundwasser, wurde es als Oberflächenwasserwerk gebaut. Durch 125 m lange, auf den Grund des Sees reichende Kanäle, Zuführungsleitungen und Saugkammern wurde das Wasser dem See entnommen. In drei Schöpfmaschinenhäusern befanden sich drei Maschinensätze und in den dazugehörigen Kesselhäusern drei Kessel. Jeder Maschinensatz bestand aus einer Dampfmaschine mit einer Leistung von 40 PS, die zwei Pumpen mit einer Leistung von 1134 m3/h

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antrieb. Sie hoben das Wasser auf Sandfilter.
     Mittlerweile hatte sich auch in den Randgebieten Berlins eine starke Industrialisierung vollzogen, die nicht ohne Folgen für die Sauberkeit des Wassers blieb. In einer Denkschrift der Berliner Städtischen Wasserwerke vom Jahre 1904 hieß es: »Die in besorgniserregender Weise zunehmende Verschmutzung des Seewassers durch die oberhalb des Müggelsees angelegten Fabriken und die neuen, mangelhaften Kläranlagen für die Abwässer aus den Gemeinden lassen von Jahr zu Jahr den Wunsch dringender werden, von der Entnahme des Wassers zur Versorgung der Stadt Berlin aus dem Müggelsee Abstand zu nehmen.« Abhilfe konnten nur Grundwasserwerke schaffen, da Grundwasser in hygienischer Hinsicht von besserer und einwandfreierer Beschaffenheit ist. Inzwischen hatte man nach längeren chemischen und technologischen Versuchen am Ende des 19. Jahrhunderts auch das Verfahren ausfindig gemacht, Wasser von Eisen und organischen Substanzen zu befreien. Man konnte also nunmehr das Grundwasser in großem Umfang nutzen. Die alte Tegeler Anlage wurde 1901 wieder reaktiviert, indem man eine Enteisenungsanlage einbaute und die Brunnen auf 50 bis 70 m vertiefte. Auch das Seewasserwerk in Friedrichshagen wurde in ein Grundwasserwerk umgebaut. Diese Umstellung war aber nur möglich, weil großräumige Grundwasseruntersuchungen vorausgegangen waren. Veitmeyer
hatte zwischen 1868 und 1872 im Warschau-Berliner Urstromtal 101 Bohrlöcher anlegen lassen, von denen sich 67 oberhalb der Berliner Weichbildgrenze, also im Raum Köpenick, Friedrichshagen, Rahnsdorf und Grünau, befanden, während die übrigen unterhalb der Berliner Weichbildgrenze (Tegel bis Spandau) lagen, um Gefälle, Bewegung und Ergiebigkeit des Grundwassers sowie die Niederschlagsmengen zu messen und zu berechnen. Die damals und später gewonnenen Erkenntnisse, der Nachweis starker Grundwasserströme und ausreichender Grundwassermengen schufen die Voraussetzungen zur Anlage standortgünstiger Grundwasserwerke, die aus der Wasserversorgung der Bevölkerung nicht mehr wegzudenken sind.
      Quelle:
1 J. J. Baeyer/L. Blesson, Die Bewässerung und Reinigung der Straßen Berlins, Berlin 1843
2 A. Bebel, Aus meinem Leben, T. 2, Berlin 1946,
S. 125; vgl. auch H. Hahn/F. Langbein (Hg.),
50 Jahre Berliner Stadtentwässerung 1878-1928, Berlin 1928; E. Heinrich, Der »Hobrechtplan«, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte, Bd. 13, 1962, S. 41 ff.; H. Weißpflug, 4. Juli 1871: Versuch zur Abwasserverrieselung, in:
»Berlinische Monatsschrift«, H. 7, 1996, S. 79 ff.
3 A. Bebel, a. a. O., S. 125

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 12/1996
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