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chen Schutz im Nonnenkloster »Zur heiligen Katharina«, für den phantasievollen Wilhelm eine durchaus romantische Angelegenheit, für die Mutter wohl weniger, denn sie zieht kurz darauf mit den Kindern nach Berlin zu ihrem Bruder, dem Buchdrucker und Musikalienhändler Rellstab, in die Jägerstraße.
     Das Rellstabsche Haus ist kulturell aufgeschlossen, an mehreren Abenden der Woche bietet eine Schauspieltruppe ihre Aufführungen. Wilhelm wächst zusammen mit dem fast gleichaltrigen Vetter Ludwig auf (der später selbst schriftstellerisch tätig ist, sein patriotischer Roman »1812« wird in einer Literaturgeschichte zumindest erwähnt), mit zwölf Jahren besucht er das Friedrichs-Werdersche Gymnasium. Schon als Gymnasiast versucht er sich an literarischen Arbeiten. Er schreibt kleine Stücke, auch eine kurze Erzählung gibt es aus dieser Zeit.
     Prägend sind vor allem die politischen Ereignisse. Napoleon befindet sich auf dem Rückzug, und Alexis erinnert sich später, wie er als Vierzehnjähriger den ersten Streifzug der Kosaken durch Berlin erlebte: »Es war ein Tag in Berlin, wo jedes jugendliche, patriotische Herz vor Wonne hüpfte, ein Tag der Tat, die wir mit Augen schauen sollten, voller Romantik, voll kühner Wagnis und großen Schreckens. Ein Sturm, eine Schlacht und Jagd inmitten Berlins.
     Das Schauspiel dauerte einen Tag, und die
Helmut Fickelscherer
Märkischer Erzähler und deutscher Schriftsteller

Zum 125. Todestag von Willibald Alexis

Als Willibald Alexis am 16. Dezember 1871 in Arnstadt stirbt, ist es schon seit einiger Zeit still um ihn. Über ein Jahrzehnt schon leidet er an den Folgen eines schweren Schlaganfalls, der das literarische Schaffen jäh abbrach. Dabei war er gerade erst 62 Jahre alt, als ihn der Schlagfluß traf.
     Geboren wird Alexis als Georg Wilhelm Heinrich Häring am 29. Juni 1798. Die Familie kommt väterlicherseits aus der Bretagne, hieß dort Harenc oder Hareng und hat den Namen aus propreußischen Gefühlen heraus in Häring eingedeutscht, nachdem sie als Hugenotten ihre Heimat verlassen mußten. Der Vater ist Kanzleidirektor bei der Kriegs- und Domänenkammer in Breslau, die Mutter, Tochter des Buchhändlers Rellstab, stammt aus Berlin. Sehr früh stirbt der Vater (1802). Er läßt seine Frau mit zwei kleinen Kindern in unsicherer Zeit zurück.
     1806 belagern die napoleonischen Truppen Breslau, die Stadt ergibt sich, »als die letzte Kuh geschlachtet war«. Härings su


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etwas davon gesehen, werden es ihr Leben durch nicht vergessen.«
Eine gewaltige patriotische Woge ergreift die jungen Leute. Auch Wilhelm Häring wäre gern gegen Napoleon gezogen, aber er ist noch zu jung. Erst als der Korse von Elba flieht und erneut ein Aufruf an Freiwillige ergeht, meldet er sich, siebzehnjährig, sofort. Zu Fuß durchqueren die Truppen ganz Deutschland und werden bei der Belagerung der Ardennenfestungen eingesetzt, direkte Feindberührung haben sie jedoch nicht. Überhaupt ist das Unternehmen enttäuschend; der preußischen Armee sind die Freiwilligen mit ihrem patriotischen, ja revolutionären Elan offensichtlich lästig. »Man fing schon an zu bereuen, aus dem alten Geleise gewichen zu sein, der tote Organismus ward unbemerkt Herr über den lebendigen Geist. Noch wußte man es nicht, daß man einen Schritt zu weit gegangen war, aber das Gefühl war schon da, daß man Kräfte wachgerufen, die man weiterführen oder zurückdrängen mußte.«
Wieder in Berlin, macht Wilhelm Häring 1817 das Abitur und studiert dann an der Berliner Universität, vorübergehend in Breslau, Jura, betreibt nebenbei auch historische Studien bei Friedrich von Raumer. 1819 legt er das erste juristische Examen ab und arbeitet als Auskultator, später als Referendar beim Kriminalsenat des Berliner Kammergerichts.
     Die eigentliche Neigung gehört jedoch der
Literatur. Er betätigt sich als Rezensent und unternimmt eigene literarische Versuche, die Einflüsse von Jean Paul und E.T.A. Hoffmann zeigen. Schon aus der Studentenzeit stammt sein Künstlername Willibald Alexis, abgeleitet von alec (lat.) Hering. Angeblich will er »lieben« Kollegen keinen Anlaß bieten, mit seinem bürgerlichen Namen Spott zu treiben.
     Wie viele seiner Zeitgenossen liebt Alexis die Werke des schottischen Dichters Walter Scott. Er übersetzt dessen Versromanze »Die Jungfrau vom See« und schreibt ganz im Scottschen Stil einen eigenen Roman: »Walladmor«, den er aus einer Laune heraus ebenfalls als eine Übersetzung des schottischen Autors ausgibt. Die Wirkung ist unglaublich, über Nacht wird das Buch berühmt. Das ermutigt seinen Verfasser, die juristische Laufbahn aufzugeben und sich ganz der Schriftstellerei zu widmen.
     Übrigens verfaßt Scott eine ausführliche, humorvolle Kritik zu dem »kühnsten Vexierstreich unserer Zeiten« und beweist damit überlegene Toleranz.
     Aber schon die nächste Scottiade, der Roman »Schloß Aralon«, wird ein Mißerfolg, Alexis muß sich um einen eigenen literarischen Stil bemühen. Er beginnt eine vielfältige schriftstellerische Tätigkeit, arbeitet als Journalist und Übersetzer und gründet mit Friedrich Förster 1827 »Das Berliner Konversationsblatt«, eine Zeitschrift der liberalen Opposition (ab 1830 »Der Freimüti

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ge oder das Berliner Konversationsblatt«). Angeregt durch Heines »Reisebilder«, unternimmt er Wanderungen durch Skandinavien und nach dem Süden und veröffentlicht die Reiseeindrücke. 1833 entstehen die »Wiener Bilder« mit seinem politischen und künstlerischen Credo. Aber auch die märkische Landschaft durchstreift er immer wieder.
     Große Erwartungen setzt er in das Erscheinen seines ersten umfangreichen historischen Romans »Cabanis«, der in der Zeit Friedrichs II. spielt. Aber die Aufnahme ist lau, es herrscht kein günstiges kulturelles Klima; Repressionen und Willkür allerorten. Auch die journalistische Arbeit wird behindert. Alexis beklagt in einem Schreiben an den Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. die Zensurmaßnahmen. Der König antwortet verärgert gleich eigenhändig und drückt

seine Ungnade aus. Hinzu kommt noch eine ganz persönliche Angelegenheit: Alexis trennt sich von seiner Verlobten, der Berliner Schauspielerin Julie Gley. Deprimiert beendet er seine Herausgebertätigkeit, auch die literarischen Projekte stocken. Doch lange hält diese Abstinenz nicht an. Das couragierte Auftreten der jungdeutschen Dichter belebt die literarische Landschaft, auch Alexis schreibt wieder Rezensionen und Leitartikel, diesmal für »Das Cotta'sche Morgenblatt«, die »Vossische Zeitung« und »Die Blätter für litterarische Unterhaltung«. Zudem lernt er 1837 Lätitia Paccival, eine junge, sehr hübsche und kluge Engländerin, Gesellschafterin im Haus des preußischen Kriegsministers von Boyen, kennen, die er ein Jahr später heiratet und mit der er eine glückliche Ehe führt. Ein großer Haus


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stand wird gegründet, ein Haus in der Wilhelmstraße gekauft, das zu einem geistigen Mittelpunkt Berlins wird. Ein gewaltiges Arbeitspensum muß bewältigt werden: Neben der journalistischen Tätigkeit gibt es Vorarbeiten und Studien zu weiteren Romanen, Übersetzungen und seit 1842 zusammen mit Julius Eduard Hitzig die Herausgabe des »Neuen Pitaval«, einer »Sammlung der interessantesten Kriminalgeschichten aller Länder aus alter und neuer Zeit«. Darin auch eine einfühlsame Studie über den Burschenschaftler Karl Ludwig Sand, der den Schriftsteller August von Kotzebue ermordete. - Überdies eine rege Geschäftstätigkeit: Spekulationen, Immobilienhandel, Gründung einer Verlagsbuchhandlung - die kostspielige Haushaltführung fordert ihren Tribut.
     In kurzen Abständen erscheinen nun Alexis' wichtigste historische Romane: 1840 »Der Roland von Berlin«, die Geschichte der Machtkämpfe zwischen dem städtischen Patriziat Berlins und Cöllns und dem brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Eisenzahn. 1842 »Der falsche Woldemar«, in dem ein falscher letzter Askanier auftritt, um das Chaos in der Mark Brandenburg zu beseitigen. 1846 »Die Hosen des Herrn von Bredow« (1. Teil: »Hans Jürgen und Hans Jochen«, der unter dem Gesamttitel viele Nachauflagen hat), 1848 der zweite Teil: »Der Werwolf«. Den historischen Hintergrund der beiden Bände bilden die grausa
men Auseinandersetzungen des Kurfürsten Joachim I. mit dem märkischen Adel.
     Anzeichen von Überarbeitung treten auf. Urlaub in Heringsdorf soll Abhilfe schaffen; dort haben die Alexis eine eigene Villa.
     Doch daß der Schriftsteller das Seebad Heringsdorf gegründet hat, wie es in einem alten Lexikon steht, gehört ins Reich der Fama.
     1847 dann eine mehrmonatige glückliche Italienreise, aber die Märzrevolution 1848 erfordert die Rückkehr nach Berlin und bringt für Alexis geschäftliche Verluste. Auch um diese auszugleichen, tritt er in die Redaktion der »Vossischen Zeitung« ein. Doch Alexis bringt wenig Verständnis für die Revolution und die beginnende kapitalistische Entwicklung auf. Trotz seiner kritischen Haltung gegenüber den Hohenzollern tritt er für die Monarchie ein und tadelt die »Überspanntheit und Erhitzung« der Revolutionäre. Über seinen inneren Konflikt schreibt er an den Schriftstellerkollegen Gustav zu Putlitz: »Seltsame Kombination, daß ich, der bis dahin als Dichter, in der Idee des Preußentums, der Hohenzollernschen Mission, mit allen Kräften, aus vollster Überzeugung gelebt, mich durchdrungen fühle, gegen dieses spezifische Preußentum mit allem, was mir als Kraft blieb, zu kämpfen.« Ob der unentschlossenen Haltung kommt es zum Streit mit Vetter Ludwig Rellstab, Mitredakteur der Zeitung, und Alexis verläßt 1849 die Redaktion.

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Sein Mißbehagen über die allgemeine »Schlaffheit und Mutlosigkeit«, wie er sie in seiner Zeit empfindet, verlagert er in seinen historischen Roman »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht« (1852), der von der Niederlage Preußens im Krieg gegen Napoleon handelt und 1854 mit »Isegrimm« fortgesetzt wird. 1856 folgt ein weiterer Roman: »Dorothee«, der in der Zeit des Großen Kurfürsten spielt. Es ist sein letzter. Im selben Jahr wirft ihn ein erster Schlaganfall nieder, und auch die Übersiedlung nach dem Dichterrefugium Arnstadt ins 1854 erbaute »Haus Lindeneck« bringt nur zögernd und vorübergehend Besserung.
     Annemarie von Auerswald, die Herausgeberin einer Sammlung seiner Romane, schreibt 1903 in einer biographischen Einführung, er habe sich in seinem Todesjahr, klaren Geistes, über die Reichsgründung unter preußischer Führung gefreut. Äußerlich mag das stimmen, eigentlich haben sich seine politischen Ziele erfüllt, aber ist er wirklich zufrieden gewesen mit dem neuen, Wilhelminischen Kaiserreich? Alexis hat bei der Gestaltung historischer Stoffe nie rückwärtsgewandt gedacht. Im »Roland von Berlin« schreibt er über die alten und die neuen Rechte, über das Alte und das Neue: »Das Recht weist immer hinter uns; es ist ein Land, darin wir waren, nun aber treten wir heraus. Das Rechte liegt vor uns wie eine weite Gegend, in die unser Fuß zum erstenmal tritt, und wir wissen
nicht die geraden Wege, weil wir noch nicht darin gegangen sind, wir müssen sie suchen. Wer da immer noch zurückdenkt an die Wege im vorigen Land, verirrt leicht. Wir sollen uns zurechtfinden im neuen Lande, die alten Weisungen reichen nicht aus.«
Ein intensiv gelebtes Leben, ein umfangreiches Werk - was bleibt davon? Zweifellos gehört Alexis zu den wichtigen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Seine in liberalem und patriotischem Geist geschriebenen historischen Romane bereiten mit ihrem Realismus den Boden für die kritisch-realistischen Werke des ausgehenden Jahrhunderts vor. In seinen Romanen ist Alexis nicht nur märkischer Dichter, sondern deutscher Schriftsteller: »Ich erzähle auch brandenburgische Geschichten aus alter Zeit, aber ich meine, es sind deutsche Geschichten; denn was Brandenburg litt, litt das Reich auch.«
Das ist das eine, das andere ist die kaum wieder erreichte Einbeziehung der Landschaft, der märkischen Natur, in die Handlung. Es ist schon bemerkenswert, wie zwei Nachkommen der Refugiés, Alexis und Fontane, diese karge Landschaft von verhaltener Schönheit so eindringlich schildern, daß deren Bild die Zeiten und - angesichts der Umweltschäden - auch diese Landschaft selbst überdauern wird.

Bildquelle: Max Ring, »Die deutsche Kaiserstadt Berlin und ihre Umgebung«, 1884
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 12/1996
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