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und Kinder) sowie 1873 die Eröffnung des ersten Männerasyls in der Büschingstraße am Friedrichshain, das aber bald nicht mehr ausreichte, die Obdachlosen aufzunehmen, die allein im Jahre 1878 schon über 100 000 zählten. Deshalb hatte sich der den Sozialdemokraten und der Fortschritts-Partei nahestehende Asylverein für Obdachlose entschlossen, mit 750 000 Mark aus Spendenmitteln das neue, 700 Personen fassende Asyl in der Wiesenstraße zu errichten. Einwände des Polizeipräsidenten, der befürchtete, daß die Obdachlosen tagsüber im angrenzenden Humboldthain »Platte machen« würden, waren in der Stadtverordnetenversammlung offenbar mit Mehrheit zurückgewiesen worden.
     Der Reporter der »Vossischen« war zu einem Vorabbesuch am Vortag eingeladen worden und schilderte noch in der Samstagabendausgabe die Einrichtung: »Diejenigen, die durch den Inspektor aufgenommen werden, gelangen durch den Waschsaal oder aber durch die Badehalle zu der von den Schlafsälen umschlossenen Speisehalle.« Der Waschsaal sei für 60 Personen ausgelegt, die acht Meter hohe Badehalle enthalte 20 Wannen und 60 Brausebäder. Die Speisehalle sei »an beiden Seiten mit Eichentischen und bequemen Bänken besetzt. Nach eingenommener kräftiger Abendsuppe, von welcher jedermann etwa dreiviertel Liter erhält, erfolgt die Verteilung
Horst Wagner
13. Dezember 1896:
Die »Wiesenburg« wird eröffnet

Der Erksche Männergesangverein trug das Lied »Die Himmel rühmen die Werke des Herrn« vor. Der langjährige Vorsitzende des 1868 gegründeten »Berliner Asylvereins für Obdachlose«, Herr Thölde, dankte allen, die zur Einweihung dieses »neuen Tempels der Barmherzigkeit« gekommen waren. Dann ergriff der Kurator der wohltätigen Anstalt, der bekannte sozialdemokratische Abgeordnete Paul Singer, das Wort. Er nannte es »die edelste Aufgabe, in dem Bedürftigen und Bedrängten nie das Empfinden des Menschseins ersterben zu lassen«. So wurde, wie man im Bericht der »Vossischen Zeitung« nachlesen kann, am Mittag des 13. Dezember 1896, an einem Sonntag, das Männerasyl in der Weddinger Wiesenstraße (Ecke Pankstraße) eröffnet, im Berliner Volksmund bald die »Wiesenburg« genannt. Es war das zweite Berliner Männerasyl. Vorangegangen waren - ebenfalls auf Initiative des oben genannten Vereins - 1869 die Einrichtung eines Frauenasyls in der Dorotheenstraße (es beherbergte bereits in den ersten beiden Jahren 30 000 Frauen


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Das Männerasyl des Berliner Asylvereins für Obdachlose in der Wiesenstraße 55-59
in die 14 Schlafsäle«, jeder etwa 150 Quadratmeter groß und »mit 50 eisernen Feldbetten nebst Drillichdecken ausgerüstet«. Lobend erwähnt der Reporter die »humane Art der Verwaltung, die als obersten Grundsatz hinstellt, daß hier jeder - wie in den Asylen des Mittelalters - ohne eine lästige oder beschämende Frage nach Namen oder Legitimation menschenfreundlich aufgenommen wird« und daß »die Polizei das Asyl nicht betreten darf«.
     Der Ansturm der Obdachlosen muß groß gewesen sein. 1907 wurde das Männerasyl um 182 Betten erweitert. Im gleichen
Jahr wurde auch ein angrenzendes 400 Betten zählendes Frauenasyl eingeweiht. 1945 sind große Teile der »Wiesenburg« zerstört worden. Heute findet man hier noch Reste des ehemaligen Beamtenwohnhauses. Das ganze Gelände steht unter Denkmalschutz.

Bildquelle: Berlin Archiv, Bd. 9


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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 12/1996
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